Sie sich«, sagte der Präsident.
Die Angeklagte hob ihren Rock hinten mit der Bewegung auf, mit welcher geputzte Frauen ihre Schleppe zurückzuschlagen pflegen, und setzte sich, die kleinen Hände in den Ärmeln des Schlafrocks bergend, die Augen unverwandt auf den Präsidenten gerichtet.
Es folgte die Überzählung und Abführung der Zeugen, die Verhandlung bezüglich des medizinischen Sachverständigen und seine Vorladung in den Gerichtssaal. Dann stand der Sekretär auf und begann die Verlesung der Anklageschrift. Er las vernehmlich und laut, aber so schnell, daß seine Stimme, die die Laute L. und R. fehlerhaft aussprach, in ein ununterbrochenes, einschläferndes Getöne zusammenfloß.
Die Richter stützten sich bald auf die eine, bald auf die andere Armlehne, bald auf den Tisch, bald auf die Rücklehne, bald schlossen sie die Augen, bald öffneten sie sie und warfen sich flüsternde Bemerkungen zu. Ein Gendarm hielt mehrere Mal einen beginnenden Gähnkrampf zurück.
Unter den Angeklagten bewegte Kartinkin unaufhörlich seine Wangenmuskeln, während die Botschkowa sich aufrecht und vollständig ruhig hielt, und nur von Zeit zu Zeit sich den Kopf unterm Tuch mit dem Finger kratzte.
Die Maslowa saß bald unbeweglich, dem vorlesenden Sekretär unverwandt zuhörend, bald fuhr sie auf und schien etwas einwenden zu wollen; dann wieder wurde sie rot und seufzte schwer auf, änderte die Lage der Hände, blickte umher, um ihre Augen von neuem auf den Vorleser zu heften.
Nechljudow saß in der ersten Reihe auf seinem hohen Stuhle und blickte, ohne daß Pincenez abzunehmen, auf die Maslowa. In seiner Seele ging eine komplizierte und qualvolle Arbeit vor sich.
Zehntes Kapitel.
Die Anklageschrift lautete: »Am 17. Januar des Jahres 188 . verstarb im Hotel »Mauritanien« plötzlich der angereiste Kurganskische Kaufmann 2. Gilde Ferapont Emeljanowitsch Smeljkow.«
»Der Polizeiarzt des 4. Bezirks stellte fest, daß der Tod durch Herzschlag erfolgt sei, hervorgerufen durch übermäßigen Genuß alkoholischer Getränke.«
»Der Leichnam Smeljkows wurde der Erde übergeben.«
»Nach Verlauf einiger Tage brachte der aus St. Petersburg zurückgekehrte Landsmann und Freund des verstorbenen Smeljkow, der Kaufmann Timochin, zur Anzeige, daß er auf Grund der Umstände, unter welchen der Tod Smeljkows erfolgt sei, den Verdacht hege, daß man seinen Freund zum Zwecke der Beraubung vergiftet habe.«
»Dieser Verdacht fand eine Bestätigung durch folgende Ergebnisse der eingeleiteten Voruntersuchung:
1. Kurz vor seinem Tode erhielt Smeljkow an der Bank dreitausend achthundert Rubel Silber. Während dessen wurden bei der zwecks Sicherstellung des Nachlasses des Verstorbenen angestellten protokollarischen Aufnahme in barem Gelde nur dreihundert und zwölf Rubel auch sechzehn Kopeken vorgefunden.
2. Den ganzen vorhergehenden Tag und die ganze Nacht vor seinem Tode verbrachte Smeljkow in Gesellschaft eines Ljubka genannten Mädchens (der Jekaterina Maslowa), zum Teil bei ihr, zum Teil in dem Hotel »Mauritanien«, wohin auch, in seinem Auftrage zwar, jedoch in seiner Abwesenheit, die vorgenannte Jekaterina Maslowa von ihrem Hause aus hinfuhr, um für den Smeljkow Geld zu holen, welches sie seinem Koffer entnahm, nachdem sie denselben mit dem ihr vom Eigentümer übergebenen Schlüssel geöffnet, und zwar in Gegenwart der im Hotel »Mauritanien« Bediensteten: Jewfimia Botschkowa und Simon Kartinkin. In dem Koffer Smeljkows sahen die seiner Eröffnung durch die Maslowa und nachherigen Verschließung durch ebendieselbe beiwohnenden vorgenannten Botschkowa und Kartinkin mehrere Pakete von Hundertrubelscheinen.
3. Nachdem Smeljkow zusammen mit der Ljubka in das Hotel »Mauritanien« zurückgekehrt war, gab diese auf Anraten des Korridorbedienten Kartinkin dem Smeljkow ein Glas Kognak zu trinken, in welches sie ein vom letztgenannten Kartinkin erhaltenes weißes Pulver hineingeschüttet hatte.
4. Am anderen Morgen verkaufte die Ljubka (Jekaterina Maslowa) ihrer Wirtin, der Zeugin Rosanowa, den Brillantring des Smeljkow, welchen sie angeblich von diesem zum Geschenk erhalten haben wollte.
5. Das Korridormädchen des Hotels »Mauritanien«, Jewfimia Botschkowa, machte auf ihre laufende Rechnung in der örtlichen Kommerzbank eine Einzahlung von tausendachthundert Rubel Silber.«
»Durch die gerichtsärztliche Totenschau, Obduktion und chemische Analyse der Eingeweide des Smeljkow wurde festgestellt, daß sich in dem Organismus des Verstorbenen zweifellos Gift befinde, welcher Umstand die Schlußfolgerung gestatte, daß der Tod Smeljkows durch Vergiftung herbei geführt sei.«
»Die vor die Anklage gestellten mehrgenannten Maslowa, Botschkowa und Kartinkin bekannten sich nicht für schuldig und erklärten:
Die Maslowa, daß sie in der That von Smeljkow in das Hotel »Mauritanien« geschickt worden war, um dem Kaufmann Geld zu holen. Daß sie dort, nachdem sie mit dem ihr vom Kaufmann übergebenen Schlüssel den Koffer geöffnet, demselben, wie es ihr gesagt worden war, vierzig Rubel Silber, aber nicht mehr Geld entnommen hätte, welches die Botschkowa und Kartinkin, die bei dem ganzen Vorgang zugegen gewesen wären, bezeugen könnten. Ferner sagte sie aus, daß sie, als sie zum zweiten Mal in das Hotel kam, dem Smeljkow auf Veranlassung Kartinkins wirklich irgend ein weißes Pulver in Kognak zu trinken gab. Sie that dieses in der Meinung, es handele sich um ein Schlafpulver, damit der Kaufmann einschliefe und sie früher nach Hause gehen könnte. Den Ring habe ihr Smeljkow selbst geschenkt, nachdem er sie geprügelt und sie von ihm weggehen wollte.«
»Jewfimia Botschkowa sagte aus, daß sie von dem verschwundenen Gelde nichts wisse und das Zimmer des Kaufmanns nicht betreten hätte. Dort habe die Ljubka allein gewirtschaftet, und wenn von dem Kaufmann etwas geraubt sei, so könne das nur die Ljubka gethan haben, als sie mit den Schlüsseln des Kaufmanns das Geld holte . . . «
An dieser Stelle der Vorlesung zuckte die Maslowa zusammen, öffnete den Mund und wandte sich nach der Botschkowa um.
»Als aber der Jewfimia Botschkowa ihr auf tausend achthundert Rubel Silber lautender Bankschein vorgelegt wurde«, fuhr der Sekretär zu lesen fort, »und sie gefragt wurde, woher sie so viel Geld habe, sagte sie aus, daß sie sich dasselbe im Laufe von zwölf Jahren zusammen mit Simon Kartinkin, den sie heiraten wollte, verdient hätte.«
»Simon Kartinkin gestand seinerseits bei der ersten Vernehmung, daß er zusammen mit der Botschkowa, auf Veranlassung der mit dem Schlüssel in das Hotel gekommenen Maslowa, das Geld geraubt und es mit den beiden Frauen geteilt habe . . . «
Bei diesen Worten fuhr die Maslowa wieder zusammen, wurde dunkelrot, sprang sogar auf und begann zu sprechen. Aber der Gerichtskommissar hieß sie schweigen.
»Endlich«, fuhr der Sekretär im Lesen fort, »gestand Kartinkin auch, daß er der Maslowa Pulver zur Einschläferung des Kaufmanns gebracht habe. In seiner zweiten Vernehmung leugnete der Angeklagte dagegen, an dem Raub des Geldes teilgenommen und der Maslowa irgend welches Pulver gegeben zu haben; an allem sei die Maslowa allein schuld. Bezüglich des von der Botschkowa bei der Bank eingezahlten Geldes aber sagte er übereinstimmend mit der Botschkowa aus, daß sie das Geld sich zusammen, während ihrer zwölf jährigen Dienstzeit im Hotel, von den Trinkgeldern der Herrschaften erspart hätten.«
Der Schluß der Anklageschrift lautete:
»Auf Grund des oben dargelegten Sachverhaltes werden der Bauer des Dorfes Borki, Simon Kartinkin, dreiunddreißig Jahre alt, die Kleinbürgerin Jewfimia Iwanowa Botschkowa, vierunddreißig Jahre alt, und die Kleinbürgerin Jekaterina Michajlowa Maslowa, siebenundzwanzig Jahre alt, angeklagt, am 17. Januar 188 . nach vorhergegangener Verabredung Geld und einen Ring des Kaufmanns Smeljkow im Gesamtwerte von zweitausend fünfhundert Rubel entwendet und dem Smeljkow in der Absicht, ihm das Leben zu nehmen, Gift gegeben zu haben, in welcher Folge der genannte Smeljkow mit Tode abging.«
»Dieses Verbrechen ist vorgesehen durch die §s 4 und 5 des 1453. Art. des Strafgesetzbuches. Daher und auf Grund des Art. 201 der Kriminalprozeßordnung unterliegen die obengenannten Simon Kartinkin,