Hans-Jürgen Kampe

Vatter - es passt schon


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wenn sie nachts durchschlafen konnte und nicht von dem brünftigen Gestöhne ihres ungepflegten Vaters wach wurde.

      Schränke gab es in dem Behelfsheim nicht. Mohamed hatte alte, rostige Nägel, die er in den Gassen der Altstadt gefunden hatte, mit einem Holzscheit in die Wände geschlagen. Das sollte zum Aufhängen der wenigen Kleidung reichen.

      Eigentlich hätte Mohamed zufrieden sein können und dankbar, dass die Familie gesund und fleißig war. Fatima hatte eine Putzstelle in einem Restaurant bekommen, wo sie morgens, wenn die Familie aus dem Haus war, drei Stunden die Gaststube, die Küche und die Toiletten reinigte. Immer in der Reihenfolge. Nicht nur, dass Fatima für die wenigen, für sie passenden Arbeitsstunden, fast neunhundert Dirham, ungefähr achtzig Euro, im Monat bar auf die Hand bekam. Vielmehr durfte sie auch ab und zu, wenn der Chef gute Laune hatte, abgelaufene Lebensmittel, fleckiges und eingedrücktes Obst und überreifes Gemüse, vertrocknetes Brot, angeschlagene Teller, Gläser sowie verbogenes Besteck und einmal sogar eine Ton Tajine mit einem Riss in der Glasur mit nach Hause nehmen.

      Nur so konnte die Familie halbwegs überleben.

      Denn das Gehalt von Mohamed als städtischer Müllmann hätte niemals gereicht, die sechsköpfige Familie zu ernähren. Das war auch ein Grund für Mohameds zunehmende Gereiztheit und Unzufriedenheit.

      Während die vier Kinder vor und nach der Schule halfen, wo sie nur konnten, verschwand Mohamed jeden Nachmittag nach seiner Arbeit in der Moschee, um sich danach im Teehaus bei Seinesgleichen über all die Ungerechtigkeiten, die ihnen das Leben schwer machten, auszutauschen, oder sich lange über seinen Lieblingsverein „Kawkab Marrakesch“ und dessen fehlende Torerfolge aufzuregen. Oft genug hatte der nachmittägliche Müßiggang Mohameds zu Streit zwischen den Eltern geführt, bis Fatima schließlich über die Jahre hinweg immer mehr resignierte.

      Die beiden Brüder von Laila, Jamal al Din, Schönheit des Glaubens, und Badr al Din, Vollmond des Glaubens, mussten Holz und Dung sammeln, der getrocknet als Brennstoff diente. Und Nouria, die Strahlende, achtjährige Schwester, half Laila beim Hausputz, Ziegen füttern, melken und beim Schälen der Maronen.

      Die Vorgesetzten von Mohamed registrierten ebenfalls die Veränderung und den immer geringeren Einsatz des Müllmanns. Mohamed wirkte nur emsig, wenn er glaubte, dass Höhergestellte ihn beobachteten. Ansonsten hielt er schwätzend andere von deren Arbeit ab. Während der Nachbar, Ajwad, ein Kollege von Mohamed, als pünktlich, fleißig und lernwillig galt, wurde Mohamed nach einiger Zeit degradiert. Er bekam die niedrigste Stufe bei der städtischen Müllabfuhr zugeteilt. Mohamed musste mit einem Muli, über dessen Rücken links und rechts breite Gummitaschen hingen, durch die engen Gassen der Medina gehen, um in dem Labyrinth hinter dem Jamaa–Lafna Platz und dem Djeman al Fna, dem Platz der Gehenkten, die Abfälle aufzusammeln.

      Weil Mohamed bei den Chefs nicht nur als faul, sondern auch als störrisch galt, wurde ihm eine passende Eselsinzucht zugeteilt. Mit breiten Hufen, so groß wie eine Suppenterrine, stemmte sich die Kreatur jedes Mal bockig in den Boden, sobald ihr Führer an einem Obst–oder Gemüsestand vorbeikam und war nur zum Weitergehen zu bewegen, wenn ihm eine alte Möhre oder ein welkes Blatt zwischen die gewaltigen, schwarzgelben Zähne geschoben wurde.

      Mohamed nannte seinen Arbeitsbereich verärgert die „stinkende Achselhöhle“ von Marrakesch. Nirgends war es dreckiger, übelriechender und gefährlicher als in diesen dunklen Gassen, die noch aus dem Mittelalter stammten.

      Vor allem, wenn Mohamed die Gassen im Gerberviertel reinigte, roch sein Kaftan, seine Kappe, seine Sandalen, seine verbliebenen Haare und seine Haut noch tagelang nach den Ausdünstungen der Chemikalien, die ungehindert in die offenen kleinen Kanäle geleitet wurden. Mit dem Dunst hätte man ein Kamel in Narkose versetzen können. Aber selbst nach seiner Gerbertour vermisste Mohamed das fehlende Bad nicht sonderlich.

      Was Mohamed immer mehr verbittern ließ, war die Tatsache, dass Ajwad Karriere machte. Obwohl er eine niedere Abstammung von Berbern hatte, während er, Mohamed, von edlem arabischem Geblüt war, wurde sein Nachbar befördert.

      Ajwad hatte LKW fahren gelernt und seinen Führerschein bestanden. Nach einiger Zeit wurde eine Stelle als Fahrer eines Müllwagens frei. Eine saubere Arbeit, bequemer, besser bezahlt und mit einem leuchtend orangen Arbeitsanzug mit Kappe versehen.

      Seit seiner Beförderung trug Ajwad zu Hause keinen traditionellen Kaftan und auch keine Babouches mehr, sondern eine schwarze Hose, ein weißes Hemd und braune Lederschuhe. Mohamed fühlte sich seitdem von Ajwad provoziert, giftete, kochte, wenn er den Nachbarn abends sah, und war im Haus nur am Fluchen über die „Natternbrut“ im Nachbarhaus, die wohl glaubten, als Berber jetzt etwas Besseres zu sein.

      Fatima erzählte ihrem zunehmend gereizter auftretenden Mann nichts mehr davon, dass sie sich mit Samima, der Frau von Ajwad, nach wie vor gut verstand, den Kontakt aber auf die Zeiten beschränkte, wo Mohamed in den dunklen Souks von Marrakesch den stinkenden Dreck aufsammeln musste.

      Lailas älterer Bruder Jamal wollte nach 6 Jahren die Schule abbrechen und in einer Werkstatt arbeiten. Ihn lockte das Schrauben an den Motoren und die wenigen Dirhams, die er verdienen konnte. Mohamed war es recht, denn es ärgerte ihn täglich, dass seine hungrigen Mäuler so lange in die Schule gehen mussten und nicht arbeiten konnten, um Geld heimzubringen.

      Vor allem bei den Mädchen war er am Schimpfen und am Drohen. Denn Mädchen würden sowieso heiraten, Kinder bekommen und den Haushalt besorgen. Daher war jeder Schulbesuch, der über die vorgeschriebene Zeit ging, aus seiner Sicht unnötig und musste bei Mädchen unterbunden werden.

      „Zu viel Bildung, vor allem für Mädchen, ist schlecht. Es zerstört unsere Tradition“, rechtfertigte Mohamed seine Ansicht, die auf einer tiefen Angst und Abneigung vor jeglicher Veränderung beruhte.

      Laila fand aber Unterstützung bei ihrer klugen Mutter, die selber unter ihrer zu kurzen Schulzeit und einer fehlenden Berufsausbildung litt. Denn Laila war schlau, hübsch anzusehen und hatte Freude am Lernen. Ihr Traum war es, in eine weiterführende Schule zu gehen und dann eine Ausbildung in einem der zahlreichen gehobenen Hotels zur Hotelkauffrau zu machen. Oft genug schlich Laila mit sehnsüchtigen Blicken an einer der gepflegten Parkanlagen vorbei, die vor den unüberwindlichen roten Mauern der Nobelherbergen lagen, oder schaute neugierig in die Einfahrt mit den teuren Autos, an deren Ende das Paradies wartete.

      Arabisch war ihre Muttersprache und Französisch wurde bereits in der ersten, völlig überfüllten, Klasse gelehrt. Ihr Lehrer, Monsieur Attique, ein kleiner dicker Mann mit einem Oberlippenbart, hatte sehr früh Lailas Sprachtalent entdeckt und gab ihr gebrauchte Spanisch und Englisch Lehrbücher mit nach Hause. Wenn ihr Vater nachmittags noch nicht zu Hause war, lernte Laila hochmotiviert Vokabeln und arbeitete die Bücher Kapitel für Kapitel durch.

      Mohamed hatte letztes Jahr einen alten Röhrenfernseher mit Sat Anlage „gefunden“, wie er sagte, so wie Mohamed auch die wenigen anderen Möbel im Haus angeblich vor anderen entsorgt hatte, nur weil Umzugswillige ihre Möbel für einen unbedachten Moment auf der Straße abgestellt hatten. In diesen Fällen konnte Mohamed plötzlich sehr schnell arbeiten.

      Und so gab Fatima ihrer ältesten Tochter den Rat, heimlich spanische und englische Fernsehsendungen zu schauen, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Der Vater hätte es nie erlaubt, dass Laila die spanische Seifenoper „Grand Hotel“ mit Liebesdramen und Verbrechen verschlang, oder ihr Englisch mit der britischen Serie „Coronation Street“, einem Pendant zur „Lindenstraße“, verbesserte.

      Im Gegenteil. Mohamed wurde von Jahr zu Jahr konservativer, angeblich auch religiöser und intoleranter. Beide Mädchen und auch die Mutter mussten außerhalb des Hauses einen Niqab, den schwarzen Gesichtsschleier tragen, den Laila nur in der Schule abnahm. Und auch zu Hause erwartete der strenge Vater, dass Fatima, Laila und sogar die kleine Nouria ein Kopftuch trugen. Es war, als hätte sich eine unüberwindbare, gläserne Wand aus Unterdrückung und Herrschsucht zwischen der Familie und ihrem Oberhaupt aufgebaut.

      Letztes Jahr hatte der Direktor der Schule die Idee gehabt, einen Musik Arbeitskreis zu gründen. Es sollte traditionelle Musik der Araber und Berber geübt werden. Dass Laila hier die Gimbri, jene lange, arabische Kastenhalslaute spielen lernte, durfte Mohamed nie erfahren.