Klara Chilla

Die Schiffe der Waidami


Скачать книгу

Wie immer hatte er ein großes Geheimnis daraus gemacht, was er aufgrund seiner Visionen vielleicht bereits wusste.

      Lanea vertraute ihrem Vater und hatte nur deshalb die Reise angetreten. Nun war sie hier und würde in wenigen Augenblicken auf ihren künftigen Captain und sein Schiff treffen.

      „Deine Reise ist hier zu Ende, Lanea! Meine Männer werden dich mit dem Beiboot zur Pier rudern. – Viel Glück!“ Der Mann reichte ihr zum Abschied die Hand, und Lanea schüttelte sie dankbar.

      Am liebsten wäre sie an Bord dieses Schiffes geblieben. Die Tsunami war nur ein friedliches Handelsschiff der Waidami, das sich normalerweise auf keinen Kampf einließ.

      Doch der Abschied lässt sich wohl nicht länger hinauszögern, dachte Lanea niedergeschlagen, als sie in das ungeduldige Gesicht des Captains blickte.

      „Lebt wohl, Captain.“ Seufzend enterte sie in das bereitstehende Beiboot ab. Ihr Seesack lag bereits im Bug. Während sich das Beiboot immer mehr von der Tsunami entfernte, heftete sie ihren Blick wieder auf die Monsoon Treasure.

      Wer war dieser Captain Jess Morgan? Wie mochte er sein? Lanea hatte bisher nur einen Piratenkapitän kennengelernt. Es war ein brutaler und widerlicher Kerl gewesen, der alles darangesetzt hatte, sie auf sein Schiff zu bekommen, sobald er sie gesehen hatte. Die Seher hatten das glücklicherweise verhindert. Trotzdem musste Lanea immer noch bei dem Gedanken an diesen Mann schlucken. Nüchtern vermutete sie, dass dieser Captain nicht anders sein konnte. Sie erwartete einen hässlichen und grausamen Mann. Ein dicker Kloß verengte ihren Hals. Lanea fuhr sich mit ihren schwitzenden Händen über die Hosenbeine und griff vorsorglich nach ihrem Seesack, als das Beiboot an der Pier anlegte.

      „Lebt wohl.“

      Die Männer wünschten ihr ebenfalls Lebewohl, und Lanea betrat zaghaft den festen Boden. Neugierig schaute sie von ihrem Standpunkt in alle Richtungen um und betrachtete das bunte Treiben, das hier herrschte. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen, und niemand sah die innere Zerrissenheit, die sie beherrschte. Männer und Frauen jeden Standes und jeden Gewerbes eilten den Hafen entlang, der von kleinen, schmutzigen Häusern gesäumt war. Die Gassen, die hinter die Häuser führten, wirkten ebenfalls verdreckt und luden nicht dazu ein, sie zu erkunden. Lanea saugte jede Einzelheit in sich auf und wusste doch, dass sie sich jetzt und ohne weiteren Aufschub dem Captain der Monsoon Treasure würde stellen müssen.

      Es war ihr immer noch nicht ganz klar, wieso er ausgerechnet eine Frau als Navigator an Bord holen sollte. Üblicherweise wurden die Schiffshalter den Kapitänen einfach zugeteilt. Aber dieser Fall lag ja offensichtlich anders. Captain Jess Morgan galt als Abtrünniger, was bedeutete, dass er versuchte, sich aus den Fängen der Waidami zu lösen und auf eigene Faust durch die Gewässer zu segeln. Der alte Schiffshalter war vor kurzem gestorben, und Lanea sollte unauffällig seinen Platz einnehmen. Sie sollte sich nur als Navigator zu erkennen geben und später heimlich die Positionen übermitteln. Es würde gefährlich sein, aber vielleicht gelang es ihr ja auf diese Weise, ihren Beitrag dazu zu leisten, wenigstens einen Piraten aus dem Verkehr zu ziehen. Lanea tat einen tiefen Atemzug und straffte unmerklich ihre Schultern. Sie schulterte ihren Seesack und blickte ein letztes Mal auf die Tsunami, bevor sie entschlossen ihre Schritte in die Richtung der Monsoon Treasure lenkte.

      Ihr Blick wurde magisch von dem stolzen Schiff angezogen. Ihre Füße folgten diesem Ruf, Schritt für Schritt. Jedes Detail prägte sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis, als ihr Blick an einer großgewachsenen Gestalt hängenblieb. Der Mann lehnte lässig an der Reling und beobachtete irgendetwas, das neben dem Schiff auf der Pier geschah.

      Während Lanea sich langsam näherte, konnte sie eine kleine Menschenmenge erkennen, die sich vor dem Schiff versammelt hatte. Beiläufig vernahm sie das muntere Fideln einer Geige, das aus einer Taverne zu ihnen auf die Gasse klang, als sie sich durch die Männer schob. Rücken der unterschiedlichsten Größen machten ihr widerwillig Platz. Neugierig erkannte sie einen Tisch, der vor der Monsoon Treasure aufgestellt worden war. Dahinter saß ein gutaussehender, dunkelhaariger Mann, der sich interessiert mit einem Seemann unterhielt. Lanea blieb in der zweiten Reihe stehen, um die Geschehnisse unauffälliger beobachten zu können. Sie ahnte bereits, dass die Männer hier alle auf dem Schiff anheuern wollten. Um einen besseren Überblick zu erhalten, reckte sie den Kopf. Stirnrunzelnd gestand sie sich ein, einen weiteren Blick auf den Mann an der Reling werfen zu wollen. Er stützte sich immer noch lässig mit den Unterarmen darauf ab. Seine weizenblonden Haare schimmerten in der Sonne und waren das Einzige an ihm, das keine Düsternis ausstrahlte. Lanea konnte zwar die feingeschnittenen und klaren Gesichtszüge erkennen, hatte aber trotzdem das Gefühl, dass diese von etwas Bedrohlichem überdeckt wurden; wie ein feingewebtes Tuch, das unauffällig alles verdeckte, was darunter lag. Die schwarze Kleidung unterstrich diesen verstörenden Eindruck.

      Während sie sich ihrer Neugier unbehaglich bewusst wurde, richtete sich der Pirat abrupt auf. Ein wachsamer Blick aus eisblauen Augen traf direkt auf ihre und bohrte sich in ihren Verstand und ihr Herz. Lanea hielt entsetzt den Atem an, trat einen Schritt zurück und duckte sich hinter die Männer. Ihr Blut spielte in ihrem Kopf zu einem rauschenden Orchester auf und überdeckte für einen Augenblick alles andere. Verzweifelt konzentrierte sie sich vollständig darauf, ihre Fassung zurückzugewinnen.

      *

      Jess Morgan beobachtete neugierig die Gruppe der Männer, die an Bord der Monsoon Treasure anheuern wollten. Einfache Seeleute, die ihr Glück auf einem der meistgesuchten Piratenschiffe machen wollten. Er lächelte bitter über seinen zweifelhaften Ruf und nahm den Seemann genauer in Augenschein, der gerade von Cale Stewart befragt wurde. Der Mann war ein heruntergekommener alter Säufer, der seine besten Jahre auf See bereits seit langem hinter sich hatte. Jess schnaubte und bewunderte die Geduld von Cale, der einen Mann nach dem anderen gründlich befragte. Der Rest der Männer stand abwartend einige Schritte dahinter. Jess entschied sich dazu, die Strömungen, die von den Männern ausging, zu begutachten. Konzentriert ließ er sein Bewusstsein abgleiten und stieß auf die unterschiedlichsten Strömungen. Einige Männer strahlten starke Kälte aus oder Hinterlist, andere wiederum Berechnung oder Brutalität. Es waren die gleichmäßigen und verstörenden Bewegungen von Mördern und Halsabschneidern; im Grunde das, was auf einem Piratenschiff gesucht wurde. Doch Jess wollte kein Crewmitglied mit solch einer Ausstrahlung. Er suchte jemanden, dem er vertrauen konnte, voll und ganz, so wie dem Rest seiner Crew auch. Niemand in seiner Mannschaft besaß derartige negative Eigenschaften. Natürlich waren sie allesamt Piraten, und das Verbrechen war ihnen nicht unbekannt, dennoch waren sie anders. Seine Männer liebten den Kampf, doch empfanden sie nicht diese seltsame und sadistische Freude, die er jetzt schon bei den meisten Interessenten auf der Pier wahrnahm. Während er langsam die Reihe der Wartenden abtastete, richtete er sich abrupt auf. Eine vollkommen andere Strömung störte die Gleichmäßigkeit der anderen. Aufregung schlug ihm entgegen und Zweifel, Angst. Jess hob misstrauisch eine Augenbraue und fixierte das Zentrum dieser Ausstrahlung. Sein Blick traf kurz auf ein katzenartiges Augenpaar, das gleich darauf verschreckt in der Menge abtauchte. Neugierde ergriff ihn. Jess Morgan verließ ruhig über die Laufplanke die Treasure, während er seine Sinne auf die inzwischen panische Strömung gerichtet hielt. Belustigt sah er, wie Cale verwundert zu ihm aufblickte, als er an dem Tisch vorbeischritt. Langsam und provozierend strich er an der Gruppe der Seeleute entlang. Seine Bewegungen und sein Gesicht zeigten die Sprungbereitschaft und tödliche Konzentration eines Raubtieres, das ein Gebüsch umschlich, in dem sicheren Bewusstsein, dass sein Opfer sich darin verborgen hielt. Unvermittelt blieb er stehen. Die Männer glitten bleich geworden auseinander und gaben den Blick auf eine sich duckende Gestalt frei.

      Überrascht erkannte Jess Morgan die langen roten Haare und die feinen Gesichtszüge einer jungen Frau, die verlegen so tat, als würde sie etwas vom Boden aufsammeln. Ihre aufgeregte Strömung schoss ihm sich förmlich überschlagend entgegen. Interessiert betrachtete er sie.

      Was suchte sie hier bloß zwischen den ganzen Männern und warum war sie so aufgeregt? Seine Wirkung auf Frauen war ihm nicht unbekannt, doch das hier war anders. Sein Instinkt riet ihm, Abstand zu halten, doch irgendetwas zwang ihn vorwärts.

      „Kann ich Euch behilflich sein?“, fragte er ruhig.

      Die junge Frau hatte sich inzwischen aufgerappelt und gab sich Mühe, ihn gerade und fest anzusehen. Ihre Strömung hatte sich etwas beruhigt und doch war