Klara Chilla

Die Schiffe der Waidami


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keine armen Fischer zu sein, dachte er anerkennend, als er zwei Türen entdeckte, die in weitere Räume führten. Alles war sauber und ordentlich und an den Wänden standen verzierte Schränke, die sogar mit einigen Gegenständen geschmückt waren.

      „Danke.“ Jess setze sich auf einen dargebotenen Stuhl und fragte sich, wie sich diese unangenehme Situation wohl weiter entwickeln würde.

      „Wir danken dir, dass du uns tatsächlich aufsuchst, bevor du mit deinen Männern die Insel verlässt.“ Sein Vater hatte eine wohltönende und dunkle Stimme. Jess sah offen in das von Wind und Wetter gezeichnete Gesicht.

      „Ich habe für die Hilfe bei der Reparatur der Monsoon Treasure zu danken. Ohne die Hilfe eurer Fischer wären wir nicht so schnell fertig geworden.“ Dankend nahm er einen hölzernen Becher entgegen, in dem ein leichter Gewürzwein funkelte, und tat einen kurzen Schluck daraus.

      „Kannst du dich an uns erinnern?“ Die helle Stimme der Frau ließ Jess seine Aufmerksamkeit wieder ihr zuwenden. Sie hatte leise gesprochen und doch schlug die Gewichtigkeit der Frage wie eine Kanonenkugel ein. Seine Augen suchten ihre, die ihn umschlangen und in einer Art fesselten, die ihm unangenehm war.

      „Nein!“ Jess schüttelte den Kopf und beobachtete, wie ihre Hände den Krug, den sie umklammerten, noch fester packten und an ihren Körper pressten. „Ich habe nur Erinnerungen ab dem Zeitpunkt, an dem ich Captain der Monsoon Treasure geworden bin. – Und das ist fünfzehn Jahre her.“

      „Das kann nicht sein, dann wärst du mit zehn Jahren Kapitän geworden.“ Erregt griff sein Vater nach einem Stuhl, zog ihn zu sich heran und setzte sich darauf.

      „Es kann sein, denn ich bin ein Kapitän der Waidami.“ Jess spie beinahe jedes Wort hervor und zog sein Hemd mit beiden Händen leicht auseinander. Der Fischer und seine Frau starrten ungläubig auf die Tätowierung. Die Frau murmelte leise vor sich hin und bekreuzigte sich dann langsam.

      „Das erklärt also auch, warum du diese Verletzung überlebt hast und so schnell wieder gesund geworden bist. Zudem siehst du aus, als wärest du gute zehn Jahre älter.“ Sein Vater betrachtete ihn ruhig. „Du bist die Schöpfung ihrer heidnischen Seher und führst blind ihre Befehle aus, nicht wahr?“

      „Ein Menschenleben bedeutet mir nichts, wenn du das wissen möchtest. Schließlich seid ihr selbst Zeuge davon geworden.“ Jess beugte sich leicht zu dem Fischer hinüber und starrte ihn provozierend an.

      „Ein Menschenleben muss dir etwas bedeuten, denn sonst wärst du nicht hier, oder?“ Wieder drängte sich die Stimme der Frau dazwischen und sie sah ihn flehentlich an. „Du bist hier, weil wir förmlich darum gebettelt haben, dich zu sehen. - Warum sollte ein gemeiner Pirat sonst ein paar Fischer aufsuchen?“

      Jess seufzte und schüttelte den Kopf. Langsam schob er den Stuhl zurück und erhob sich.

      „Ich denke, es ist besser, wenn ich wieder gehe.“ Ohne einen weiteren Blick auf die enttäuschten Gesichter zu werfen, ging er auf die Tür zu und öffnete sie. Dankbar fühlte er die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und den erfrischenden Wind auf der Haut, als er aus der Hütte trat.

      „Jess!“ Die Stimme war nur ein Hauch und doch besaß sie eine Kraft, dass sich Jess Morgan nach ihr umdrehte. Die Frau trat auf ihn zu und hob ihre Arme, um ihn zu umarmen, hielt dann aber in dem Bewusstsein der Unmöglichkeit ihres Vorhabens inne.

      „Werden wir dich jemals wiedersehen?“

      „Wozu sollte das gut sein?“ Jess schüttelte hart den Kopf und blickte distanziert zu ihr herab. Er erkannte, dass sie fast einen ganzen Kopf kleiner als er war, als sie dicht vor ihn trat. Sie sah ihn einfach nur an. Kein Wort drang mehr über ihre Lippen, keine Regung stand in ihre schönen Augen geschrieben und doch brach ihre verzweifelte Sehnsucht über Jess Morgan herein und bezwang ihn. Sehnsucht und Verzweiflung waren ihm schon unzählige Male begegnet, doch die Erkenntnis, dass diese Gefühle allein und bedingungslos ihm galten, zwang ihn in die Knie. Erstaunt spürte er, wie Mitgefühl sich in ihm regte, und er hielt ihr in einer schlichten Geste seine Hand entgegen.

      Seine Mutter ergriff sie und presste sie kurz und hingebungsvoll an ihre Wange. Ihre Berührung war leicht wie ein Hauch und doch brachte sie voller Kraft eine Wärme mit sich, die in Jess drang und ihn für einen Moment durchströmte. Als sie seine Hand aus ihren Fingern gleiten ließ, trat sie einen Schritt zurück und blieb vor der breiten Brust ihres Mannes stehen, der unbemerkt dazu getreten war.

      „Leb wohl.“ Ihre Stimme war mit neuer Kraft gefüllt, als sie nach den Händen des Fischers griff und diese wie einen schützenden Umhang um sich zog.

      „Du sollst wissen, dass du jederzeit willkommen bist, wenn du in Frieden hierher kommst.“ Sein Vater sah Jess an und nickte ihm anerkennend zu.

      „Lebt wohl.“ Jess wandte sich ab und ging den Strand hinab.

      Seine Stiefel hinterließen flache Abdrücke im trockenen Sand, die der Wind bald davon geweht haben würde, aber die Spuren dieser Begegnung verewigten sich für immer und hinterließen Abdrücke, deren Ausmaße nicht vorhersehbar waren.

      *

      Als Jess aus der Hütte trat, richtete sich Cale aufgeregt auf. Seit Jess in das Haus gegangen war, hatte er gewartet, sich auf der Reling abgestützt und Vermutungen darüber angestellt, was darin wohl geschehen würde. Die fast rührselige Abschiedsszene rief Unglauben in ihm hervor, und Cale hatte Mühe, sich darauf zu konzentrieren, die Befehle zum Auslaufen zu geben.

      „Er wird nicht mehr derselbe sein.“ Hongs düstere Worte ließen Cale herumfahren, und er sah den Chinesen verständnislos an.

      „Was meinst du?“

      „Captain Jess Morgan ändert sich. – Das meine ich.“ Die dunklen Augen schienen erfüllt von heimlichem Wissen und verfolgten regungslos, wie Jess sich dem Beiboot näherte, vor dem Finnegan geduldig wartend im Sand saß. „Du wirst sehen, wir lösen uns nicht nur von den Waidami, sondern auch von unserer alten Lebensweise.“ Seine Augen richteten sich bedeutungsvoll auf Cale und der Chinese nickte ihm ernsthaft zu.

      Cale legte die Stirn in Falten und rief Jintel Befehle zu, damit dieser alles zum Auslaufen klarmachte. Das Boot glitt unter den kräftigen Ruderschlägen von Finnegan schnell näher, und Jess enterte müde das Fallreep hinauf. Der Erste Maat sah mit Besorgnis, dass die Miene seines Freundes von neuen Erfahrungen gezeichnet war, als er die Planken der Treasure betrat.

      „Kurs Changuinola, Cale. – Es wird endlich Zeit, unseren alten Kurs wieder aufzunehmen.“

      Seher

      „Ich werde ab sofort deine Ausbildung zum Seher übernehmen. Du wirst hier eine der Höhlen beziehen.“

      Bairani stand in seiner Höhle und betrachtete Torek, wie dessen blassblaue Augen sich weiteten und seine Kinnlade herabfiel. Der leicht geöffnete Mund, der viel zu groß für das Gesicht wirkte, verlieh dem Jungen einen dummen Ausdruck. Der Seher lächelte still in sich hinein. Dumm war der Junge wirklich nicht. Dies war eine ungewöhnliche Gelegenheit für Torek, der aufgrund seiner schlaksigen und unbeholfenen Gestalt von den anderen Jungen des Dorfes verlacht wurde. Er würde diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen lassen und schnell lernen, seine neue Position für sich zu nutzen. Bairani genoss den Gedanken, den Jungen formen zu können.

      „Ich möchte aber erst, dass du mir deine Visionen zeigst. Komm her zu mir, mein Junge.“ Bairani hob fordernd die Hand, um sie Torek zwischen die Augen zu legen. Sobald seine Finger die leicht schwitzige Haut berührten, wurde er von einem gewaltigen Strom von Bildern bedrängt. Sie stürzten unkontrolliert wie eine Lawine auf ihn herein, die sich an den Hängen des Vulkans löste und ungebremst in die Ebene polterte. Der Oberste Seher atmete tief durch und konzentrierte sich darauf, eine leichte Barriere zu bauen, um dahinter die Visionen zurückzuhalten. Dann erschuf er einen kleinen Durchgang, durch den er jedes Bild einzeln passieren ließ. Überwältigt betrachtete er die nicht endenwollende Flut. Was er da sah, übertraf seine größten Erwartungen, der Junge sammelte offensichtlich die Visionen sämtlicher Seher in sich. Nie zuvor hatte er so etwas gesehen. Er sah Bilder aus der Vergangenheit, die für ihn zum gegenwärtigen Zeitpunkt völlig