Klara Chilla

Die Schiffe der Waidami


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wurden. Ihre Stimme zitterte kaum merklich, als sie sprach: „Ich bin Lanea aus dem Volk der Ka’anu. Ich möchte als Navigator auf der Monsoon Treasure anheuern, Sir!“

      Ein erstauntes Raunen ging durch die Männer in Laneas Rücken, als sie ihre Abstammung vernahmen, und auch der große, schwarzgekleidete Mann, den sie für Jess Morgan hielt, schien ehrlich überrascht. Die Ka’anu waren für ihre übersinnlichen, navigatorischen Fähigkeiten berühmt. Mitglieder dieses Volkes konnten Kurse und Positionen ohne jedes Hilfsmittel bestimmen. Es hieß, sie wären die Nachfahren göttlicher Sternfahrer, die sich nicht mehr von der Erde trennen konnten und doch die Verbindung zu den Himmelskörpern ihrer Herkunft nicht aufgaben.

      Laneas Mutter war eine Ka’anu, sodass sie tatsächlich über diese besonderen Fähigkeiten verfügte, die ihr jetzt einen großen Dienst erweisen würden. Ihr Herz schlug bis zum Hals und sie versuchte, den irritierenden Blicken des Mannes gleichmütig zu begegnen. Seine eisblauen Augen wurden eine Spur dunkler, als er sie von oben bis unten taxierte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Dunkelhaarige sich vom Tisch erhob und sich neben ihn stellte. Sie entsprachen beide nicht dem Bild, das Lanea bisher von Piraten hatte. Beide Männer waren von beeindruckend gutaussehender Erscheinung. Der dunkelhaarige Mann wirkte mit seinen rehbraunen Augen regelrecht harmlos auf Lanea, während der ihn um einen halben Kopf überragende Captain einen verwegenen Eindruck machte. Sein Auftreten war selbstsicher und eindrucksvoll und zog sie auf unerklärliche Weise in seinen Bann. Keiner von beiden wirkte brutal oder gar grausam. Wieder traf Lanea ein undefinierbarer Blick aus eisblauen Augen, bevor der Große sich an den Dunkelhaarigen wandte.

      „Sie ist angeheuert, Cale. Zeig ihr ihre Unterkunft und stell sie der Crew vor.“ Seine Stimme war angenehm dunkel, als er ihr eine sehnige Hand entgegenstreckte. „Willkommen an Bord der Monsoon Treasure, Lanea!“

      *

      Jess konnte sich nicht wirklich erklären, warum er es tat. Er handelte wie unter einem inneren Zwang und reichte der jungen Frau die Hand. In dem Augenblick, in dem seine Finger die ihren berührten, geschah etwas mit ihm. Es war, als würde ein Weg zu einem Ort in seinem Inneren freigeschlagen werden, von dem er bisher nicht gewusst hatte, dass er existierte. Ein Spalt öffnete sich darin und etwas Unbestimmbares löste sich wie aus langer Gefangenschaft und kroch heraus. Es war altbekannt und doch unvertraut und stürzte Jess von einem Augenblick auf den anderen in tiefste Verwirrung.

      „Cale, übernimm das Kommando. Ich muss noch etwas erledigen und weiß nicht, wann ich zurück bin.“ Jess schaute seinen Ersten Maat von der Seite an und ignorierte dessen verwirrtes Stirnrunzeln, als er ihm kurz zunickte und dann seine Schritte zwischen die verdutzten Seeleute lenkte. Natürlich konnte Cale nicht verstehen, warum er Lanea so kurzerhand angeheuert hatte, aber er war ihm keine Erklärung schuldig. Im Gegenteil, Jess hatte selbst keine Erklärung dafür und brauchte einen klaren Kopf. Die Gedanken überschlugen sich darin und bruchstückhafte Bilder, die wie Puzzleteile durch seine Erinnerungen schossen, nahmen ihn vollkommen in Anspruch.

      Der Pirat gab sich den äußeren Anschein von Gelassenheit, als er davonging, aber in seinem Innersten brodelte es. Ihm war, als würde er eine Art Gesang in seinem Kopf hören, der sich um die Bilder darin rankte; als würde er diese an unsichtbaren Fäden langsam immer näher zusammenziehen und an ihre fest vorbestimmten Plätze rücken. Die Eindrücke wurden immer stärker, und seine Schritte bewegten sich schneller von der Treasure fort. Fort von dem Gewühl der Menschen, von dem kritischen Blick seines Freundes und fort von dieser rätselhaften Frau. Jess Morgan schloss verwirrt die Augen, in der Hoffnung, eine klare Sicht der Dinge zu bekommen, doch das Durcheinander in seinem Kopf griff auch auf seine Sehfähigkeit über. Plötzlich war er nur noch in der Lage, seine Umgebung als schattenhafte Umrisse wahrzunehmen. Mehr als einmal rempelte er ungewollt einen Mann an, der zufällig seinen Weg kreuzte. Alles, was er wollte, war ein Ort, an dem er Ruhe finden konnte. Jess musste sich dringend irgendwohin zurückziehen, um sich vollkommen ungestört diesem Wahnsinn stellen zu können.

      „Folgt mir!“ Eine unbekannte dunkle Stimme tauchte neben ihm auf, und der dazugehörende Schatten ergriff ihn fordernd an seinem rechten Oberarm. Jess wollte aufbegehren und den Schatten wegstoßen, doch der Griff war überraschend fest. Die Stimme sprach in einem merkwürdigen Singsang weiter, der ihn einlullte. Jess schüttelte schwerfällig seinen Kopf und versuchte so, die bleierne Schwere daraus fortzutreiben. Die Klänge der unbekannten Stimme fügten sich nahtlos in den Gesang in seinem Kopf und füllten jeden Raum, der dort noch nicht von den verstörenden Bildern besetzt war, mit beschwörender Kraft aus. Er war nicht mehr in der Lage, sich gegen diesen Zauber zu wehren und folgte der Stimme, folgte dem dunklen Schemen, der ihn fortführte.

      Plötzlich löste sich der Griff von seinem Arm, und die Stimme des Schemens zog sich langsam aus seinem Kopf zurück. Zurück blieb der Wirbel von Erinnerungen an fremde Bilder, an Menschen, die ihm einst etwas bedeutet zu haben schienen; Erinnerungen an Verlust und Schmerz. Jess‘ Atem ging stoßweise, während er auf kalten Boden sackte. Um ihn herum herrschte völlige Schwärze, und er presste beide Hände gegen den Kopf. Die Erinnerungen schienen herausquellen zu wollen, aber irgendetwas brachte sie in die richtige Reihenfolge. Nach einer Weile kehrte Ruhe ein. Jess‘ Atem verlangsamte sich, und sein Blick klärte sich wieder auf. Zuerst undeutlich, doch dann immer schärfer, erkannte er die Konturen eines einfach eingerichteten Zimmers. Die Wände wirkten grau und verfallen. Risse zogen sich durch das Mauerwerk. An einer Seite stand ein altes Bett, auf dem eine muffige Decke lag. Daneben befand sich ein kleiner Tisch mit einem einzelnen wackeligen Stuhl. Auf dem Tisch standen ein Krug und ein Becher, daneben ein Teller mit Brot. Jess runzelte die Stirn und stand langsam wieder auf. Ein plötzlicher Schmerz, der durch seinen Kopf raste, ließ ihn aufstöhnen. Dankbar ließ er sich auf das Bett fallen und griff nach dem Krug. Wie er erwartet hatte, war der Krug gefüllt. Jess goss das klare, frische Wasser in den bereitstehenden Becher. Woher hatte sein Gastgeber gewusst, dass er hierherkommen würde? Jess‘ Gedanken richteten sich auf zwei grüne Katzenaugen und tiefes Misstrauen überkam ihn. Er wusste nicht, wieso er hier war. Er hatte keine Ahnung, warum er diese Frau angeheuert hatte, und was sie mit diesem Chaos in seinem Kopf zu tun hatte. Vorsichtig roch er an dem Wasser, doch er konnte nichts Ungewöhnliches feststellen und trank den Becher auf einen Zug aus. Er stellte den Becher auf den Tisch, der dabei gefährlich wackelte, und stand wieder auf. Mit wenigen Schritten durchmaß Jess das Zimmer und war überrascht, als er die Tür unverschlossen vorfand. Er ging einen kleinen unbeleuchteten Gang entlang, der zu einer groben Holztür führte. Auch diese ließ sich öffnen und führte auf eine schmutzige Gasse. Offensichtlich hatte ihn jemand hierhergeführt, zu einem Ort in der betriebsamen kleinen Hafenstadt, an dem er die Ruhe finden konnte, die er gerade brauchte. Nachdenklich ließ er seinen Blick über die Gasse schweifen, auf dem sich zwielichtige Gestalten herumtrieben. Die Dämmerung warf bereits ihre langen Schatten wie ein Netz aus. Er musste nun schon einige Stunden fort sein. Cale würde sich Sorgen machen. Doch der Unbekannte hatte ihn nicht ohne Grund hierhergeführt. Jess‘ Instinkt sagte ihm, dass dieser ziemlich genau über ihn Bescheid wissen musste. Er hatte ihm einen Schlafplatz angeboten, wohl wissend, dass ein Captain der Waidami normalerweise niemals an Land schlief. Nur der Schlaf an Bord des verbundenen Schiffes ermöglichte erholsamen Schlaf. Nur der Schlaf in der schützenden Umarmung der Monsoon Treasure hielt seine Träume fern und die unliebsamen Erinnerungen. Schlaf an Land bedeutete aufzehrende Nächte voll grausamer Erinnerungen, geschaffen von dem Träumenden selbst. Jede Seele, die er in das Reich der Toten gesandt hatte, kehrte Nacht für Nacht zurück, um ihren Mörder anzuklagen, und nur das eine Schiff hatte die Kraft, diese Seelen nicht vortreten zu lassen. Jess zog mit einem leichten Schauer die schwere Holztür zu und drängte das Leben in der Gasse aus seiner Wirklichkeit. Entschlossen drehte er sich um und ging den Gang zurück. Er interessierte sich nicht für den Rest des verfallenen Hauses. Nur das eine Zimmer war für ihn von Interesse, und er betrat es entschieden. Den Schmutz ignorierend, setzte er sich auf das Bett. Dann streckte er langsam seine Gestalt aus, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und wartete auf den Schlaf.

      *

      Undurchdringliche Dunkelheit erfüllte den kleinen Raum, in dem Jess Morgan schlief. Sein Körper lag lang ausgestreckt und in tiefem Schlaf gefangen auf der harten Matratze. Die Muskeln waren angespannt und wirkten sprungbereit. In seinem Gesicht arbeitete es, und die Augen huschten unter den geschlossenen