Wolfe Eldritch

Die Rückkehr des Wanderers


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tödliche Kälte war auch der Grund, warum die Weiterverarbeitung des Rohstoffes so weit südlich stattfand, anstatt direkt dort, wo er gefördert wurde. Tag für Tag stieg der Rauch über den Schmelzöfen im Nordosten in den grauen Himmel hinauf. Tonne um Tonne wurde Erz zu Luppe und Luppe zu Eisen einer Qualität ausgeschmiedet, die im Königreich ihresgleichen suchte. Snaergarde war, Festung und Schmiede des Nordens, das kalte Herz, von dem aus das metallene Lebensblut von Norselund durch das Land floss.

      Die Insel hielt nicht viele Schätze für sein von Mühsal und harschem Klima geprüftes Volk bereit. Die wenigen, die sie bot, gab sie jedoch reichlich. Allen voran Eisen und Steinkohle, aber auch mannigfaltige Arten von Holz, ebenso wie hochwertigen Stein. Ersteres war dabei ungleichmäßig verteilt. Die Erzvorkommen außerhalb der nördlichen Gebirgszüge zeigten sich spärlich und oft mit Erz von so durchschnittlicher Güte, dass ein Abbau heuer kaum noch lohnte. Es gab etwas Kupfer im Jarltum von Falksten und noch weniger Silber in Kråkebekk. Das Eisgebirge im Norden hingegen verfügte über einen scheinbar endlosen Vorrat an Eisenerz von größter Reinheit.

      Dieser kostbare Rohstoff stellte eine der beiden Komponenten dar, die den Inselbewohnern die Herstellung des besten Eisens der bekannten Welt ermöglichten. Die andere war eine Tradition in der Schmiedekunst, die Jahrhunderte zurückreichte. Das Metall war heute der maßgebliche Exportartikel von Norselund. Es war die wertvollste und zugleich einzige bedeutungsvolle Münze, über welche die Jarle verfügten. Mit ihr wurden die Abgaben an den König geleistet, und sie war eine zahlungskräftige Währung für den Handel mit dem Rest der Welt. Das Eisen sorgte somit ebenso für die Versorgung des Volkes, wie dafür, dass die Truppen der Insel zu den am besten gerüsteten des Reiches gehörten. Seit einigen Jahren arbeiteten die Schmiede in Snaergarde mit Hilfe der Steinkohle auch an der Herstellung von Stahl. Dieses Geheimnis hatten die Jarle allerdings bislang vor den Festländern zu hüten gewusst.

      Die Lage der Heimstatt des Jarl av Ulfrskógr hätte für eine schwer gesicherte Handwerkstätte nicht besser gewählt sein können. Die Abgeschiedenheit der Festung und die isolierte Lage der Ländereien selbst spielten dabei ebenfalls eine Rolle. Das Eisgebirge, dessen äußere Arme weit im Norden der Insel in mehrere hundert Schritte hohe Steilküsten ausliefen, umschloss das Land wie ein nach Süden offenes Hufeisen.

      Die natürliche Grenze zum Landesinneren bildete der Kråkebekk, der größte Fluss von Norselund. Im Südwesten mündend, war er namensgebend für das dortige Jarltum. Drei massive, gut gesicherte Steinbrücken stellten die einzigen sicheren Wege über diese nasse Barriere dar. Schon in früheren Tagen gab es nur wenige schmale Furten über das ebenso breite wie schnell fließende Gewässer. Nach dem Grau war seine Wassermenge durch die vermehrten Niederschläge noch deutlich angewachsen. Heute gab es zu keiner Jahreszeit mehr eine Möglichkeit, den Fluss ohne Hilfsmittel zu überqueren. Viele der alten Brücken hatten sich in der starken Strömung im Laufe der ersten Jahre des Umbruches in wahre Todesfallen verwandelt.

      Die Steinbrücken waren vor über zwanzig Jahren zur gleichen Zeit gebaut worden wie die Handelsstraße, welche die drei Jarltümer der Insel verband. Die gut befestigte Straße erstreckte sich auf der vollen Länge von Kråkeborg nach Falkehaven, den beiden südlich gelegenen Hauptstädten. In gleichmäßigem Abstand führten von dem Hauptstrang aus drei Straßenabschnitte auf den Brücken über den Kråkebekk und trafen sich kurz hinter dem Fluss. Von dort aus verlief der Handelsweg weiter, bis er in Høyby, der Hauptstadt des nördlichen Jarltums, endete. Die Straße, wie auch die Brücken, verdankte die Insel der engen Zusammenarbeit der drei Herrscherfamilien.

      Von Høyby aus ging der Löwenanteil an Eisen direkt nach Falkehaven, dem Zentrum des Exporthandels des Nordens. Der Grund dafür, dass Snaergarde bei all dem mehr war, als nur eine Stätte des Handwerks und des Warenumschlages, war der Jarl selbst. Varg av Ulfrskógr, seit fast fünfundzwanzig Jahren der uneingeschränkte Herrscher des nördlichen Norselunds, war auf dieser Festung aufgewachsen. Snaergarde war der traditionelle Sitz der Familie, und er hatte das Leben hier dem in der Hauptstadt immer vorgezogen. Nach den ersten zehn Lebensjahren auf der Heimstatt seiner Ahnen war er danach gezwungen gewesen, einige Jahre in Høyby zu verbringen. Der alte Jarl hatte darauf bestanden, dass sein jüngster Sohn ein anderes Umfeld als das in der Abgeschiedenheit der Burg kennenlernte, und sich mit den Gepflogenheiten der Stadt vertraut machte.

      Nach dem Tod des Vaters war der junge Jarl in die nördlichste aller Befestigungen von Norselund zurückgekehrt. Seitdem hatte er sie nur verlassen, wenn er es nicht vermeiden konnte. Auf die Zeit in Høyby schaute er im Nachhinein dennoch wohlwollend zurück. Er hatte sich dort nie so wohl gefühlt wie in Snaergarde, diesen Lebensabschnitt aber als lehrreich empfunden.

      Darüber hinaus hatte er in besagten Jahren Lady Lifa av Skalenborg kennengelernt. Obgleich nicht die erste Liebe seines Lebens, war es bis zum heutigen Tag die Letzte geblieben. Wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Jarl wurden sie vermählt, und er hatte es nie bereut, selbst in den dunkelsten Stunden nicht, als alles verloren war.

      Bei besagter Lady verweilten die Gedanken von Varg jetzt, da er den Bierschlauch, aus dem er soeben einen kleinen Schluck genommen hatte, auf einen niedrigen Hocker neben seinem altem Schreibtisch aus Eisenholz legte. Das taten sie dieser Tage nicht mehr so oft wie noch vor zwei oder drei Jahren, was ein Segen war.

      Dass die Zeit alle Wunden heilte, war das Gewäsch von Narren. Man gewöhnte sich jedoch an den Schmerz, genau wie bei alten Narben, die man in der Schlacht davontrug. Damit mochte es auch zusammenhängen, dass er nur noch einen Schlauch Bier über den Tag hinweg leerte. In der Zeit nach ihrem Tod war es nicht bei einem geblieben, oft nicht einmal bei zwei oder drei, und damals war es statt Gerstensaft schwerer norselunder Met gewesen. Aus jenen Tagen stammten auch die gut zwanzig Pfund überflüssigen Fettes, die er fünf Jahre zuvor noch nicht mit sich herumgetragen hatte. Aber er zählte fast vierzig Winter und es gab schlimmere Gebrechen, die einem Mann dieses Alters widerfahren konnten. Der Jarl erhob sich von dem gepolsterten Lehnstuhl und ging zu der metallbeschlagenen Eisenholztür des Arbeitszimmers. Dort nahm er den Mantel von einem Haken und zog ihn über. Das dicke Leder war schwarz geölt und mit dunkelgrauem Klabauterfell gefüttert. Ein knöchellanges Bollwerk gegen die eisige Kälte seiner Heimat. Während er sich ankleidete, ließ er die Gedanken für eine Weile bei der verlorenen Liebe verweilen.

      Trauer und Schmerz verblassten mit den Jahren. Das war eine der wenigen Gnaden der Götter, die vermutlich nicht existierten. Lifas Bild hingegen tat das nicht, noch nicht jedenfalls. Er dachte seltener an sie, aber wenn er es tat, war ihre Erscheinung so klar, als stünde sie leibhaftig und lebendig vor ihm. Nur einen Kopf kleiner als er, mit sommersprossiger, milchweißer Haut, lohfarbenem gelocktem Haar und ebensolchen stahlgrauen Augen wie den seinen, war sie eine klassische Nordlandschönheit gewesen. Ihre neugeborene Tochter hatte einen winzigen Schopf flaumigen Haares derselben Farbe gehabt. Man hatte es zwischen dem ganzen Blut kurz sehen können, als sie aus dem toten Leib ihrer verbluteten Mutter gezogen worden war. Auch die Kleine hatte wenige Minuten später aufgehört zu atmen. Der Jarl schloss den Mantel und schüttelte die alten Bilder ab. Das fiel ihm heute, vier Jahre nach dem Tod seiner Familie, bereits erschreckend leicht.

      Er öffnete die Tür und durchquerte mit langen Schritten den rundum mit getränktem Holz vertäfelten Gang, der zu den verschiedenen Räumlichkeiten seiner Gemächer führte. Von hier aus gelangte man zum Arbeitszimmer, dem Schlafgemach, einem kleinen Waschraum sowie einem Kaminzimmer. Er trug außer dem Mantel und hohen, genagelten Stiefeln nur einfache, aber robuste Wollkleidung. Die einzige Rüstung, die er innerhalb der Festung benötigte, galt dem Schutz vor der Kälte. Die Menschen, die hier lebten, gehörten Familien an, die der seinen seit vielen Generationen dienten. An seiner Hüfte baumelte denn auch nur ein alter, unterarmlanger Dolch.

      Der Jarl zog sich im Gehen die Handschuhe an, schlug den hohen, gefütterten Kragen seines Mantels hoch und trat durch die dicke Außentür aus dem Bergfried hinaus. Es war beinahe windstill, der Schnee fiel in winzigen, feinen Flocken und die Luft roch nach dem ersten Frost des Winters. Der Tag war erfüllt von den Geräuschen des morgendlichen Burglebens und dem allgegenwärtigen Klingen der Hämmer in den Schmieden. Er ging ein Stück in Richtung der Schildmauer im Süden, bevor er in eine leicht gewundene steinerne Treppe nach unten abbog. Dabei erwiderte er den einen oder anderen laxen Gruß der Wachen mit einem flüchtigen Nicken. Er war nicht sicher,