betrachtete sie den Tisch, als wäre er schuld an der ganzen Situation. Da er sich erwartungsgemäß nicht rührte, gab sie auf und sah sich gelangweilt im Zimmer um. Bis unter die Decke standen Bücherregale, denn ihre Mutter nutzte den Raum als Bibliothek. Kira konnte nicht lesen, und sie mochte den Geruch der alten Seiten nicht. Emilia Solomon hingegen meinte, es gäbe auf der Insel kaum etwas Wertvolleres. Wenn sie mit Kiras Vater sprach und den Schatz im oberen Stockwerk erwähnte, wusste Kira nie, ob ihre Mutter die Bücher oder ihre Tochter meinte.
Wut kroch in ihr hoch, verstopfte ihre Kehle wie ein widerspenstiges Wort. Am liebsten wäre sie Kreise gelaufen, bis sie sich beruhigt hatte, doch das Zimmer war zu schmal dafür. Also warf sich Kira auf das Bett und wollte gerade ihr Gesicht in den Kissen vergraben, als ihr das kupferne Taschenteleskop entgegenrollte und an den Kopf schlug.
»Au«, fluchte sie, rieb sich die Schläfe und betrachtete das schöne Werkzeug skeptisch. Warum hatte Augustin es ihr gegeben? Es sah viel zu wertvoll aus, um es grundlos zu verschenken. Außerdem hatte er ihr heute das Leben gerettet, warum machte er ihr danach ein zweites Geschenk? Noch dazu war sie eine Amerikanerin.
Kira sprang vom Bett und griff nach dem Teleskop. Es hatte drei kleine Beine, damit es sicher auf dem Schreibtisch stehen konnte. Sie richtete das Okular aus und sah gespannt durch die große Linse. Alles, was sie sah, war das zerschlagene Fenster des gegenüberliegenden Hauses. Es war winzig und stand auf dem Kopf. Kira zog ihren Kopf ruckartig zurück und betrachtete das Gerät verwirrt. Sie brauchte einen Augenblick, um ihren Fehler zu bemerken. Nervös drehte sie die größere Linse in Richtung der Fensterscheibe, atmete tief durch und wagte einen erneuten Blick.
Jetzt sah sie alles richtig herum, das Fenster war gigantisch. Sie konnte die fein verästelten Risse in der Scheibe sehen, die sie an einen kahlen Baum erinnerten. Sanft bewegte sie das Teleskop. Für einen Moment wurde ihr schwindelig, dann entdeckte sie tatsächlich das weiße Stück Grenze.
Kira blähte die Nasenflügel und wich von dem Teleskop zurück. Hatte sie gerade richtig gesehen? Schnaubend beugte sie sich vor und drückte die große Linse leicht nach unten. Tatsächlich! Genau in der Mitte ihres Sichtfeldes stand dieser dunkelhaarige Zehnjährige und sah zu ihr hoch.
»Frechdachs«, grummelte sie und sprang auf. Kira schnappte sich ihre Strickjacke, die über der Stuhllehne hing, und stürmte aus dem Zimmer. Auf dem Flur erinnerte sie sich, dass ihr Vater ihr Hausarrest erteilt hatte, also lauschte sie aufmerksam. Endlich vernahm sie sein vertrautes Schnarchen, das aus dem Wohnzimmer die hölzerne Treppe hinaufdrang. Gleichzeitig hörte sie ihre Mutter in der Küche mit Geschirr klappern. Kira lächelte, wobei sie angestrengt ihre Zunge zwischen den
Zähnen einklemmte. Sie schlich zur Treppe und nahm jedes Mal eine Stufe, wenn ihr Vater ausatmete. Dabei gab er ein tiefes, schnodderiges Dröhnen von sich, das die Insel durchaus kippen lassen könnte. Kira war aus der Haustür gehuscht, ehe Eugene zehn Mal am Untergang ihrer Heimat gearbeitet hatte.
Noch immer war es warm draußen. Der Wind pfiff unangenehm zwischen den Häusern hindurch und fuhr unter ihre Kleidung. Die meisten trugen trotz der Hitze, die sich in den vergangenen neun Monaten kaum verändert hatte, Schals und langärmelige Jacken. Der Wind brachte Staub mit sich, der gegen die Haut prasselte.
Kira schlenderte möglichst gelassen zu Aaron hinüber, obwohl ihr Herz schneller schlug. Sie fand den Jungen ziemlich unheimlich. Warum stand er dort und starrte? Hatte sie ihm nicht deutlich genug gesagt, er solle verschwinden? Eigentlich hatte sie damit nicht nur den Rand gemeint, sondern jeden Ort auf der gesamten Insel.
»Hey, die Insel ist groß. Warum stehst du ausgerechnet hier?«, begrüßte sie ihn möglichst lässig, wobei sie ihre Arme unkoordiniert baumeln ließ. Bis auf den Jungen waren lediglich zwei Menschen auf dem Platz. Ein Schreiner hämmerte an einem der Marktstände herum und ein ruanisches Mädchen lief zwischen den Gassen auf der anderen Seite umher, ohne in die Nähe der Grenze zu kommen.
»Du bist frech«, entgegnete Aaron. Er krempelte die Ärmel seines dunkelroten Pullovers hoch, als wäre das eine Drohung. »Wollte nur sehen, ob du mit dem Teleskop zurechtkommst.«
Kira musterte ihn von oben bis unten und stellte fest, dass er mit der Schuhspitze auf der Grenze stand.
»Ja, komme ich. Ich bin schon groß.«
»Du bist sieben.«
»Ich bin acht, hörst du nicht zu?« Kira zwängte die Augen zusammen und sah ihn durchdringend an. »Du bist ein ganz schön feiges Huhn, Aaron.«
»Das hast du schon einmal gesagt.«
Während Kira sich weiter über die Grenze lehnte, wich Aaron einen halben Schritt zurück und hob die Hände, als wäre sie ein schnüffelnder Jagdhund.
»Kannst du das mal lassen?«, fluchte er.
»Feiges Huhn! Traust dich nicht mal über die Grenze!«, stichelte Kira weiter.
»Ja, weil die Grenze ganz frisch gestrichen ist.« Aaron deutete auf den Boden, die Farbe glänzte kaum noch.
»Ach was«, spottete Kira. »Dann pass auf!«
Sie hob angriffslustig die Arme und ging einen langsamen und großen Schritt vorwärts, direkt über die Linie. Überrascht schnappte Aaron nach Luft und wankte. Schon stand er genau auf der Grenze, blickte hinab und stellte verärgert fest, dass die Farbe klebrig war. Dann erkannte er Kiras süffisantes Grinsen.
»Du hast gehört, dass sich die Erwachsenen um uns sorgen«, meinte Aaron finster. Er löste seinen Fuß vom Weiß und trat zurück auf die ruanische Seite, wobei er dünne Spinnweben aus Farbe hinterließ. »Machen wir es ihnen nicht noch schwerer.«
»Zwei Worte!«, höhnte Kira. Aaron stöhnte und rollte mit den Augen, bevor sie weitersprach. »Feiges Huhn!«
»Ich bin über die Grenze gegangen, was willst du denn noch?«, entgegnete er.
»Was wohl.« Kira blähte die Backen und funkelte ihn wütend an. »Ich möchte wissen, warum mich dein Papa heute gerettet hat.«
»Mein Papa ist nett. Er hält nichts davon, dass sich unsere Völker streiten.« Aaron lächelte schelmisch. »Oder hast du etwa nicht zugehört?«
»Das meinte ich nicht«, widersprach Kira. »Eigentlich wollte ich nicht wissen, warum er mich gerettet hat, sondern warum du es nicht getan hast. Du warst doch gleich da und hättest mich auffangen können.« Innerhalb weniger Worte klang sie traurig.
Aaron erstarrte.
»Tut mir leid«, brachte er hervor. »Ich wollte dir helfen, aber—«
»Ich verstehe schon« giftete Kira. Mit einem großen Schritt trat sie zurück auf die amerikanische Seite, um sich vor Aaron aufzubauen. »Dein Leben als feiges Huhn hat dich daran gehindert.«
Mit diesen Worten stapfte sie davon. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich noch einmal umzudrehen, doch dann verschwand sie wie der sandige Wind in den Schatten.
***
Keine einzige Wolke zeigte sich am Himmel, stattdessen war der Mond groß und rund zu sehen. Es war früher Nachmittag, und Kira richtete das kleine Taschenteleskop akribisch auf den Schemen aus, der wie ein blindes Auge über sie wachte. Sie liebte es, wenn der Mond tagsüber zu sehen war.
Seit einer halben Stunde hockte sie mit unendlicher Geduld im Innenhof und hatte sich zum Ziel gesetzt, von Anfang an alles fehlerfrei zu machen. Sie drehte das Gerät richtig herum, putzte eifrig über die Linse und bewegte das Rohr manchmal einige Millimeter vor, um es dann wieder an die ursprüngliche Position zu rücken. Allmählich nahmen kühle Schatten den kleinen Innenhof ein, der hinter dem Haus ihrer Eltern lag. Zu ihrer Linken und Rechten erhoben sich baufällige Häuser, die seit der Katastrophe unbewohnt waren. Ein Amerikaner wühlte sich an diesem Nachmittag durch die lockeren Bodendielen des linken Hauses, wobei er sich nicht bemühte, leise zu sein. Ein metallenes Scheppern unterbrach Kiras Konzentration, sie konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. Ihr Blick suchte eilig den Innenhof ab und blieb an den kleinen Gemüsepflanzen hängen, die mitunter das einzige Grün waren, das