Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen


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erinnerte Kira an die Frage des Jungen.

      »Bestimmt passiert das mit uns, wenn die Erwachsenen so weitermachen!«, rief sie und wandte den Blick wieder ab. Sie glaubte tatsächlich, dass ihre Insel zerbrechen konnte. Ihre Eltern sprachen manchmal vom Kippen, wenn sie glaubten, dass Kira im Hinterhof spielte und nicht zuhörte.

      »Ich finde das total übertrieben«, kommentierte er laut. »Mein Vater ist auch dabei, aber ich glaube, er ist der Einzige, der …«

      »Sei bitte mal ruhig, ja?« Kira trat weiter vor, ohne den Blick von der Insel zu lösen. Sie näherte sich einem kleinen Vorsprung zu ihrer Rechten, der mit vertrockneten Grasbüscheln übersät war. Der Wind pfiff hier so stark, dass alle anderen Geräusche übertönt wurden. Nur die nervige Stimme des Jungen wollte nicht verstummen.

      »Für wen hältst du dich, hm? Du bist bestimmt … erst sieben Jahre alt?«

      »Ich bin acht!«, brüllte Kira. In der Ferne stürzte ein weiterer Brocken in die See. Offenbar hatte der unsichtbare Riese nicht vor, etwas von der Insel übrig zu lassen – er wurde sogar noch gefräßiger.

      »Und ich bin schon zehn!«, rief der Junge, ohne seinen Platz zu verlassen. »Du solltest auf mich hören!«

      »Du weißt doch, Amerikaner hören nicht auf Ruaner«, murmelte sie den Lärm hinein. Sie hatte das von ihrem Vater, er betonte das bei jeder Gelegenheit. Seit die Diskussionen auf dem Marktplatz andauerten, konnte sie ihn am Frühstückstisch kaum ertragen. In gewisser Weise war es ein Glücksfall, dass die Erwachsenen heute so früh zu Streiten begonnen hatten, dass sie morgens nicht einmal essen konnten. Kira überlegte, welches der beiden Völker die Debatte zuerst unterbrechen würde, weil alle hungrig wurden.

      »Hey, Aaron! Da steckst du!«

      Ein gebräunter Junge mit krausem Haar tauchte zwischen den Ruinen auf. Kira verlor jegliche Hoffnung, das Spektakel in Ruhe beobachten zu können. Bevor Aaron etwas erwidern konnte, schrie der andere Junge auf. Kira glaubte zunächst, dass er gestolpert war, doch als sie sich umdrehte, stand er noch immer verdattert auf beiden Füßen.

      »Die Insel! Die bricht ja zusammen!«

      Seine Stimme war noch greller als Aarons. Kira hielt sich demonstrativ die Ohren zu, nahm ihre Hände aber herunter, als Aaron den Mund öffnete.

      »Ja, Marv!«, rief dieser genervt. »Die Erwachsenen haben es noch nicht bemerkt!«

      »Die streiten zu laut, um es zu hören«, meinte Kira, aber der Krach verschluckte ihre Worte. Marv schüttelte aufgeregt den Kopf. Angst spiegelte sich in seinen Zügen.

      »Sie müssen es sehen!«

      Ohne ein weiteres Wort stürmte er davon, wobei er beinahe über die Überreste eines umgekippten Maschendrahtzaunes stürzte. Kira hoffte, dass Aaron es ihm gleichtat. Stattdessen blieb er stehen und betrachtete den steilen Rand der Insel.

      »Hey, Mädchen!« In seiner Stimme lag plötzliche Sorge. »Magst du nicht zurückkommen? Das sieht gefährlich aus!«

      »Hol mich doch«, entgegnete sie. »Ich habe einen Platz in der ersten Reihe!«

      »Die erste Reihe wird immer in Mitleidenschaft gezogen, das weiß jeder!«

      »Was für ein Blödsinn«, rief Kira. »Geh einfach. Du nervst.«

      Aaron verschränkte die Arme. »Ich will die Insel aber auch untergehen sehen.« Der Wind brauste auf und schlug gegen seine Shorts.

      »Dann halt einfach die Klappe!«

      Kira spürte seinen gebannten Blick im Rücken, als sie einen weiteren Schritt nach vorne tat. Sie stand nun fast am Ende des Vorsprungs, ihr kleiner Körper wurde von aufgebauschten Wolken umrahmt.

      »Du hältst dich für besonders mutig, oder?«, grummelte Aaron, seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser.

      Kira genoss den Augenblick der Ruhe und beugte sich nach vorne, um einen Blick auf den unteren Rand der Insel zu erhaschen. In diesem Moment zitterte die Erde, Kira verlor das Gleichgewicht. Es war, als wäre ein Mehlsack in ihrer Magengrube aufgetaucht, der sie hartnäckig nach unten zog. Ihre Arme wirbelten durch die Luft, die dünnen Beine schwebten über dem Abgrund. Da war nichts mehr unter ihren Füßen. Noch ehe sie nach etwas greifen konnte, spürte sie Hände an ihrem Bauch. Jemand ging einige Schritte rückwärts und stellte sie auf ihre geleeweichen Füße. Der Boden darunter zitterte immer noch. Eine tiefe Schramme zog sich an Kiras Schienbein entlang, vor lauter Schreck brach sie in Tränen aus.

      »Papa!«, rief Aaron entgeistert.

      Kira sah verwundert auf und betrachtete den Mann, der sie gerettet hatte. Er beugte sich über sie und hob sie hoch, wobei er beruhigende Worte flüsterte. Vorsichtig entfernte er sich von der Kante, während Kiras Schluchzen lauter wurde.

      »Alles ist gut, ja? Beruhig dich, ich habe dich.«

      An einer der umliegenden Häuserwände blieb Aarons Vater stehen und setzte sie behutsam auf den Boden. Ihre blassen Wangen kribbelten, Tränen zogen feine Linien über ihr Gesicht.

      »Das war knapp, was hast du dir nur dabei gedacht? Wäre ich nicht gewesen, wäre das übel ausgegangen! Pass das nächste Mal bitte besser auf.« Er atmete tief aus und schien trotz allem erleichtert zu sein. »Wie heißt du?«

      Der Mann klang harsch und nett zugleich, als wäre ihm bewusst, dass er Kiras Schmerz mit seinen belehrenden Worten nur verschlimmerte. Er sah Aaron ähnlich, allerdings trug er eine moderne Brille mit runden Gläsern und einen dunkelgrünen Schal über seinem Mantel. Sein Bart ließ ihn wie Käpt‘n Brummbär aus Kiras Lieblingsgeschichten wirken, aber das behielt sie für sich.

      »K-Kira«, brachte sie zusammen mit einigen Tränen hervor.

      »Sehr erfreut, Kira. Ich bin Augustin, Aarons Papa.« Der Mann lächelte, sein Gesicht legte sich in gutmütige Falten.

      »D-danke, dass Sie mich gerettet haben«, wimmerte sie. Noch immer klammerte sie sich an Augustins Ärmel.

      »Hör mal, ich könnte niemanden abstürzen lassen!« Seine Empörung war echt. Augustin hob kurz den Kopf, um Aaron einen Blick zuzuwerfen, doch der sah wieder hinaus aufs Meer. Auch er war kreidebleich und zitterte. Sein Vater verzog für einen Sekundenbruchteil das Gesicht, dann wandte er sich wieder Kira zu.

      »Du bist aber ein Ruaner«, meinte sie.

      »Na und?«

      »Die Ruaner lassen die Amerikaner sterben.«

      Augustin wich so plötzlich zurück, dass sich Kiras Finger ruckartig aus dem Stoff lösten.

      »Was erzählst du für einen Unsinn? Ich möchte gar nicht wissen, wer dir das beigebracht hat, Kira. Wir mögen uns zwar manchmal nicht, aber niemand sollte andere Menschen sterben lassen, weil sie aus einem anderen Volk stammen!«

      »F-find ich auch.«

      »Dann sag so etwas bitte nicht.«

      Das Mädchen antwortete nicht, biss sich kopfschüttelnd auf die Unterlippe und zerdrückte zwei weitere Tränen. Augustin hockte sich direkt vor sie, während er geschäftig in seinen Manteltaschen wühlte.

      »Okay, Kira. Ich habe eine Idee …«

      Mit einem Mal hielt er ein kupferfarbenes Teleskop in den Händen, das mit türkisen Ranken versehen war. Es verschwand beinahe in seinen großen Händen. Mit einem Lächeln überreichte er es ihr, doch Kira hatte Mühe, das filigrane Werkzeug zu halten, weil sie immer noch zitterte.

      »Das ist ein Taschenteleskop. Es ist praktisch, wenn man Dinge beobachten will, die weit weg sind, zum Beispiel die Sterne oder einen Streit. Damit musst du nicht so nahe an den Rand gehen.« Er nickte nach hinten, in die Richtung der zerbrechenden Insel.

      »Papa, die Insel zerfällt«, meinte Aaron zögernd. »Wundert dich das gar nicht?« Allmählich war er nicht mehr blass, sondern scharlachrot im Gesicht.

      Augustin erstarrte für einen Moment, blinzelte verwirrt und schien erst