Claudia Mathis

Geschichten des Windes


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von Arthurs Kletterkunst, war aber trotzdem mächtig stolz auf seine neuen Fähigkeiten.

      Anfangs fühlte sich Sean noch beobachtet, wenn er mit Arthur draußen war (und seine Mutter tat dies wirklich, zum Glück nie, wenn Sean am Baum übte), aber da nach seinen Ausflügen selten irgendwelche negativen Kommentare von seinen Eltern kamen, wurde er immer mutiger. Die Jungen entwickelten neue Spiele, wie das Versteckspiel auf dem Kirchhof zwischen den Gräbern und sie trauten sich, Pasteten oder andere Leckereien aus der Küche zu stehlen. Die anderen Kinder mieden Sean und nun auch Arthur, weil sie meinten, dass sie sich für etwas Besseres hielten. Doch Arthur schien das egal zu sein.

      Eines Tages nahm Sean seinen Freund mit in die Bibliothek. Arthur war sofort begeistert und staunte über diese Fülle an Büchern.

      „So viele Bücher! Die kann ich ja gar nicht zählen! Wer hat die alle gesammelt?“, fragte Arthur, der zuvor nur die Bibel gesehen hatte.

      „Mein Ururgroßvater. Er liebte Bücher.“

      „Kannst du die lesen? Keiner aus meiner Familie kann lesen. Meine Eltern erzählen uns immer die biblischen Geschichten und schottische Sagen.“

      „Ja, ich kann lesen. Sehr gut sogar!“, prahlte Sean und war froh, auch einmal etwas besser als Arthur zu können.

      „Ach quatsch, du lügst!“, sagte Arthur. Ungläubig zog er ein beliebiges Buch aus dem Regal heraus und gab es Sean. „Los! Lies!“

      Dann hörte er erstaunt zu, wie sein Freund tatsächlich aus dem Buch vorlas. Arthur war so fasziniert, dass er unbedingt auch lesen lernen wollte. Begeistert davon, seinen Freund mit der Faszination für Bücher angesteckt zu haben, brachte Sean Arthur ab diesem Tag das Lesen bei. Arthur war kein dummer Junge und begriff schnell. Es machte beiden viel Spaß, die Fortschritte mitzuerleben und bald konnte auch Arthur leichtere Passagen vorlesen.

      Weiterhin verbrachten die Jungen einen Großteil ihrer Zeit bei den Pferden und Seans Wunsch, selbst reiten zu können, wurde immer größer. Besonders, weil Arthur als Sohn des Stallmeisters auch reiten konnte. Als Sean wieder einmal Shona beim Reiten zusah, wurde er wütend und eilte aufgebracht auf direktem Weg zu seinen Eltern.

      „Mutter, Vater, ich muss unbedingt reiten lernen! Sogar Shona kann das und sie ist ein Mädchen!“

      Alistair und Raelyn McCunham saßen gerade im Speisesaal und genossen ihren Nachmittagstee. Sie hatten seit einiger Zeit die Abmachung, dass ihr Sohn nicht mehr unbedingt bei dieser Zeremonie dabei sein musste.

      „Sean, setz dich doch erst einmal“, sprach Raelyn verwirrt aufgrund seines stürmischen Auftretens. Sie war gerade in Gedanken ganz woanders gewesen. Sean setzte sich brav und sammelte sich.

      „Nun der Reihe nach, Sohn“, erklang die tiefe, sonore Stimme von Alistair.

      „Also, wie ich bereits gesagt habe: ich muss jetzt reiten lernen!“, sagte Sean noch einmal.

      Seine Eltern blickten sich an.

      Raelyn verdrehte die Augen. „Sean, das hatten wir doch schon: es ist zu gefährlich. Ich wüsste nicht, was ich machen sollte, wenn dir etwas geschieht. Du bist unser einziges Kind.“

      „Ja, Mutter, ich weiß. Aber ein richtiger Junge kann reiten und außerdem liebe ich Pferde! Vika ist ganz sanft und würde mich nie abwerfen. Bitte, Mutter!“

      Sean war ganz aufgelöst.

      Jetzt schaltete sich sein Vater ein. Seine Stirn stand in Falten. Wie konnte er hier vermitteln? Er war schon lange insgeheim der Meinung, dass sein Sohn reiten lernen sollte und nun sagte er zu seiner Gemahlin: „Meine Sonne. Irgendwann muss der Junge es lernen, das gehört sich nun einmal so. Wisst ihr was? Ich werde es ihm selbst beibringen. Dann bin ich dabei und kann ihn vor Unfällen schützen.“

      „Au ja, Vater! Ihr seid zu gnädig. Wann fangen wir an?“ Aufgeregt hüpfte Sean um den langen Eichentisch.

      Seine Mutter war völlig überrascht. Konnte ihr Gemahl das ernst meinen? Nach längerem innerem Ringen sprach sie, über sich selbst verblüfft: „In Ordnung, meinetwegen. Aber ihr müsst mir versprechen, äußerst vorsichtig zu sein.“

      Und das versprachen beide.

      Ab diesem Tag übten Vater und Sohn gemeinsam jeden freien Nachmittag. Sean hatte sich am Anfang schwergetan, sich in den Rhythmus seines Pferdes Vika einzufinden. Auch empfand er es als äußerst anstrengend, das Gleichgewicht zu halten und das Tier mit den Schenkeln zu lenken. Sie macht ihrem Namen, der Siegerin bedeutet, alle Ehre, dachte er dabei häufig.

      Nach so einem Nachmittag taten ihm meistens die Beine und der Rücken weh. Aber Sean blieb hartnäckig, und sein Vater war sehr geduldig. Als es leichter ging, konnte Sean das Reiten zunehmend genießen.

      „Vater, ich kann fliegen!“, schrie er eines Tages von Vikas Rücken aus und Alistair klatschte begeistert in die Hände.

      „Ja, Sean. Du machst das wunderbar!“, rief er stolz seinem Sohn zu. Auch Alistair fühlte sich plötzlich leichter.

      Sean durfte nun allein weiter üben und es machte ihm viel Spaß. Leider stand der Winter vor der Tür und es wurde zunehmend kälter. Sean konnte bald nur noch selten seine Runden auf Vika über den Burghof drehen.

      Doch an einem sonnigen Nachmittag im Dezember sattelte Sean sein Pferd und trabte zum Haus der Burtons. Fiona hörte einen Reiter, schaute aus dem Fenster und bemerkte, dass es Sean war. Sie freute sich immer, wenn der Junge kam. Sie mochte ihn sehr gern. Als sie die Tür öffnete, hatte Sean sein Pferd schon angebunden. Seine Kapuze war verrutscht und ganz außer Atem trat er näher.

      „Sean, was ist denn los?“, wollte Fiona ihn fragen, aber dieser hatte bereits die schweren Winterstiefel abgestreift, war ins Haus geschlüpft und die Treppe zum Zimmer der Zwillinge hoch gerannt. Fiona fragte sich kopfschüttelnd, was die Kinder wieder ausheckten.

      „Hier, lies das!“, forderte Sean Arthur aufgeregt auf und zeigte ihm ehrfurchtsvoll ein Buch. Arthur, der gerade träumend auf seinem Bett gelegen hatte, schreckte hoch: „Was ist denn, Sean? Musst du mich so erschrecken?“

      Sean fuchtelte immer wieder mit einem dünnen Buch vor seiner Nase herum. Als er das erstaunte Gesicht seines Freundes erblickte, beruhigte er sich etwas. „Hier, ich habe ein geheimnisvolles Buch in der Bibliothek gefunden. Du glaubst nicht, was da geschrieben steht!“

      Drei

      - 1689 -

      „Mei…ne R…Reise mit Fran…cis Dra…ke - mein grö…ßtes Aben...teu.er“,

      las Arthur stockend.

      „Soll ich weiterlesen?“, fragte Sean vorsichtig.

      Nickend überreichte Arthur ihm das Buch und sagte schnell: „Handschrift kann ich noch nicht so gut lesen.“

      Sean bemerkte, dass Arthur sich schämte und las schnell weiter:

      „Am 15. November im Jahre 1577 ging es endlich los. Ich hatte auf der Pelican angeheuert, dem größten Schiff, auf dem ich jemals gewesen bin. Sie war eine niedrige Galeone mit drei Masten, hatte sieben Luken auf jeder Seite und vier im Bug und konnte 100 Tonnen laden. Es waren allerlei Waffen und Munition an Bord, 14 Kanonen unter Deck und zwei Kanonen im Bug. Die Mannschaft bestand aus 70 Seeleuten. Neben unserem Schiff, dem Flaggschiff, fuhren noch vier weitere Schiffe in der kleinen Flotte: die Elisabeth, die Marigold, die Swan und die Christopher. Insgesamt waren wir 164 Männer, die von dem bekannten Seefahrer Francis Drake befehligt wurden. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die Welt zu umsegeln und wir waren verrückt genug, uns seinem Vorhaben anzuschließen.

      Es war strahlend blauer Himmel, als wir um fünf Uhr nachmittags die Segel setzten und aus der Bucht von Plymouth4 fuhren. Doch als wir immer weiter Richtung Südwesten segelten, zogen plötzlich tiefschwarze Wolken auf und es entwickelte sich ein Sturm, der größer war als alle, die ich je erlebt hatte. Also mussten wir so kurz nach unserem Start im Hafen von Falmouth5 Schutz suchen. Doch der Sturm war so gewaltig, dass wir von unserem Schiff und