Schock kann er allerdings mit seiner Situation besser umgehen. Verglichen mit denen, geht es ihm richtig gut.
Jeder Schritt, den er der Aare entlang geht, erinnert ihn an seine Buben. Was machen sie jetzt? Sicher gefällt es ihnen bei den Grosseltern, schliesslich können sie dort machen was sie wollen. Ob sie ihn vermissen? Vermutlich nicht, denn in letzter Zeit, war er wirklich unausstehlich. Die belastenden Probleme der Arbeit konnte er zu schlecht verstecken und brachte seine schlechte Laune mit nach Hause.
Bei einer Parkbank, von der man auf die Aare blicken kann, setzt er sich und betrachtet das träge dahinfliessende Wasser. So langsam gehen ihm seine Erinnerungen wieder auf die Nerven, er öffnet eine Weinflasche, welche er im Supermarkt gekauft hat und trinkt in einem Zug, die halbe Flasche aus.
Nun macht er sich Gedanken wie es weiter gehen soll. Er will nicht den ganzen Tag mit seinen schweren Tragetaschen unterwegs sein. Es ist ein kühler Frühlingstag und es sind noch nicht viele Spaziergänger unterwegs. Er nimmt seine Wanderung wieder auf. Nun hat er das Stadtgebiet verlassen und erreicht ein kleines Auenwäldchen. Er erinnert sich an die Zeit, als er noch Mitglied im Fischerclub war. Dieser Club hatte hier eine kleine Hütte. Vielleicht haben die den Schlüssel immer noch am gleichen Ort versteckt, er will nachsehen. Tatsächlich findet er den Schlüssel schnell, er ist nicht mehr am gleichen Ort versteckt, doch das Versteck ist nicht origineller gewählt worden. Er nimmt sich vor, heute Abend hier zu übernachten, am Tag getraut er sich nicht in die Hütte einzudringen, das Risiko ist ihm zu gross. Er deponiert seine Taschen hinter dem kleinen Geräteschuppen unter einem Busch. Dort wird niemand nachsehen und die Sachen sind vom Regen geschützt. Er steckt sich einige Dingen in einen Plastiksack und verlässt sein neues Zuhause wie ein Dieb. Jetzt trägt er nur noch die Weinflasche, das Geld und sein Nachtessen auf sich. Das Handy lässt er zurück, es hat keinen Akku mehr und die SIM-Karte ist beinahe leer.
Erleichtert geht er den Weg zurück in die Stadt. Die Aussicht, dass er heute Nacht nicht im Freien übernachten muss, ist eine grosse Erleichterung für ihn. Am Bahnhof setzt er sich auf eine Bank und beobachtet das emsige Treiben. Nach einem kräftigen Schluck wird er ruhiger und döst auf der Bank ein. Nur jede Stunde wird er aufgeweckt, dann hält der Regionalzug auf diesem Geleise. Aber nach zehn Minuten ist der Spuk vorbei und er hat wieder seine Ruhe. Seine Kleidung ist noch einigermassen ordentlich. Auch sein Bart ist inzwischen so lang geworden, dass er als Bart erkennbar ist und nicht unsauber wirkt. So fällt Max auf dem Bahnhof nicht unangenehm auf, lediglich den Leuten, welche in seine unmittelbare Nähe gelangen, fällt seine Alkoholfahne auf und sie machen entsprechende Bemerkungen.
Langsam wird es dunkel und er riskiert es, in die Fischerhütte einzudringen. Am Anfang getraut er sich nicht Licht zu machen. Im Dunkeln findet er das Sofa, auf welchem er sich ausstreckt und sofort einschläft.
In den frühen Morgenstunden erwacht er. Jetzt getraut er sich das Licht einzuschalten, denn um diese Zeit ist sicher niemand in dieser Gegend unterwegs. Am Anschlagbrett findet er alle Anlässe, welche der Verein im laufenden Monat plant. Er kann genau ablesen, wann er in der Hütte Besuch erwarten muss. Das Vereinsleben der Fischer ist nicht sehr rege, so dass er nicht oft gestört wird. Für die nächste Zeit hat er damit einen Stützpunkt gefunden. Er ist stolz auf sich, dass er eine bessere Bleibe gefunden hat, als mancher langjährige Obdachlose.
Die nächste Zeit vergeht wie im Flug. So langsam hat er einen regelmässigen Tagesablauf. Er hat genug Geld, um jeden Tag zwei Flaschen Wein zu kaufen und ist dauernd betrunken. Er kapselt sich von allen anderen Menschen ab und lebt sein Einsiedlerleben.
Heute liegt Max wieder in der Sonne und versucht sich im Schachspielen. Der Schachcomputer ist eines der wenigen Dinge, die er aus der Ehe mitnehmen konnte, seine Exfrau hatte keine Verwendung für den Computer. In letzter Zeit schafft er es, den Computer wenigstens in der dritten Stufe zu schlagen, so ist er motiviert, sein Gehirn zu gebrauchen.
Er ist ins Spiel vertieft, trotzdem fällt ihm auf, dass er von einem Mädchen beobachtet wird. Lange beachtet er es nicht, mittlerweile ist er es gewohnt, dass ihn Leute anstarren. Das Mädchen beweist grosse Ausdauer. Es hat lange schwarze Haare. Das Mädchen dürfte etwa zehn Jahre alt sein.
Durch den ungebetenen Zuschauer wird er vom Spiel abgelenkt. Er schaut öfters zum Mädchen hinüber. Sie lässt sich aber nicht stören und beobachtet ihn weiter.
«Oh verdammt», flucht Max vor sich hin, «jetzt ist die Dame futsch!»
Einen Augenblick lang ärgert er sich über die Zuschauerin, welche ihn zu dem Fehler verleitet hat.
Ist nicht schlimm, jetzt muss ich kämpfen, wenn ich nicht verlieren will, denkt er für sich und die nächsten paar Züge spielt er stark und erobert wenigstens einen Turm zurück. Als er wieder aufschaut ist das Mädchen verschwunden.
Die nächsten Tage ist er wieder öfter auf der Wiese, doch das Mädchen taucht nicht mehr auf. Wegen dem Mädchen hat er doch tatsächlich seinen Alkoholkonsum eingeschränkt. Nach drei Tagen vergeblichen Hoffens, dass es nochmals auftaucht, greift er wieder zur Flasche und holt nach, was er die letzten drei Tage versäumt hat.
So ist er am nächsten Tag in einem so schlechten Zustand, dass er nicht einmal Schachspielen kann. Den ganzen Nachmittag döst er an seinem Lieblingsplatz dahin und erschrickt, als eine Mädchenstimme ihn fragt: «Spielst du heute nicht Schach?»
Verdutzt schaut er auf und da steht das schwarzhaarige Mädchen und spricht sogar mit ihm. In seiner Überraschung bringt er zuerst kein Wort heraus.
«Ich habe schlecht geschlafen und bin heute nicht gut drauf.»
«Darf ich es versuchen? Du kannst dafür mit meinem Handy, The Muscle Hustle spielen, weisst du wie es geht?», fragt das Mädchen scheu.
«Kannst du Schachspielen?»
«Nicht gut, ich habe meinem Vater zugeschaut, aber er meint, ich sei noch zu klein dazu, ich solle lieber lernen.»
Max stellt dem Mädchen die leichteste Stufe ein.
«Also, versuch es, weisst du wie die Figuren aufgestellt werden?»
Das Mädchen stellt die Figuren auf. Max muss nur den König und die Dame vertauschen, dann kann sie mit dem Spiel beginnen. Nach dem ersten Zug ist er schon versucht, ihr einen anderen Zug vorzuschlagen, lässt es aber bleiben, doch schon nach zehn Minuten hat sie die ersten Probleme.
«Da steht doch gar keine Figur, was will er den mit diesem Zug?»
Max stellt fest, dass sie wohl einen Zug falsch gezogen hatte.
«Da kann ich nicht mehr helfen, du hast einen falschen Zug gemacht, du musst von neuem beginnen», er stellt die Figuren wieder in die Ausgangsstellung.
«Puh!», ruft sie entrüstet, «du stinkst furchtbar nach Alkohol. Lassen das, ich stelle lieber selber auf!»
Max wäre am liebsten im Boden versunken, aber es hat ja Recht, wäre sie doch nur gestern gekommen. Er zieht sich zurück und spielt mit dem Handy. Es ist lange her, dass er das letzte Mal ein Spiel gespielt hat.
Plötzlich bricht das Mädchen in einen Jubelschrei aus: «Jetzt konnte ich ihm die Dame nehmen!», sie freut sich riesig. Die Überlegenheit in den Figuren kann sie allerdings nicht ausnutzen, da sie die Möglichkeiten zum schachmatt setzen, noch nicht genug kennt, Figuren erobern geht schon recht gut, aber es gelingt ihr einfach nicht, zum Ende zu kommen.
«Oh, es ist schon so spät», stellt sie plötzlich fest, «ich muss sofort nach Hause. Danke, dass ich es versuchen durfte.»
Noch bevor er es nach ihrem Namen fragen kann, nimmt das Mädchen ihr Handy und schon ist sie verschwunden. Max fühlt sich bedeutend besser. Die Begegnung mit dem Mädchen wirkt auf ihn wie ein Wunder. Genau genommen waren es nur ein paar Worte, die er mit dem Mädchen gewechselt hatte. Es waren aber die ersten Worte seit langer Zeit, die er mit einem Menschen gesprochen hatte, der ihm etwas bedeutet.
Die nächsten Tage sind für Max die Hölle auf Erden, er will sich nicht noch einmal sagen lassen: «Du stinkst!» Also kauft er keinen Wein mehr. Der Entzug trifft ihn mit voller Wucht und er kann sich vor Schmerzen