Yupag Chinasky

Verirrungen


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der Großstadt oder aus irgend einem Provinznest. Wenn er bei seinem Herumstreunen durch das Viertel die Straßen mit den bunten Lichtern aufsuchte, reizte ihn die Atmosphäre, der Widerschein der farbigen Lichter auf den Pflastersteinen, die Schatten der Männer, die von Fenster zu Fenster gingen, die Blicke der gelangweilt wartenden oder aggressiv fordernden Frauen. Er selbst näherte sich den Fenstern nicht, vor den Frauen hatte er Angst und wagte nicht, sich mit einer einzulassen.

      Aber eines Tages ist er doch über seinen Schatten gesprungen und hat das getan, was ein Mann tut, wenn er hierherkommt. Er war in eine Gasse gelangt, in die sich kaum jemand verirrte und in der es nur ein einziges, schwach erleuchtetes Fenster gab. Er war in sicherer Entfernung vorbei gegangen und hatte in dem gelben Licht einer Stehlampe nur ein paar lange, schlanke Beine in schwarzen Leggins und roten Pumps gesehen. Der Rest des Körpers der Frau auf einem Hocker, befand sich im Schatten und war von seinem Standpunkt aus nicht zu erkennen. Die Frau saß ganz ruhig da und sandte keine Signale aus, die einen Mann kirre machen und in das Zimmer locken sollten. Genau diese ungewöhnliche, fast demonstrative Zurückhaltung faszinierte ihn und so beschloss er, endlich doch einmal einen Besuch zu wagen, endlich doch einmal seinen geheimen Wünschen nachzugeben. Er überquerte die Straße und stellte sich vor das Fenster, doch nichts geschah. Er meinte schon, die Frau hätte ihn nicht bemerkt, doch dann beugte sie sich schließlich etwas vor und öffnete das Fenster einen Spaltbreit. Sie schien fast unwillig über die Störung zu sein, als sie sagte, sie würde eigentlich nur Stammkundschaft empfangen und ihn hätte sie noch nie gesehen. Aber heute sei nichts los und sie erwarte auch niemanden mehr und er könne hereinkommen.

      Dann erhob sie sich, schloss das Fenster, zog die Vorhänge vor, um anzuzeigen, dass das Etablissement besetzt war, und öffnete die Tür. Sie begrüßte ihn freundlich und führte ihn in ihren Arbeitsraum, ein schummeriges Zimmer mit einem großen Bett. Sie war sehr schlank, aber trotz der langen Beine deutlich kleiner als er. Wie sie da stand, eine selbstbewusste Autorität ausstrahlend, hätte man sie nicht für eine Nutte gehalten. Sie sah durchaus seriös aus, wie eine Geschäftsfrau, die in einem unkonventionellen, vielleicht in einem künstlerischen Bereich tätig war. Sie unterstrich diesen Anschein der Seriosität noch dadurch, dass sie seltsamerweise schwarze Netzhandschuhe trug, die ihm erst jetzt auffielen. Als er sie genauer taxierte, fiel ihm weiter auf, dass ihr leidlich hübsches Gesicht dick, wenn auch recht kunstvoll, geschminkt war und dass es dadurch einen starren, maskenhaften Ausdruck angenommen hatte. Er meinte auch zu erkennen, dass ihre langen, schwarzen Haare nicht ihre eigenen waren, es musste eine Perücke sein. Und er nahm einen Duft wahr, der zwar angenehm, aber doch schon leicht penetrant wirkte, das einzig Aufdringliche an dieser Frau. Während er sie anstarrte, war er sich nicht sicher, ob er eher enttäuscht oder doch lieber angenehm berührt sein sollte. Enttäuscht, dass sie ihn so gar nicht anmachte, dass sie alles andere als eine „femme fatale“ war, keine geborene Verführerin. Erleichtert, dass sie all das gerade nicht war, dass sie wie eine Frau wirkte, mit der man ins Theater ging oder die man vom Elternbeirat her kannte. Er war erleichtert, weil ihr „normales“ Aussehen und Verhalten seine Urängste über käufliche Liebe und die Gefahren, die von Prostituierten ausgingen, nicht bediente. Bevor er es sich doch noch anders überlegte, kramte er rasch die verlangte Summe aus seinem Geldbeutel, ziemlich viel Geld, wie er fand, und gab sie ihr und sie verstaute sie in ihrem Schrank. Dann fragte sie ihn, der keine Anstalten machte, sich auszuziehen und noch nicht einmal seine Jacke abgelegt hatte, was denn los sei, ob er nun wolle oder nicht. Sie selbst zögerte jedoch ebenfalls, sich zu entkleiden. Schließlich begann er seine Kleidung Stück für Stück abzulegen. Dabei zitterten seine Hände ein wenig, der Atem ging ein bisschen schneller und der Mund war auf einmal ganz trocken. Als er endlich fast nackt auf der Bettkante saß, nur die Unterhose hatte er noch an, begann auch sie, sich zu entkleiden. Der dabei angedeutete Striptease war wohl Teil ihres Programms. Sie wiegte sich in den Hüften, drehte und wendete ihren Oberkörper, streckte ihn vor und zurück und streifte dabei langsam ihre Bluse ab. Der rote BH war klein und was darin steckte, vermutlich auch, in dem rötlichen Dämmerlicht musste er mehr ahnen, als dass er sehen konnte. Dann wackelte sie ein paarmal mit dem Po, ließ den Minirock hinab gleiten und setzte sich dicht neben ihn auf die Bettkante.

      Erst jetzt, als sie fast nackt war, nur noch in BH und Slip, und ihn fast berührte, merkte er, was andere sicher viel früher bemerkt hätte, was andere vielleicht davon abgehalten hätten, zu ihr zu kommen und auf einmal war er schockiert. Neben ihm saß eine Frau in deutlich fortgeschrittenem Alter, ja eine geradezu alte Frau. Die Haut war, bis auf das geschminkte Gesicht, faltig und fleckig. Sie war nicht nur schlank, sie war mager, die Knochen zeichneten sich deutlich ab, die Rippen, die Schulterblätter stachen hervor. Es war eine überreife Frau, die durch Kleidung, Bemalung und Verhalten ihr wahres Alter geschickt kaschiert hatte. Nun verstand er auch ihre Zurückhaltung, neuen Kunden gegenüber und ihren Wunsch, nur noch Stammkundschaft zu bedienen. Sie merkte, wie er reagierte, wie er sie enttäuscht anstarrte, wieder unschlüssig, was er machen sollte, bleiben oder doch lieber gehen. Es war sicher nicht das erste Mal, dass sie diese demütigende Situation erlebte. Sie blieb aber freundlich, bemerkte nur, dass sie zwar nicht mehr taufrisch, aber durchaus noch brauchbar sei und dass es eben nun mal so sei. Nach dem anfänglichen Schock fügte er sich in die Situation, weil auch er einsah, dass sie nun mal so war, wie sie war, und beschloss mit einem lang gedehnten „aaaaalors, bien“ zu bleiben. Der kritische Augenblick der Wahrheit war überstanden, die Frau seufzte erleichtert auf, wendete sich ihm zu, streichelte ihn sanft und begann ihn mit der Erfahrung einer reifen Frau, die ihr Handwerk versteht, zu verwöhnen. Es war für ihn am Ende sogar ein Erlebnis, wenn auch kein berauschendes und auch kein erotischer Höhepunkt, aber um einen solchen zu beurteilen, fehlten ihm ohnehin die Vergleichsmöglichkeiten. Jedenfalls war er, nachdem sie den Akt auf befriedigende Weise hinter sich gebracht hatten, wieder versöhnlich gestimmt. Und als sie sich beim Weggehen für seinen Besuch höflich bedankte, ihn mit „au revoir monsieur“ verabschiedete und ihn aufforderte, doch einmal wieder zu kommen, murmelte er „peut-être, on vais voir“ oder so etwas Ähnliches und steckte ihr nach kurzem Zögern sogar ein Trinkgeld in den roten BH, genau zwischen die beiden kleinen Brüstchen, die er gar nicht nackt zu sehen bekommen hatte. Aber aufgesucht hat er sie dann doch nie wieder.

       Verspätung

       Die Anmache

      „Like it?“

      Die Worte hatte sie nur halblaut hervorgestoßen, aber sie waren nicht zu überhören gewesen und der, für den sie bestimmt waren, hatte sie gehört und auch ihren Sinn verstanden. Als die Frau direkt auf ihn zu kam, ihm direkt in die Augen sah und dann so dicht an ihm vorbei ging, dass er nicht nur die beiden Worte hörte, sondern auch ihren Geruch wahrnahm, ja wahrnehmen musste, eine Mischung aus billigem Parfüm und strengem Schweiß, wusste er, was sie wollte. Der Geruch irritierte ihn mehr als die Worte und der Blick, aber es war kein Wunder, dass sie bei dieser Hitze eine solche intensive Aura um sich verbreitete. Als er sie in dem kurzen Moment des Vorbeigehens anstarrte, hatte er die Schweißtropfen auf ihrer Stirn gesehen, wasserhelle Perlen, in denen sich die Sonne spiegelte, genauso wie in den Gläsern der übergroßen Sonnenbrille. Er wusste, was sie wollte und sie hatte wohl auch gespürt, dass er für ihre Reize empfänglich sein würde, spätestens als er sie diese halbe Sekunde lang anstarrte. Aber vermutlich hatte sie das schon geahnt, als sie ihn auf dem leeren Platz ortete wie er dastand, mit seinem Handy beschäftigt. Nur deswegen war sie so nahe an ihm vorbei gegangen. Er konnte gar nicht anders, er musste sie anschauen und als sie dann seinen hungrigen Blick mehr spürte als wirklich sah, war sie sich sicher. Sie kannte diese Blicke, dieses auf sie gerichtete Starren zu genüge und sie empfand es nicht einmal als Belästigung. Es gefiel ihr, es stärkte ihr Selbstbewusstsein, es gab ihr Sicherheit. Solange Männer sie anstarrten, war sie immer noch attraktiv und das wollte sie sein, das musste sie sein. Sie wusste sehr wohl, dass sie auf Männer wirkte, besonders auf Typen wie diesen, die ständig mit ihren Blicken auf der Suche nach Frauen waren, süchtige Männer in ihren besten Jahren, die keine Gelegenheit ausließen, Frauen zu taxieren, mit Blicken abzutasten und zumindest in Gedanken zu vernaschen. Sie wusste genau, wo diese Männer hinstarrten, erst auf die Beine, dann hoch über die Hüfte zur Taille und zum Busen. Das Gesicht kam zum Schluss dran. Selbst wenn sie von hinten beäugt