T.D. Amrein

Muriel


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ekelte. Männer verhielten sich in dieser Beziehung oft äußerst seltsam, das wusste Muriel aus Erfahrung.

      Nun konnte sie nur noch eines tun, ihm einen kleinen Schreck einjagen. Kurz entschlossen radelte sie zurück zur Chantal. Meinrad hatte das Landungsbrett offenbar irgendwo versteckt, stellte sie genervt fest. Deshalb konnte sie nicht einfach an Bord gehen, um die Enden der auf dem Boot festgemachten Leinen zu lockern. »Selbst schuld«, murmelte sie vor sich hin. Dann würde sie eben aufs Ganze gehen. Anstatt sich bloß ein wenig in die Strömung zu drehen, sollte der Kahn völlig abtreiben. Sie zog das Boot an den Leinen zu sich, um die Schlingen an den Ankerstäben zu lockern und leicht abstreifen zu können. Mit einem kräftigen Schubs beförderte sie die Chantal danach wieder vom Ufer weg. Natürlich würde es eine Weile dauern, bis die entlang der Uferböschung schwache Strömung das Boot in Bewegung setzte. Und es würde an dieser Stelle weder besonders weit kommen noch irgendeinen Schaden erleiden. Schließlich hatte Muriel solche Pannen schon des Öfteren erlebt und kannte sich aus. Hauptsache war: Meinrad verlor durch den Schreck für heute Abend die Lust, eine faltige Kröte zu begatten. Ab morgen würde sie ihn mit der Aussicht auf ihre jungen, knackigen Formen davon abhalten.

      ***

      Nach dem Essen schlenderte Meinrad Danner allein an den Anlegeplatz zurück. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. Wo war das Boot? Er hatte es doch hier festgemacht, sicher vertäut! Seine Hand fuhr zum Bootsschlüssel in der Hosentasche. Noch da. Auch die Eisen, an denen er festgemacht hatte, steckten noch in der Erde. Hatte es jemanden gestört, dass er schon so lange am gleichen Platz lag? So viele gut zugängliche Anlegeplätze gab es nun mal nicht am Ufer.

      Höchstens zwei Kilometer Luftlinie bis zur nächsten Schleuse, und die war um diese Zeit geschlossen, überlegte er. Der Fluss führte am Abgang des nächsten Kanalstücks eine starke Biegung nach links aus, und die Strömung wurde an dieser Stelle durch eine breite Schwelle abgeschwächt. Das Wehr regulierte nicht bloß den Abfluss, sondern hielt auch die Höhe des Wasserspiegels konstant. Unabdingbar für ein Schleusensystem. Die Chantal würde durch die schräg zum Fluss laufende Überlaufkante sicher zurück ans rechte Ufer und damit in den Kanal geführt werden. Strömung entstand dort nur, solange eine Schleusenkammer gefüllt wurde. Normalerweise bewegte sich dieses Wasser jedoch nicht vorwärts. Also müsste auch ein Boot ohne Antrieb darin stehenbleiben.

      Meinrad erwartete allerdings, dass seine Penichette lange vorher von einem der zahlreichen im Fluss liegenden Bäume aufgehalten worden sein dürfte. Er hatte die Strecke flussabwärts in den letzten Tagen mehrmals zu Fuß auf dem Treidelpfad zurückgelegt und sich dabei die Bäume, die durch Unterspülung des Ufers ins Wasser gekippt waren, genauer angesehen. Offenbar störte dies hier kaum jemanden. Die Kronen ragten fast immer ein Stück weit aus dem Wasser und warnten dadurch die Bootsführer. Doch wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht hängen bleiben. Unter Umständen gereichte Meinrad dies jetzt zum Vorteil.

      Ohne besondere Eile spazierte er voran. Er hatte heute Abend ohnehin nichts mehr vor, und es würde bestimmt noch eine Stunde lang hell bleiben.

      Kaum fünfhundert Meter weiter bestätigte sich seine Vermutung. Der Bug ragte praktisch direkt auf den Pfad, sodass er sogar trockenen Fußes einsteigen konnte. Die Leinen lagen quer auf dem Deck, einfach über die Reling geworfen. Noch deutlich erkennbar die Stellen im Seilgewebe, wo sie um die Eisen geschlungen gewesen waren.

      Handelte es sich um einen Bubenstreich, oder hatte er einen Fischer verärgert? Egal. Morgen würde er ein Stück weiterfahren, schon um der aufdringlichen Alten zu entgehen, die ihn heute Abend beim Essen genervt hatte. Dabei hatte ihn gar nicht so sehr gestört, dass sie immer noch alles zeigen wollte, was sie früher einmal zu bieten gehabt hatte. Wenn sie dazu wenigstens eine Minute lang den Mund hätte halten können!

      6. Kapitel

      Polizeipräsidium Freiburg im Breisgau. Kommissar Max Krüger versuchte, das Gesicht des Toten auf dem Foto mit demjenigen im Personalausweis von Rainer Lau in Einklang zu bringen. Nicht, um die Identifizierung zu bestätigen; die war bereits gesichert. Krüger beschäftigte vielmehr, wie sehr der Tod ein Gesicht entstellen konnte. Außerdem fand er es wichtig, dass man bei Nachforschungen nicht bloß ein optisches Bild des Gesuchten im Kopf hatte. Auch ausgeprägte Eigenschaften wie zum Beispiel sympathisch oder aggressiv gehörten zur Person, in die er sich hineinzuversetzen versuchte, um ihre Gedankenwelt zu erahnen. Das galt natürlich sinngemäß auch für männlich oder weich, verschlagen oder seriös. Oder was sich sonst noch alles aus einem Bild herauslesen ließ, solange man über nichts weiter verfügte.

      Das Foto der Leiche eignete sich jedoch dazu kaum. Es erweckte in erster Linie Mitleid oder Ekel, je nach Befindlichkeit des Betrachters.

      Michélle riss ihn aus seinen Gedanken. »Können wir, Chef?«

      Sie waren im Begriff, ins 60 Kilometer entfernte Offenburg aufzubrechen. Dort hatte das Opfer zuletzt gewohnt. Da die Leiche im Ausland aufgefunden wurde, hatte man die Zuständigkeit nach Freiburg, das dem Fundort nächstgelegene deutsche Präsidium, verlegt. Erste Abklärungen und Befragungen von Zeugen hatten die Beamten am Wohnort bereits durchgeführt. Krüger brauchte die Ergebnisse bloß noch zu sortieren und zu bewerten. Selbstverständlich konnte er weitere Untersuchungen anregen oder auch persönlich ermitteln, wenn er es für notwendig hielt. Der Zweck der anstehenden Reise bestand darin, sich ein eigenes Bild von den beiden seltsam anmutenden Freunden des Opfers zu verschaffen. Die drei hatten einen gemeinsamen Urlaub auf einem Hausboot verbracht. Auf genau diesem Fluss in Frankreich, der Saône, aus der ein deutsches Touristenpaar, die Leiche von Rainer Lau gefischt hatte.

      In den Protokollen fand sich kein einziger konkreter Satz zum Sachverhalt, den Krüger als Ausgangspunkt für eine gezielte Vernehmung verwenden konnte. Und obwohl sie getrennt befragt wurden, erzählten sie ziemlich das Gleiche. Das Verschwinden ihres gemeinsamen Freundes wollten sie überhaupt nicht bemerkt haben. Er sei, wie vorgesehen, einige Tage früher zurückgefahren, um einen wichtigen Termin wahrzunehmen. Welcher Art und wo, wollten sie ebenfalls nicht gewusst haben. Auch keine Ahnung von eventuellen Freundinnen oder Verwandten. Genauso wenig wie von Vorlieben oder Abneigungen des Mannes. Schließlich habe man praktisch nie über Privates gesprochen. Und, dass ihnen erst jetzt am Stammtisch, nach fast zwei Monaten, beim gemeinsamen Betrachten des Polizeifotos eines unbekannten Toten aufgefallen war, dass es dem Kollegen ähnlich sah. Der im Übrigen, seit der Reise tatsächlich nie mehr aufgetaucht sei. Immerhin hatten sich die beiden schließlich dazu durchgerungen, sich mit ihrer Beobachtung bei einer Polizeiwache zu melden.

      Krüger konnte sich kaum vorstellen, dass ein erwachsener Mensch erwartete, dass ihm jemand eine solche Aussage abkaufte. Oder sogar davon ausging, mit einer dermaßen hanebüchenen Story unbehelligt durch eine Morduntersuchung zu kommen. Die beiden ließen sich jedoch auch durch gezieltes Nachfragen offenbar nicht beirren. Rainer Lau solle putzmunter und auf eigenen Füssen das Hausboot verlassen haben. Danach wurde er nie mehr gesehen. Der Kontakt sei ohnehin stets eher lose gewesen. Man habe sich nie verabredet, ausgenommen zur Bootstour, sondern sich immer bloß zufällig, am Stammtisch getroffen. Soweit die Kernaussage der Freunde, die sich natürlich gegenseitig bestätigen und decken konnten.

      Was auf den ersten Blick als Schwachsinn wirkte, erwies sich jedoch als unwiderlegbar. Die Buchung der Reise lag mehr als ein Jahr zurück. Die Begründung, dass es schwierig sei, für alle drei eine passende Zeit zu finden, deshalb die lange Vorlaufzeit, leuchtete zweifellos ein. Ein Jahr auf eine Gelegenheit warten, um mit jemandem abzurechnen, lag noch im Bereich des Vorstellbaren.

      Aber wenn sie ihn tatsächlich loswerden wollten, hätten sie ihn zum Beispiel betrunken ersäufen und das Ganze als Unfall melden können. Ein solches Vorgehen, dürfte kaum zu ernsthaften Ermittlungen geführt haben.

      Also entweder zwei unschuldige Idioten oder zwei Superschlaue. Oder steckte noch etwas Anderes dahinter?

      »Ich bin fertig, Michélle!«, bestätigte Krüger. »Also los!«

      ***

      Verstohlen musterte Manfred Grob die blonde Beamtin, die