Tomek Lehnert

Rüpel in Roben


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der Kagyü-Linie. Nachdem er so die alten Schulen in die Knie gezwungen hatte, befürchtete der 5. Dalai Lama eine Kagyü-Revolte und begab sich und sein Königreich in den Schutz der Ching, Herrscher von China. Er wurde mit offenen Armen empfangen. Der Kaiser gewährte ihm nicht nur seinen großzügigen Schutz, sondern führte auch ein System von zwei sich abwechselnden Monarchen ein: es waren dies der Dalai und Panchen Lama. In den Augen der Kagyüs war diese Unterwerfung vor dem Chinesischen Thron gleichbedeutend mit Verrat. Diesen Vertrauensbruch haben sie dem Dalai Lama bis heute nicht verziehen.

      Ein weiteres, berüchtigtes Beispiel der Gelug-Gewalt waren die Machenschaften des Phawankapa im 19. Jahrhundert. Als eine Leuchte für manche in seiner Linie und eine abscheuliche Persönlichkeit für andere, inszenierte dieser Kreuzritter für die Gelug-Sache eine breit angelegte Kampagne gegen die Nyingmapa-Tradition. Es gelang ihm, die Reihen der alten Rotmützen-Schule so durcheinanderzubringen, daß “Diamant-Schneider” und andere wertvolle Übertragungen beinahe ganz verschwanden.

      *

      Die soziale Struktur des alten Tibets wurde in großem Maße durch das Tulku-Wesen bestimmt, einer Tradition der Anerkennung von fortlaufenden Wiedergeburten eines Lamas. Das Phänomen von einer Reihe aufeinanderfolgenden Inkarnationen kommt von dem buddhistischen Prinzip, daß Wesen endlos oft wiedergeboren werden. Die Tulku-Tradition wurde vor 900 Jahren von Karma Pakshi eingeführt, der als kleines Kind erklärte, die Wiedergeburt des kurz zuvor gestorbenen Karmapas Düsum Khyenpa zu sein. Von diesem Zeitpunkt an kehrte Karmapa in einer ununterbrochener Folge von Verkörperungen wieder, die von vor 900 Jahren bis zum heutigen Tag reichen. In gleicher Weise begannen auch andere hoch verwirklichten Lamas sich bewußt wiedergebären zu lassen und wurden dann von ihren verwirklichten Schülern wiedererkannt. So traten die erleuchteten Eigenschaften eines Lamas Leben für Leben in Kontakt mit seinen Schülern. Hunderte von verschiedenen Tulku-Linien zeigten sich in Tibet und das ganze System diente als einzigartiger Mechanismus, eine ungebrochene Übertragung von Buddhas Belehrungen zu bewahren.

      Im Laufe der Jahrhunderte jedoch gelangten die Klöster und ihre Tulkus zu immer mehr Wohlstand und begannen, beträchtlichen Einfluß auf das politische und soziale Leben des Landes auszuüben. Eine Reihe von Tulkus übernahmen zusätzlich zu ihren Rollen als religiöse Lehrer auch Aufgaben als politische Figuren. Die Inkarnation eines prominenten Tulkus zu finden und sie zu ihrem alten Kloster zu bringen, bedeutete Machtgewinn. In vielen Fällen ließen noch dazu die Kriterien, nach denen eine Inkarnation anerkannt wurden, viel Platz für Schachzüge, was dazu führte, daß dieser Prozeß zu einem Werkzeug des politischen Machtkampfes wurde. Die traditionellen Überprüfungsmethoden, bei denen die jungen Hoffnungsträger Gegenstände aus dem Besitz ihrer früheren Inkarnation erkennen mußten, wurden oft unterlassen. Nicht immer wurden herausragende Meister zu Rate gezogen. Politischer Einfluß, Geld oder einfache Waffengewalt wurden die entscheidenden Faktoren und die Bedeutung der authentischen Tulkus begann abzunehmen. Es war durchaus nicht ungewöhnlich, daß sich zwei oder mehr Kandidaten - jeweils von einer mächtigen Gruppe unterstützt - offen und gewaltsam um einen bekannten Tulku-Sitz stritten. Während die jungen Anwärter eher wenig Ahnung von dem Kampf hatten, der hinter ihrem Rücken stattfand, waren ihre mächtigen Paten hingegen bereit einen Krieg anzufangen, um ihren Kandidaten siegen zu sehen.

      War der Thron für einen Bewerber einmal gewonnen, begann seine Ausbildung in strenger Übereinstimmung mit der Rolle, die er in späteren Jahren spielen sollte. Umgeben von einer reinen Männergesellschaft aus Tutoren und Dienern, war der junge Tulku im allgemeinen sehr strenger Disziplin ausgesetzt und befand sich ausschließlich in der Obhut seiner eifersüchtigen Vertrauten. Dies sollte es dem Tulku nicht nur ermöglichen, die Übertragungen von Buddhas Belehrungen in ihrer reinsten Form zu erhalten, sondern so konnte man ihn, den wertvollsten Besitz des Klosters, auch beschützen. Viel zu oft jedoch führte diese Abgeschiedenheit dazu, daß der Tulku über das Leben außerhalb seiner Klostermauern kaum Bescheid wußte. Gleichzeitig spielten die Menschen um ihn herum eine viel größere Rolle, als es das Wohlergehen seines Amtes erfordert hätte und verfolgten nicht selten über den Kopf ihres Meisters hinweg ihre eigenen Ziele.

      Diese Zustände waren der ideale Nährboden für fremde Einmischung. Wie zu erwarten war, ließ sich China diese einmalige Möglichkeit, auf die tibetische Politik Einfluß zu nehmen, nicht entgehen und förderte das Wohlergehen von jenem Tulku, der am besten zu ihren Bedürfnissen paßte. Kein Titel, egal ob der höchste oder der unbedeutendste, war von dieser Störung durch das Reich der Mitte gefeit. Mit einem interessierten Auge auf das Land des Schnees, aber voller Verachtung für dessen religiöser Ehrlichkeit, zwangen die unbarmherzigen Herrscher den Tibetern ihre eigene, manchmal total absurde Wahl für die höchsten Positionen von Dalai und Panchen Lama auf.

      Im Jahre 1796 erzwang der 7. Ching Lu, ein Kaiser der Ching Dynastie, einen Erlaß, in dem eine neue Prozedur zur Anerkennung von Inkarnationen in Tibet festgelegt wurde. Diejenigen, die auf die Wiedergeburt eines berühmten Abtes oder Lamas warteten, mußten sich nicht mehr um kryptischen Zeichen oder langwierige Suchreisen kümmern. Statt dessen sollte ein vom chinesischen Kaiser eingesetzter Rat einfach eine Anzahl geeigneter Kandidaten für einen freien Tulku-Sitz aussuchen. Alle Anwärter sollten dann herausgeputzt und für die Funktion eines geistigen Führers ausgebildet werden. Um letzten Endes dann die richtige Inkarnation aus den Reihen der Bewerber herauszufinden wurde eine Lotterie durchgeführt. In seiner Güte bot der Kaiser neben dem Edikt auch gleich eine goldene Vase an, die bei der Ziehung verwendet werden sollte. Der Name der Inkarnation wurde durch Zufall von einer Reihe von Namen gezogen, die zuvor auf Eßstäbchen geschrieben und in die Vase geworfen worden waren. Der gütige Kaiser vergaß nicht zu erläutern, daß dieses Ritual vor einem Thangka - einem religiösen Rollbild - stattzufinden habe, das niemand anderen darstellte als den ruhmreichen 7. Ching Lu selbst. Sein Vertreter sollte bei dieser entscheidenden Zeremonie auch den Vorsitz führen. Obwohl es den Tibetern oft gelang, die Ergebnisse der Ziehung durch Bestechung und andere Maßnahmen zu ihren Gunsten zu beeinflussen, war in Zukunft ihre freie Wahl, zumindest wenn es um die hohen Gelug-Tulkus ging, eingeschränkt. Offiziell wurden die Inkarnationen der „Gelbmützen“ von nun an vor dem Bild Ching Lus ausgewählt, das sie von der Wand herab anstarrte. Zur gleichen Zeit, jedesmal, wenn der Oberste Führer von Tibet eine öffentliches Verlautbarung machte, würde er gehorsam erklären: „Ich bin der Dalai Lama, eingesetzt von Ching Lu...“. Von dem Tag an, an dem der energische Lu sein Edikt präsentierte, bis zum Jahre 1959, als das Himalaya-Königreich den Chinesen in die Hände fiel, begannen alle Dokumente der tibetischen Regierung mit dieser Phrase. Ohne das Land selbst erobert zu haben, gelang es Peking somit, Lhasa eine unheilvolle und weitgehend unwillkommene Partnerschaft aufzudrängen. Der Dalai Lama und Cheng Lu stellten für den örtlichen Geschmack zweifellos zwei recht eigenartige Bettgenossen dar.

      Durch in- und ausländischen Einmischung wurde die Wahl eines Tulku aufgrund religiöser Kriterien im Laufe der Jahrhunderte eher zur Ausnahme als zur Regel. Natürlich zeigten sich auch authentische Lamas. Die tibetische Geschichte ist reich an Beispielen für verwirklichte Tulku-Linien und theoretisch war das ganze System darauf ausgelegt, solche Wesen zu finden und sich um sie zu kümmern. Doch nachdem es Jahrhunderte lang mißbraucht wurde, ermöglichte das selbe System, daß eine große Anzahl von Tulkus entweder zu politischen Marionetten oder zu absoluten Prinzen wurde. Erstere waren ein Werkzeug in der Hand ihrer Vertrauten, die, während sie ihre eigenen Intrigen spannen, sehr darauf achtete, sich bei dem Tulku Gehör zu verschaffen. Letztere wurden selbst zu Politikern, niemandem gegenüber verantwortlich und von denen beraten, die gerade in ihrer Gunst standen und so sprangen sie oft unvorbereitet in die unbeständigen Gewässer politischer Leidenschaft. Die Tatsache, daß ihre Äußerungen in vielen Fällen den Status von Gesetzen hatten, machte die Sache nur noch schlimmer. Begriffe wie Transparenz, Verantwortlichkeit und Demokratie, die Eckpfeiler einer modernen Gesellschaft im Westen, waren unbekannte Vorstellungen im alten Tibet. Schon der bloße Gedanke an eine repräsentative Regierung oder an kleine Abstriche der absoluten Macht - Vorstellungen, denen sich die Amtsgewalten im Westen schon längst unterworfen hatten - wurde in Tibet und dem Rest Asiens verabscheut. Als Konsequenz wurde das Land oft von einem Haufen ungeeigneter Leute regiert, deren einzige Qualität darin bestand, daß sie einen Titel trugen, oder eng mit einem bekannten Namen verbunden waren.

      Die Mehrheit der Bevölkerung, sowohl die freigeistigen