Лев Толстой

Auferstehung


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nachdem er alle, vor kommenden Falles nötigen Papiere bereit gelegt hatte, einen verbotenen Aufsatz durch, den er gestern erhalten und gelesen hatte. Er hatte die Absicht, wegen dieses Aufsatzes mit dem Gerichtsmitglied mit dem großen Barte, das seine Ansichten teilte, zu sprechen und wollte sich nun, vor der Unterhaltung, den Aufsatz wieder ins Gedächtnis rufen.

      Achtes Kapitel.

      Der Präsident durchblätterte die Akten, stellte einige Fragen an den Gerichtskommissar und den Sekretär und ordnete, nachdem seine Fragen bejaht worden waren, die Vorführung der Angeklagten an.

      Sogleich öffnete sich die Thür hinter dem Gitter und zwei Gendarmen in Czapkas, mit gezogenen Säbeln, traten ein. Hinter ihnen her kam zuerst ein Angeklagter, ein rothaariger Mann mit Sommersprossen, und dann zwei Frauen. Der Mann war mit einem für ihn zu weiten und langen Arrestantenschlafrock bekleidet. Als er den Gerichtssaal betrat, hielt er seine Hände mit ausgespreizten Daumen krampfhaft an die Hosennähte gedrückt, um so das Herabhängen der zu langen Ärmel zu verhindern. Er blickte, ohne die Richter und das Publikum anzusehen, aufmerksam auf die Bank, um die er herumging. Nachdem er sie umgangen, ließ er sich vorsichtig auf dem äußersten Ende nieder, um den anderen Platz zu geben. Dann heftete er seine Augen auf den Präsidenten und fing an, die Muskeln seiner Wangen, als ob er etwas flüsterte, zu bewegen.

      Nach ihm trat, ebenfalls im Arrestantenschlafrock, ein nicht mehr junges Weib ein. Um den Kopf hatte sie ein Arrestantentuch, das Gesicht war grauweiß, ohne Brauen und Augenwimpern, aber mit geröteten Lidern. Das Weib schien vollständig ruhig zu sein. Als sie zu ihrem Platz hindurchging, hakte der Schlafrock irgendwo ein; sie machte ihn sorgfältig und ohne Eile wieder los und setzte sich nieder.

      Die dritte Angeklagte war die Maslowa.

      Kaum war sie eingetreten, als sich sofort die Augen aller im Saal anwesenden Männer auf sie richteten und lange konnten sie sich von ihrem weißen Gesicht mit den schwarzen, feuchtglänzenden Augen und von der unter dem Schlafrock hervortretenden üppigen Brust nicht losreißen. Sogar der Gendarm blickte sie, während sie an ihm vorbeiging, unverwandt an und fuhr dann, als sie sich gesetzt hatte, wie über sein Vergehen erschreckend, zusammen, kehrte sich schnell weg und begann auf das vor ihm liegende Fenster zu stieren.

      Der Präsident wartete, bis die Angeklagten sich gesetzt hatten und wandte sich, als die Maslowa Platz genommen, an den Sekretär.

      Es begann die gewöhnliche Prozedur: das Aufrufen der Geschworenen, die Verhandlungen wegen der Nichterschienenen, die Belegung derselben mit Pön, die Entscheidung über diejenigen, die um Urlaub baten, und die Kompletierung der Fehlenden durch Ersatzmänner. Darauf legte der Präsident die Lose zusammen und schüttete sie in die Glasvase. Nachdem er seine gestickten Ärmel etwas in die Höhe gezogen hatte, wobei er seine stark behaarten Arme entblößte, begann er die Lose einzeln, mit den Gesten eines Kunststückmachers herauszuholen, aufzurollen und auszurufen. Dann strich er die Ärmel wieder zurück und bat den Geistlichen, die Geschworenen zu vereidigen.

      Der Geistliche war ein alter Mann, mit auf gedunsenem, blaßgelben Gesicht, in einem braunen Talar, mit goldenem Brustkreuz und irgend einem kleinen, an der Seite angehefteten Orden. Langsam unter dem Talar seine geschwollenen Beine bewegend, schritt er zu dem Betpult, das unter dem Heiligenbilde stand.

      Die Geschworenen erhoben sich und drängten ebenfalls zu dem Betpult hin.

      »Ich bitte«, sagte der Geistliche, mit der dicken Hand an seinem Brustkreuz rührend, und wartete, bis alle Geschworenen herangetreten waren. Dieser Geistliche bekleidete sein Priesteramt schon seit sechs und vierzig Jahren und wollte nach drei Jahren sein Jubiläum feiern, wie es der Domprobst neulich gefeiert. Im Bezirksgericht aber diente er seit Eröffnung der neuen Gerichte und war sehr stolz darauf, daß er bereits so und so viele Tausende vereidigt hatte. Auch daß er, trotz seines vorgerückten Alters fortfuhr, zum Wohle der Kirche, des Staates und seiner Familie, der er außer einem Hause ein Kapital von dreißig tausend Rubel hinterlassen konnte, zu arbeiten, er füllte ihn mit Genugthuung. Daß aber seine Arbeit im Gericht, die darin bestand, die Leute auf das Evangelium, in welchem der Eid ausdrücklich verboten war, schwören zu lassen, eine schlechte Arbeit war, war ihm niemals in den Sinn gekommen. Und diese Beschäftigung fiel ihm nicht nur nicht schwer, sondern war ihm zu einer lieben Gewohnheit geworden, die ihm zu mancher angenehmen Bekanntschaft verhalf. Jetzt eben hatte er mit Vergnügen die Bekanntschaft des berühmten Advokaten gemacht, der ihm dadurch, daß er für den einen Prozeß der alten Dame mit den großen Blumen zehntausend Rubel erhalten hatte, ganz besonderen Respekt einflößte.

      Als alle Geschworenen zum Podium herauf gestiegen waren, neigte der Geistliche seinen fast kahlen grauen Kopf auf die Seite, steckte ihn durch die fettige Öffnung des Epitrachilions, ordnete sein spärliches Haar und wandte sich an die Geschworenen:

      »Erheben Sie die rechte Hand und thun Sie die Finger so zusammen«, sagte er langsam mit greisenhafter Stimme, indem er seine dicke, mit einem Grübchen über jedem Finger versehene Hand erhob und die Finger wie zu einer Prise zusammenlegte.

      »Jetzt sprechen Sie mir nach«, sagte er und begann:

      »Ich verspreche und schwöre bei Gott dem All mächtigen, vor seinem heiligen Evangelium und dem lebenspendenden Kreuze des Herrn, daß ich in der Sache, in der ich . . . « Nach jeder Phrase ließ er eine kleine Pause eintreten. »Lassen Sie Ihre Hand nicht sinken, halten Sie sie so«, wandte er sich an einen jungen Mann, der lässig seine Hand hatte herabfallen lassen, . . . »daß ich in der Sache, in der ich . . . «

      Der repräsentable Herr mit dem Backenbart, der Oberst, der Kaufmann und andere hielten ihre Hände mit den zusammengelegten Fingern so, wie es der Geistliche verlangte, und thaten dieses demonstrativ und energisch, während andere die Hände nur ungern und in einer unbestimmten Höhe hielten. Einige wiederholten die Worte zu laut, wie mit einem provocierenden Ausdruck, der gleichsam sagte: ich werde aber doch und doch sprechen; während andere nur flüsterten, hinter dem Geistlichen zurückblieben und dann, wie erschrocken, das Versäumte zur Unzeit nachzuholen suchten. Einige wieder hielten ihre Prise fest, ganz fest, als fürchteten sie etwas fallen zu lassen, mit herausfordernder Geste in die Höhe, während andere ihre Finger aufmachten und dann wieder zusammenthaten. Nach der Vereidigung forderte der Präsident die Geschworenen auf, sich einen Obmann zu wählen. Die Geschworenen erhoben sich und drängten zum Beratungszimmer, wo sie fast alle sofort ihre Cigaretten herausholten und zu rauchen begannen. Jemand schlug zum Obmann den repräsentablen Herrn vor und alle stimmten sofort zu, warfen die Cigarettenstummel beiseite und kehrten in den Saal zurück. Der er wählte Obmann teilte dem Präsidenten seine Ernennung mit und die Geschworenen ließen sich wieder, gegenseitig über ihre Füße stolpernd, auf die in zwei Reihen stehenden hochlehnigen Stühle nieder.

      Alles ging ohne Unterbrechung, rasch und mit einer gewissen Feierlichkeit vor sich, und diese Gesetzmäßigkeit, Folgerichtigkeit und Feierlichkeit bereitete offenbar den Teilnehmern Vergnügen, indem sie sie in der Überzeugung bestärkte, daß sie eine wichtige öffentliche Handlung vollzögen. Dieses Gefühl empfand auch Nechljudow.

      Sobald sich die Geschworenen gesetzt hatten, wandte sich der Präsident mit einer Rede an sie, in welcher er ihnen ihre Rechte, ihre Pflichten und ihre Verantwortlichkeit auseinandersetzte. Während er sprach, wechselte er beständig seine Pose: bald stützte er sich auf die linke, bald auf die rechte Hand, bald auf die Rücklehne, bald auf die Armlehnen des Stuhles; bald glättete er die Ränder des Papieres, bald betrachtete er das Papiermesser, bald die Bleifeder.

      Ihre Rechte bestanden, seinen Worten nach, darin, daß sie durch ihn an die Angeklagten Fragen stellen konnten, daß sie Bleifeder und Papier bei sich haben und die corpora delicti besichtigen durften.

      Ihre Pflicht bestand darin, daß sie nicht zu Unrecht, sondern gerecht urteilen sollten.

      Ihre Verantwortlichkeit endlich zeigte sich darin, daß sie, im Falle der Verletzung des Amtsgeheimnisses und der Konspiration mit Nichtgeschworenen, einer Strafe unterlagen.

      Alle hörten in ehrfurchtsvoller Aufmerksamkeit zu. Der Kaufmann, der um sich herum einen Alkoholdunst verbreitete