Yupag Chinasky

Verirrungen


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       Verirrungen

      Drei Erzählungen

      von

      Yupag Chinasky

      Impressum

      Yupag Chinasky

      Verirrungen

      Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin

      www.epubli.de

      Copyright 2016 Yupag Chinasky

      Inhaltsverzeichnis

       Verirrungen

       Verloren im Labyrinth

      

       Verspätung

       Die Anmache

       Der Waldweg

       Auf Spurensuche

       Die erneute Annäherung

       Die Rache

       Die Reaktion

       Die Krise

       Die Entscheidung

       Showdown

       Epilog

       Wind

       Verloren im Labyrinth

      Der große Bahnhof war zu der Zeit, als er gebaut wurde, in den frühen fünfziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, ein architektonisches und technisches Meisterwerk. Heute ist er weder schön noch funktional, aber immer noch eine wichtige Drehscheibe des Verkehrs. Die Freude an der nostalgischen Architektur, die sich einstellt, wenn man davor steht und die immer noch anhält, wenn man die große Halle betritt, wird von einer Beklemmung abgelöst, wenn man zu den Zügen hinab steigt. Sie nimmt zu, je tiefer man in den Untergrund vordringt, bis zu der funktionalen Ebene, den Bahnsteigen und Gleisen. Jeder Meter abwärts auf den altmodischen, holzverkleideten Rolltreppen steigert dieses Gefühl. Der klaustrophobe Höhepunkt ist erreicht, wenn man den Perron betritt, das reinste Inferno. Die Röhren, in denen die Rolltreppen verlaufen, sind eng und schmal, aber die Bahnsteige erscheinen noch enger, noch schmaler, noch schmutziger. Man wundert sich geradezu, dass sich hier Menschen aufhalten dürfen. Der kreischende Lärm der Züge, die in kurzem Takt aus den Tunnelröhren kommen, rattern, abbremsen, nur wenige Augenblicke verweilen und dann wieder ächzend und stöhnend anfahren, malträtiert die Ohren. Die Schwärze der ewigen Nacht wird nur durch den Schein der kalten Neonröhren unterbrochen, die statische Spots auf den Beton werfen und durch die gelben Lichter der Lokomotiven und der Wagenfenster, die mit den Zügen auftauchen und wieder verschwinden. Es stinkt nach Staub, Ruß, Dreck, Desinfektionsmittel und Menschenmassen. Zu den Stoßzeiten ist dieser Vorhof der Hölle von Hunderten von Menschen bevölkert. Sie laufen und rennen, schieben und stoßen, drängen sich in die Abteile, drängen sich auf die Rolltreppen, zerren Koffer hinter sich her und benutzen ihre vorgestreckten Aktentaschen als Waffe, um sich einen Weg durch die anderen zu bahnen, die genau dasselbe wollen. Jeder scheint nur einen Wunsch zu haben, weg von hier, raus aus diesem Chaos, diesem düsteren Orkus, hoch zum Licht und zur Luft oder wenigstens hinein in ein sicheres Zugabteil.

      Oben, in der Bahnhofshalle, ist es in der Tat hell und erträglich und durch die Drehtüren strömt frische Luft herein. Hier kann man die nostalgische Architektur genießen, die kühnen Konstruktionen der damaligen Zeit, die lichte Höhe der Halle, das viele Glas in der Hauptfront und den Blick in Richtung Stadtzentrum. Auch wenn an manchen Stellen der Verputz von den Wänden bröckelt und die einstmals weißen Kunststoffpaneele der Decken gelb und schmutzig geworden sind, versteht man, warum dieses Gebäude Architekturgeschichte geschrieben hat. In der großen Halle kann man süße Waffeln kaufen, scharfe Würstchen essen, diverse Sorten Bier trinken, ja sogar an einem viel belagerten Stand Austern schlürfen – dégustation des fruits de mer. Es gibt Läden mit Blumen und Reisebedarf, Kioske mit Zeitschriften und Tabakwaren und einen Drogeriemarkt.

      Man sieht alle möglichen Leute, Menschen jedweder Couleur und Hautfarbe. Hier der Geschäftsmann im gestreiften, schwarzen Nadelanzug oder sein weibliches Pendant im gedeckten Kostüm. Um den Bierausschank herum, eine Gruppe Touristen mit exotischen Kopfbedeckungen und Bergen von Koffern, die wohl direkt aus einem Urlaubsparadies gekommen sind. Zu Stoßzeiten bevölkern Massen von Pendlern die Halle, die rasch zum Arbeitsplatz oder noch rascher zurück nach Hause eilen. Die herumalbernden Schüler und die trödelnden Rentner scheinen es dagegen nicht eilig zu haben. Sie lungern herum, genauso wie manche unangenehme Typen, die betteln und ein paar Cent schnorren, indem sie vorgeben unbedingt eine Fahrkarte kaufen zu müssen oder wer weiß wie lange, nichts mehr gegessen hätten.

      Das Chaos des Untergrunds setzt sich fort, wenn man das Gebäude durch den Hintereingang verlässt. Während der Haupteingang den Weg direkt in das Zentrum weist, in das pulsierende, gepflegte Herz der Stadt, öffnet sich ein neues Labyrinth, kaum dass man den Hintereingang durchschritten hat. Man irrt durch Unterführungen, steigt auf schmalen Treppen hinab zur Ebene der Gleise und hinauf zur Ebene der Hochstraßen, die die Bahnhofsanlage überqueren, umrundet gewaltige, betonierte Pfeiler, kommt an Laderampen und Eisentoren vorbei. Schwach beleuchtete Tunnel scheinen ins Ungewisse zu führen, an ihren Wänden abgerissene Plakate, aber auch Streetart, Kunst an einem Ort, wo man sie nicht erwartet. Verlässt man die unmittelbare Nähe des Bahnhofs, beginnt das Labyrinth der Wohn- und Geschäftsstraßen. Die Hausfronten sind heruntergekommen und hässlich, die Eingangstüren alt, die Briefkästen verlottert, die Türklingeln ein Wirrwarr, die Fenster aus billigem Glas mit altmodischen Klappläden oder ausgeblichenen Jalousien. Man geht an billigen Kneipen und an Ein-Euro-Läden vorbei, sieht aber auch nostalgische Tante-Emma-Läden und gelangt schließlich in das Gebiet der Sexshops, Spielhöllen und Wettbüros. Man eilt auf schmalen Bürgersteigen an stinkenden Autoschlangen entlang, umrundet falsch geparkte Wagen, die den spärlichen Platz weiter verengen, steigt über Fahrradständer, die das Trottoir versperren und ekelt sich vor den schwarzen, manchmal aufgeplatzten Müllsäcken vor den Haustüren, willkommene Edelfreßlokale für Ratten. All die Straßen, Gassen, Sackgassen, Plätze, Einfahrten scheinen kein logisches Muster zu bilden, sie scheinen ohne Plan entstanden zu sein, eine kongeniale Fortsetzung des Labyrinths im Keller des Bahnhofs, dem man nur scheinbar entronnen ist.

      Mitten in diesem heruntergekommenen Viertel, liegen die Straßen mit den beleuchteten Schaufenstern. Die Lichter schimmern meist rot, aber auch blau, violett oder gelb und wenn es geregnet hat, spiegeln sich die Farben auf dem nassen Kopfsteinpflaster. Das bunte Licht stammt von kurzen Neonröhren, die an den Fenstern angebracht sind, meistens horizontal am oberen oder unteren Rand, manchmal aber auch vertikal an den Seiten. Hinter den Fensterscheiben sitzen die Frauen auf Hockern, Lehnstühlen und sogar in Polstersesseln. Junge, alte, dicke, dünne, meist allein, manchmal zu zweit, manche hübsch, andere unauffällig. Einige sind richtiggehend hässlich und das bei diesem Beruf, der vom schönen Schein lebt. Fast alle tragen sehr knappe Arbeitsbekleidung: Dessous, Korsetts, Ledermonturen, Netzstrümpfe, High-heels, Stiefel mit Schäften bis über die Knie. Viel nackte Haut wird zur Schau gestellt, herausgepresste Brüste,