Klaus Steinvorth

Hölle und Himmel


Скачать книгу

doch klar, oder?“

      Das war gar nicht klar, aber ich dachte, ich rege ihn lieber nicht auf.

      „Auge um Auge, Zahn um Zahn! Wenn ich sterbe, ist auch der Apotheker dran.“

      „Wie soll das passieren?“, fragte ich vorsichtig.

      „Warte ab! Karin wird dir helfen, wenn du nicht weiterweißt!“

      Er saß seitlich am Fenster und war ein Schatten mit buckligem Rücken und spitzem Kinn. Er wurde mir unheimlich, aber ich merkte, dass ich von ihm nicht wegkam. Ich konnte weder bei ihm noch bei seiner Schwester Nein sagen. Das sollte mein Problem werden.

      Dann aber dachte ich, dass es nicht so schlimm sein konnte. Es war ja gar nicht klar, wie das mit der Rache passieren sollte, und er wollte sie nur, wenn er starb, und er würde nicht sterben, schon gar nicht im Krankenhaus, wo die Ärzte jeden Augenblick hereinschauten und nachfragten. Also brauchte ich alles nicht ernst zu nehmen.

      Da las ich lieber das Karl-May-Buch, das auf seinem Nachttisch lag. Ich hatte auf dem Umschlag einen kriegsbemalten Indianer in das Himmelblau galoppieren sehen, da wollte ich mal hineingucken. Karl fand es spannend, jetzt fehlte ihm aber die Lust zum Lesen. Kaum hatte ich angefangen, vergaß ich alles. Oh, so zu sein wie Old Shatterhand, so stark, so klug, so gut! Und wie edel Winnetou war und wie böse Rattler!

      „Wart erst ab, bis die Rache kommt“, sagte Karl. „Dann wird es richtig spannend!“

      „Die Rache?“

      „Nscho-tschi, Winnetous Schwester, wird vom elenden Santer ermordet. Das ist doch klar, dass sie gerächt werden muss, oder?“

      Ich nickte.

      Beim Mittagessen hörte ich von Karl, dass Karin mir alles sagen würde, was ich wissen wollte. Dann würde ich einsehen, dass ich ihm helfen musste.

      Ich glaubte ihm ja, sagte ich.

      Er verstand sich gut mit ihr. Aber allein würde sie es nicht schaffen. Deshalb musste ich ihr helfen, wenn er nicht mehr da war.

      Es fuhr mir wie ein Stich ins Herz. Wenn er nicht mehr da war? Das meinte er doch nicht im Ernst!

      Ich sollte mich für alle Fälle bereit halten. Das wollte ich doch, oder?

      Seine dunklen Augen hielten mich fest. Ich nickte schnell.

      „Und du willst mein Freund sein?“

      Ich nickte wieder.

      „Dann müssen wir Blutsbrüder werden.“

      Ich war einverstanden.

      Er richtete sich langsam auf. Ich musste ihm das Karl-May-Buch geben, und er blätterte. Wir würden es genauso machen wie Winnetou und Old Shatterhand. Er las vor, wie Intschu tschuna, der Häuptling der Apachen, zuerst seinem Sohn Winnetou und dann Old Shatterhand mit einem Messer die Haut aufritzte und die Blutstropfen in zwei Wasserschalen fallen ließ, so dass jeder das Blut des anderen trank. Dadurch waren die beiden so eng verbunden, dass jeder die Gedanken des anderen kannte.

      Ich konnte mir nicht vorstellen, mit dem Messer die Haut aufzuritzen. Mit dem schmutzigen Messer auf dem Tablett? Das musste man vorher abwaschen und man durfte nicht aufstehen. Und wenn die Schwestern das mitkriegten?!

      Karl sah mich an, ich sollte nur abwarten. Als die Tabletts abgeräumt waren, wodurch zum Glück die schmutzigen Messer verschwanden, nahm er die Flasche Mineralwasser und füllte sein Glas halbvoll. Er drückte den Finger so lange an seine Nase, bis etwas Blut herausquoll, das er in sein Glas tropfen ließ. Das trank ich mit einem Schluck aus. Nach Blut schmeckte es nicht, das hatte Old Shatterhand auch gesagt. Aber meine Nase begann heftig zu bluten, als ich an ihr herumdrückte. Ich reichte ihm schnell das Glas, bevor ich mich zurücklegte, um das tropfende Blut zurückzuhalten. Die Schwester schaute misstrauisch, als sie die Blutflecken auf Hemd und Bettdecke sah. Ich hatte oft Nasenbluten, erklärte ich.

      Karl war zufrieden. „Jetzt sind wir Blutsbrüder!“ Er überreichte mir den Winnetou-Band als Geschenk, damit ich immer an ihn dachte, und sagte: „Dein Gedanke ist mein Gedanke und mein Gedanke ist dein Gedanke! Du weißt also, woran ich denke.“

      Ich nickte wieder, obwohl ich es nicht wusste. Ich hoffte nur, dass ich ihn nie zu rächen brauchte. Aber er hatte mir ja auch gar nicht gesagt, wie die Rache aussah. Also war das etwas, woran ich nicht denken musste.

      Er merkte, dass ich ihm nicht richtig glaubte. Seine Augen bohrten sich in meine. „Feigheit ist Schande und ein Versprechen bindet. Blut ist dicker als Wasser!“

      Was konnte ich dagegen sagen?

      „Wenn der Augenblick der Rache kommt, wirst du alles wissen. Meine Gedanken sind in deinen und deine in meinen. Auch nach dem Tod.“

      Also doch die Rache! Es lief mir kalt über den Rücken. Wollte er sich nach dem Tod bei mir melden? Aber nein, er würde ja gar nicht sterben! Er hatte nur Angst vor der Operation, das konnte ich verstehen, denn mir selbst war mulmig zumute, wenn ich daran dachte. Ich sollte noch einmal operiert werden, es hatten sich Komplikationen eingestellt, wie der Arzt sagte. Der war freundlich und fröhlich. Alles wäre bald vorbei und ich brauchte überhaupt keine Angst zu haben, auch Karl nicht. Wenn er bloß nicht dieses ernste und traurige Gesicht hätte! Wenn er bloß nicht so schrecklich hustete und gar nicht aufhören wollte! Als ich ihn nach einem Anfall fragte, wie es ihm ging, wunderte er sich. „Du kannst doch meine Gedanken lesen. Wozu sind wir Blutsbrüder?“

      Ich konnte sie aber nicht lesen. Wenn ich ihm meine Gedanken zuschickte und hoffte, er würde sie verstehen, kam von ihm kein Zeichen. Er warf sich unruhig hin und her, hustete und murmelte Unverständliches. Ich dachte an Winnetou, wie er nach der Ermordung seines Vaters und seiner Schwester so traurig und wütend war, dass er sich an den Weißen rächen wollte. Das konnte ich verstehen. Und ich wäre auch traurig und wütend, wenn Karl sterben müsste, was zum Glück nicht passieren würde. Aber ich konnte ihn doch nicht rächen! Wie stellte er sich das vor: den Apotheker umbringen? Das ging nicht. Selbst wenn der ihn vergiftet hatte. Das musste die Polizei klären. Ich konnte ja nicht einmal ein Gewehr oder eine Pistole halten. Ich war eben doch nicht Winnetou, dachte ich traurig.

      Am Abend kamen wieder sein Stiefvater, seine Mutter und Karin, die aber nicht in meine Richtung guckte. Sie hatte nur Augen für ihren Bruder, über den sich ihre Mutter gebeugt hatte, um mit ihm leise und eindringlich zu reden. Dann richtete sie sich auf und gab dem Apotheker ein Zeichen, worauf er den Tisch neben dem Bett frei räumte, mit einem weißen Tuch belegte und auf ihm ein Kreuz, zwei Kerzen, ein Glas Wasser und Schälchen mit Salz und Wattebäuschen stellte. Er sah mich nur kurz an, aber es genügte, mir einen Schauer übe den Rücken zu jagen. Inzwischen war Karin hinausgelaufen und kehrte mit dem Kaplan zurück, den ich schon in der St. Marien-Kirche gesehen hatte. Er schritt betend an uns Kranken vorbei und besprengte uns mit Weihwasser. Ich wusste sofort, ohne es vorher gesehen zu haben, dass hier die letzte Ölung gespendet wurde. Würde Karl doch sterben müssen?

      Sie hatten sich hingekniet und beteten mit dem Kaplan, der sehr ernst aussah und seine Brille nach oben rückte, während seine Hand durch das Haar fuhr und seine streng gescheitelte Frisur zerstörte. Er stieß schnell seine Gebete aus, so dass Karls Familie nicht folgen konnte. Schließlich warteten sie und sagten in den Pausen: Herr, erbarme Dich, Christus erbarme Dich. Herr erbarme Dich. Dann verließen sie den Raum, ich musste mich zur Wand drehen, denn jetzt wollte der Kaplan Karl die Beichte abnehmen. Ob Karl schon vorher gebeichtet hatte? Bestimmt! Denn ich war wegen meiner späten Ankunft in den Westen der Älteste in meiner Kommunionsklasse. Ob Karl das mit seiner Rache beichten würde? Er musste es! In der Beichte durfte man keine Sünden verschweigen, selbst die geringsten nicht! Ich hörte Murmeln und Flüstern, dann stand der Kaplan auf. Ich drehte mich um und sah, wie der Kaplan das Kreuzzeichen über Karl schlug. Dann war er von seinen Sünden befreit. Dann konnte ihm nichts mehr passieren.

      Seine Familie kam wieder herein, und der Kaplan salbte Karl an Augen, Ohren, Mund, Händen und Füßen und sprach hastig und heiser etwas über Sünden und Verzeihen. Manchmal aber betonte er jedes Wort, so dass ich ihn gut verstand. Diese Worte gruben sich in mein Gedächtnis ein. Nichts soll der Feind gegen