Wolfe Eldritch

Die Rückkehr des Wanderers


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Übel war, wenn die einzige Alternative darin bestand, zu verzagen und vorzeitig aufzugeben.

      Vor ihm erstreckte sich an diesem frühen Nachmittag eine scheinbar endlose grauweiße Trostlosigkeit. Der mattgraue Himmel war mit Wolken verhangen, die der Eiswind vor sich herjagte. Die Luft war klirrend kalt und trocken, der Schneefall hatte für den Moment aufgehört, und die Sichtweite war von hier oben aus enorm. Er ließ seinen Blick über den weißen Tod schweifen, der sich vor ihm ausbreitete. Außer verwehendem Schnee und dem dunklen, wogenden Grau des nordischen Meeres gab es hier nur Leere. Nicht einmal Vögel zogen ihre Bahn, es gab kein Wild und selbst die ersten vereinzelten Hasen bekam man mit etwas Glück ein paar Landmeilen weiter südlich zu Gesicht.

      Es gab kein Leben außer den Klabautern, wenn sie denn kamen. Das konnte sehr bald passieren, da sich der August bereits dem Ende neigte und es ein kaltes Jahr war. Die meiste Zeit über war die Wache mehr Ritual und Training, obwohl Naitan gehört hatte, dass ab und an kleine Gruppen der Bestien auch unter dem Jahr bis zum Wall vordrangen. Dabei mochte es sich natürlich ebenso gut um Geschichten handeln, um Neulinge zu ängstigen oder die Wachsamkeit zu erhöhen. Von seinem jetzigen Posten aus war die Wache ohnehin nicht so wichtig wie weiter vorne. Deswegen wurden Grünschnäbel wie er ja zuerst hier postiert, um sich an die gemütliche Witterung zu gewöhnen. Er befand sich an der dritten Mauer, die im Grunde eine Notmauer war. Wenn die Klabauter bis hierhin vordrangen, standen sie kurz davor, alles zu überrennen und ins Landesinnere einzufallen.

      Während Naitan sich ausmalte, wie die zottigen Monstren über die Zinnen quollen, hörte er entfernte Rufe. Südlich dieser Mauer begannen die zivilen Gebäude. Ein kleines Dorf aus Unterkünften, Werkstätten, Lagerräumen, Stallungen und anderen Versorgungsgebäuden. Das Haupttor der Palisade, welche die Siedlung umgab, lag ein gutes Stück von ihrem Aussichtspunkt entfernt. Doch der Tag war klar und Naitans Augen jung und scharf, und so entging ihm kaum etwas, wenn es erst einmal seine Aufmerksamkeit erregt hatte.

      Er konnte die Reiter deutlich erkennen, die in diesem Moment hereinkamen und von denen er mehr als drei Dutzend zählte. Die meisten von ihnen boten einen Anblick, den er in seinem kurzen Leben erst zweimal gesehen hatte. Huskarlar, die Hausgarde der Herren von Norselund, bekam man als einfacher Landmann kaum zu Gesicht. Diese Männer lebten mit ihren Familien in der Nähe der Jarle und Thane und dienten ihnen als Garde und Vertraute. Naitan verdankte die beiden Male, die er einige von ihnen hatte beobachten können, nur der Tatsache, dass er damals in der Nähe der Hauptstadt gelebt hatte. So war er in Kindertagen mit seinem Vater ab und an in Høyby gewesen.

      Die Männer dort unten trugen über dem Leder Rüstungen aus dicker Kette. Dazu Schwerter und Schilde vom Besten, was in Norselund zu haben war. Die Pferde waren riesenhafte, massige Kaltblüter, typisch für den hohen Norden der Insel. Die wendigen, schlanken Rassen des Festlandes gediehen in diesem harten Klima ebenso wenig wie ihre Herren. Naitan erkannte den Anführer und das halbe Dutzend Reiter, das ihm am nächsten war. Augenblicklich nahmen diese Männer seine gesamte Aufmerksamkeit gefangen. Er hatte den Jarl bei einem der Ausflüge in die Hauptstadt gesehen. Damals war er mit einem kleinen Gefolge auf dem Weg zu dem alljährlichen Besuch beim König auf dem Festland gewesen. Obgleich Naitan gerade zehn Jahre gezählt hatte, war ihm dieser Anblick unvergessen geblieben.

      Jetzt sog er jedes Detail, jede Bewegung der Männer dort unten auf und prägte sie sich ein. Er wusste, dass er aus diesen Erinnerungen später Kraft und Mut ziehen konnte. Die Krieger, die mit dem Jarl ritten, hatten alles erreicht, was er sich für sein Leben erträumte. Und nicht wenige von ihnen hatten genau dort begonnen, wo er sich jetzt befand. Der Jarl und die sechs Reiter an seiner Seite trugen offenbar identische Rüstungen. Dunkles Leder zeichnete sich unter dem Metall ab. Armschienen, gepanzerte Stiefel und Brustpanzer über Kette, jedes Metallstück mit Öl gebrannt, bis es schwarz war wie die Nacht. Auf diese Entfernung waren Details selbst für Naitans Augen nicht auszumachen, aber er war sicher, dass zumindest die Rüstung des Jarls mit den Insignien seiner Familie verziert sein musste. Er konnte sich im Brustpanzer und den Metallflächen der anderen Plattenteile die Abbildungen des Wolfes, des Raben und der Eiche vorstellen. Jede Figur in gehämmertem Silber tauschiert, um sich von dem mattschwarzen Hintergrund abzusetzen.

      Er hörte eine Bewegung hinter sich und drehte den Kopf gerade weit genug, um zu sehen, dass Kelton neben ihn getreten war. Der junge Mann sah ebenfalls wie gebannt zu den Reitern hinüber. »Sind Blodskjoldr, die großen da direkt bei ihm«, murmelte er. »Heißt, es wären die gemeinsten Scheißkerle, die man sich vorstellen kann, sogar schlimmer als die Huskarlar.«

      Naitan hatte natürlich von der Rabengarde des Jarls gehört, welcher Junge hatte das nicht. Es hieß, dass er mit ihrem Aufbau begonnen hatte, als er selbst noch fast ein Knabe war. Gleich nach seiner Ernennung zum Jarl, die dem Tod des alten Egilhard gefolgt war. Die besagten Männer dort unten waren jedenfalls die größten Kerle, die er je gesehen hatte. Sie schienen nur unwesentlich kleiner zu sein als der Jarl selbst, und der war ein echter Hüne. Im Moment trugen die Blodskjoldr genau wie ihr Herr keine Helme, sondern hatten die dicken, gefütterten Kapuzen ihrer Mäntel über die Köpfe gezogen.

      An jenem vergangenen Tag in Høyby waren die Reiter mit ihren schwarzen Rüstungen Naitan erschienen wie Geschöpfe aus einem Alptraum. Mit Helmen in Form von Rabenköpfen und den über einen Schritt langen Mähnen aus Pferdehaar waren sie ihm erschienen wie reitende Dämonen. Heute wusste er natürlich, dass genau das beabsichtigt war. Er bezweifelte aber, dass einem dieses Wissen sonderlich viel von dem Schrecken zu nehmen vermochte, wenn die schwer gepanzerten Schocktruppen im Feld auf einen zusprengten.

      Jetzt trugen weder die Gardisten ihre Rabenköpfe, noch der Jarl den Wolfsschädel aus schwarzem Metall, an den Naitan sich erinnerte. Beeindruckend waren sie aber allemal, allein durch ihre Größe und Haltung. Ihre Anwesenheit, besonders die des Jarls, erfüllte ihn mit einem vagen Stolz. Es spielte keine Rolle, wie gering sein Rang und seine Arbeit waren. Es war gleichgültig, dass er nur ein Bursche war, der gerade eben die Stufen zur Mauer hochkam, ohne aufs Maul zu fallen. Er war ein Teil dieses Ortes, so klein und unbedeutend dieser Teil auch sein mochte. Er gehörte dazu.

      »Ob er lange genug bleibt, um zu kämpfen?«, wollte er wissen und schielte zu Kelton hinüber, um die Stimmung des Mannes abzuschätzen. Es war selten genug, dass er überhaupt redete und Naitan traute dem Frieden nicht. Aber der sonst so mürrische und wortkarge Junge hatte ebenfalls einen gewissen Glanz in den Augen. »Sie sagen, dass er jedes Jahr zu den Kämpfen da war. Wenigstens für einige Tage. Lange genug jedenfalls, dass er ein paar erledigen konnte. Außer in dem Jahr, als das mit seiner Frau passiert ist. Da soll er die ganze Zeit hier gewesen sein.«

      Vier Jahre war es jetzt her, dass die Gemahlin des Jarls bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben war. Die kleine Tochter hatte ebenfalls nicht überlebt, und gerüchteweise war der Jarl danach für Monate in lähmender Trauer versunken.

      »Schon irgendwie komisch, dass er jedes Jahr herkommt«, meinte Naitan, »wo sein Bruder hier gefallen ist. Oder meinst du, er kommt gerade deshalb, weil er es ihnen immer wieder heimzahlen will? Dass sie seinen Bruder zerrissen haben?«

      »Glaube ich nicht«, meinte Kelton, »wenn der noch leben würde, dann wäre der ja jetzt der Jarl, war ja viel älter. Im Grunde haben die Biester unserem Herrn einen Gefallen getan.«

      Der Jarl war ein Nachzügler, zur Welt gekommen, als sein Vater schon in den späten Fünfzigern war. Die Mutter, eine junge Frau, die der alte Jarl nach dem Tod seiner ersten Gemahlin geheiratet hatte, war kurze Zeit nach der Geburt des Kindes gestorben.

      Dann war sein ältester Sohn hier am Wall getötet worden, bei dem großen Durchbruch im Jahr 794, von den Klabautern in Stücke gerissen. Bei diesem Gemetzel hatten die Monster die damalige Hauptmauer, die heute die mittlere war, überrannt. Gerade noch rechtzeitig eintreffende Truppen hatten sie zurückdrängen und vernichten können. Viel hatte jedoch nicht zu einem Einfall der Bestien ins Hinterland gefehlt, und mehr als die Hälfte der Besatzung des Walls war an jenem Tag getötet worden. Das war inzwischen dreißig Jahre her, und wenig später hatte man die äußere Mauer errichtet.

      Der alte Egilhard war seit über zwei Jahrzehnten tot. Es war Tradition, dass der Jarl und seine Söhne, wenn sie alt genug waren, zu den Angriffe an den Wall kamen. Zur Saison der frischen