Klaus Steinvorth

Hölle und Himmel


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hielt es nicht aus und hustete und keuchte. Er sollte nicht denken, ich hätte keine schwere Krankheit.

      Schließlich beruhigte er sich und fragte, ob ich auch so einen schrecklichen Stiefvater hätte?

      Ich könnte einen bekommen, sagte ich. Vater war im Krieg gefallen und Muttel nicht wiederverheiratet. „Aber morgen schon kann sie einen nach Hause bringen, der mein Stiefvater wird.“

      Das glaubte ich zwar nicht, hielt es sogar für unmöglich, weil Muttel auf die Männer schimpfte und immer wieder sagte, wie froh sie war, keinen zu haben. Aber Karl sollte nicht glauben, dass ich es besser hätte.

      „Aber noch hast du keinen, das allein zählt. Was morgen passiert, wissen wir nicht. Morgen kann ich schon tot sein“, sagte Karl düster.

      So was durfte man nicht sagen!

      Er wollte so was nicht sagen, widersprach er. Es kam aus ihm heraus! Aber wenn es soweit war, würden alle in Trauer an sein Grab kommen. Und dann wussten sie erst, was sie an ihm hatten. „Kommst du auch zu meinem Grab?“

      Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte.

      „Du hast es gut“, seufzte er. „Du denkst nicht an Tod und Trauer. Aber vielleicht vergisst du mich trotzdem nicht!“

      „Auf keinen Fall!“, rief ich. Ich trauerte ja immer noch um meine Schwester, die ich nie vergessen würde.

      Er sah mich genauer an. Er wollte von meiner Schwester hören.

      „Ja, es war mitten in der Nacht, wir wurden überfallen, und Hanna lief weg so schnell sie konnte, aber die Russen waren hinter ihr her und da sprang sie in den eisigen Fluss.“

      Ich sollte weiter erzählen.

      Ich dachte, wenn ich mit keinem Stiefvater angeben konnte, dann wenigstens mit einer Schwester! Mit einem Faustschlag hatte sie einen Angreifer zu Boden gestreckt, einen anderen mit einem Fußtritt in die Flucht gejagt, erzählte ich begeistert. Aber die Übermacht war zu groß gewesen, sie sprang ins Wasser, auf dem noch Eis schwamm. Gegen die Kälte hatte sie keine Chance.

      „So eine starke Schwester hätte ich auch gern“, seufzte Karl. „Aber meine ist noch zu klein.“

      Meine war auch zu klein gewesen, neun Jahre alt, als sie uns verloren ging. Sie konnte sich gar nicht wehren! Aber es war ja alles von mir so gelogen, dass sich die Balken hätten biegen müssen. Wir waren von den Russen überfallen worden, das stimmte, aber Hanna verschwand erst später aus meinem Leben. Als die Russen kamen, waren wir weggelaufen. Sie hatte mich hinter einen Busch gezogen und den Mund zugehalten. Ich hatte mir vor Angst in die Hosen gemacht.

      Karls Schwester hieß Karin. Die wusste über alles Bescheid. Aber allein würde sie es nicht schaffen.

      „Was?“, fragte ich, weil er eine Pause machte und mich bedeutungsvoll ansah.

      „Die Rache!“

      „Was für eine Rache?“, rief ich erschrocken.

      Er nickte nur, aber schien mich nicht zu hören. Dann drehte er sich um und der Baum warf seinen Schatten auf ihn, als hätte er ihn zum Schweigen gebracht. Mir grauste es. Was er von Hölle, Mord und Rache sagte, war mir unheimlich. Er hatte etwas an sich, was mir einen Gänseschauer über den Rücken jagte. Wenn man vom Teufel sprach, dann kam der Leibhaftige, das sagte Omi immer wieder. Nein, ich wollte mit ihm nichts zu tun haben.

      Ich wandte mich von ihm ab und sah im Spiegel des Fensters, wie der Baum mit seinen langen Fingern nach mir griff. Warum hatte ich ihm so lange zugehört und dabei selbst so faustdick gelogen? Hätte er bloß nicht von seinem Stiefvater angefangen! Dann hätte ich auch nicht über Hanna gelogen. Das war eine Sünde, sogar eine schwere, denn der Teufel wurde nicht umsonst Vater der Lüge genannt. Gott würde mich dafür bestrafen, sagte Omi, wie, wusste man nie, aber es würde kommen, Gott vergaß nie. Außer man bereute und beichtete! Aber ich konnte ja noch nicht beichten.

      Wahrscheinlich war Karl gar nicht katholisch. Wer so von Hölle, Mord und Rache sprach, konnte gar nicht katholisch sein. Doch er war es zu meinem Erstaunen! Er selbst fragte mich danach, weil er glaubte, mich in der St. Marien-Gemeinde gesehen zu haben. Es war eine große Kirche, deshalb hatte ich ihn nicht gesehen. Und wir waren spät aus dem Osten gekommen, deshalb kannten wir noch nicht viele Leute.

      Plötzlich fing er an zu weinen. Ich war erschrocken, versuchte, ihn zu beruhigen. Er hörte aber gar nicht hin, tat so, als ob ich gar nicht da war. Sein Bett wurde vom Deckenlicht nur halb beleuchtet, er hatte sich in die dunkle Stelle verkrochen. Die Krankenschwester sagte, dass er noch einmal operiert wurde. Es war nicht schlimm, aber er hatte natürlich Angst.

      Ich hatte auch Angst vor meiner Operation, obwohl ich es nicht zugeben wollte. Als sie mich holten und zum Operationssaal rollten, drehte ich mich zu Karl um und machte ihm das Siegeszeichen, indem ich Zeige- und Mittelfinger zu einem V ausstreckte. Ich hatte es im Wochenschau-Kino gesehen. Dann legten sie mir ein Tuch über das Gesicht, ich musste tief atmen, und schon war ich weg.

      Als ich aufwachte, lag ich wieder neben Karl. Der sah mich traurig an. „Ich weiß, dass du denkst, ich lüge, aber ich spreche die Wahrheit, die reine Wahrheit. Ich sage dir das, weil ich einen Freund brauche, einen guten Freund, auf den ich mich verlassen kann. Hundertprozentig! Karin wird dir helfen, aber allein schafft sie es nicht. Willst du mein Freund sein?“

      Ich nickte. Ich war noch ziemlich benommen von der Operation. Ich wunderte mich, dass er so hastig sprach.

      Gut. Er würde mir noch mehr sagen. Erst mal sollte ich seinen Stiefvater beobachten, wenn er ihn besuchen kam.

      Am nächsten Morgen kam sein Stiefvater zusammen mit seiner Mutter und seiner Schwester. Sein Stiefvater hatte ein Gesicht, das auf der einen Seite schwarz und schrumplig war, als hätte er es verbrannt. Er sah mich sofort und sein Blick war wie glühende Kohle. Ich konnte ihn nicht aushalten und hatte sofort Angst vor ihm und verstand Karl. Ich schaute erst wieder hoch, als ich das Gefühl hatte, er guckte mich nicht mehr an. Ich sah, dass er mit dem Rücken zu mir stand und auf Karl einredete. Der hatte den Kopf weggedreht, er wollte nichts hören. Sein Stiefvater regte sich deshalb nicht auf. Er brüllte nicht los, sondern redete sehr freundlich weiter. Und doch sah er selbst von hinten gefährlich aus. Als ob eine schreckliche Macht von ihm ausging. Ich drehte mich lieber auf die andere Seite. Ich wollte mit ihm nichts zu tun haben.

      Aber ich war doch zu neugierig und konnte so nicht lange liegenbleiben. Ich wandte mich wieder zu ihrer Seite und sah in die Augen seiner Schwester Karin, die gleich zu mir kam. Sie wollte von meiner Krankheit wissen. Darüber konnte ich natürlich nicht reden. Ich zog die Decke hoch, damit sie nicht Schlauch und Beutel sah. In der Operation hatten sie an meinem Organ einen Schlauch befestigt, der in einen Beutel endete. Dorthin floss mein Urin (so hieß es und nicht Pipi!). Ich musste nur aufpassen, dass sich der Schlauch nicht verhedderte und unten kniff, das tat weh. Weil also Karin davon nichts wissen durfte, wiederholte ich die Sache mit dem Leistenbruch und dem Gewichtheben. Das gefiel ihr, sie starrte mich mit offenem Mund an. Sie war Karl sehr ähnlich, hatte dieselben dunklen Augen, die aber leicht schielten, wenn sie länger guckte. Dann sah sie so aus, dass man ihr nicht Nein sagen konnte.

      Und das tat ich auch nicht, als sie fragte, ob sie mir beim Hanteltraining zuschauen konnte. Da blickte mich ihr Stiefvater an und ich erstarrte. Ich merkte, dass er mein Lügen durchschaut hatte. Karin redete mit ihm, als ob sie keine Angst vor ihm hatte. Sie sagte Papi zu ihm und schlang sogar ihre Arme um seinen Hals, als sie seine Erlaubnis haben wollte, mir beim Hanteltraining zuzugucken. Aber er winkte ab. Das wäre jetzt nicht wichtig. Darüber könnte man später reden.

      Kaum waren sie gegangen, wandte sich Karl an mich. Jetzt, wo ich seinen Stiefvater gesehen hatte, würde ich verstehen, dass er mich brauchte.

      Ich verstand ihn, sagte ich. Ich hatte auch Angst vor ihm.

      „Willst du mir helfen?“, fragte er. Seine Augen flehten fast.

      „Wie?“, fragte ich.

      „Du musst zur Rache bereit sein!“, sagte er sofort.

      „Zur Rache?“,