Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen


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sich ständig alle streiten«, erklärte Kira bitter.

      »Wieso, du bist auch nicht besser!«, warf Aaron ein.

      »Aaron!«, mahnte Augustin, aber sein Sohn stellte sich taub.

      »Du beschuldigst mich die ganze Zeit, ein feiges Huhn zu sein, dabei kennst du mich gar nicht. Ich glaube, du willst gar keine Freunde haben.«

      »Aaron, es reicht.«

      »Du hattest das Teleskop gar nicht wirklich verdient. Bestimmt hast du es sogar selbst kaputt gemacht!«

      »Blödmann! Jetzt sagst du, dass ich ein feiges Huhn bin! Und du kennst mich auch nicht!« Kira verschränkte die Arme und streckte ihm die Zunge entgegen.

      »Hey, es reicht! Niemand von euch ist ein feiges Huhn, ist das klar?« Augustin legte das Teleskop auf den Tresen und stellte sich wütend vor Kira und Aaron, welche die Köpfe einzogen.

      »Kira, mein Sohn ist ein tapferer, wundervoller Junge. Er traut sich zwar nicht an den Rand der Insel, aber das sagt absolut nichts darüber aus, wie mutig er ist. Klar?«

      »Ja …«, nuschelte Kira verlegen und sah zu dem Jungen im blauweißen Morgenmantel hinüber. »Entschuldigung.«

      Dieser plusterte seine Backen auf und reagierte ansonsten nicht.

      »Und Aaron«, fuhr Augustin fort, »du solltest dir trotzdem ein Beispiel an Kira nehmen. Sie spricht sehr offen, das ist eine tolle Eigenschaft. Ich wünschte, die Erwachsenen wären wie sie.« Er lächelte nachdenklich. »Aber sei nicht zu waghalsig, Kira. Du solltest nicht vom Rand der Insel fallen.«

      »Ich weiß, was du meinst«, murmelte Kira und starrte zu Boden. »Es war dumm, so weit auf den Vorsprung zu gehen.«

      »Neugierig warst du. Wäre ich an deiner Stelle auch gewesen«, berichtigte Augustin. Er griff wieder nach dem Teleskop. »Aber meistens lohnt es sich überhaupt nicht, nahe an eine Gefahr heranzutreten. Darum habe ich dir das hier geschenkt.« Er warf einen kurzen Blick auf das Teleskop. »Und darum sollte ich es reparieren.«

      Kira strahlte über beide Ohren. »Das wäre toll!«

      Der Optiker verschwand im hinteren Teil des Geschäftes, der sich hinter einigen mit Brillen gefüllten Regalen verbarg. Betreten standen Kira und Aaron nebeneinander, stur geradeaus blickend.

      »Kira, es tut mir wirklich leid, dass ich dir nicht zur Hilfe gekommen bin«, nuschelte Aaron plötzlich. »Wenn ich an einem hohen Ort stehe, machen meine Beine nicht das, was ich will. Ich will mutig sein, aber … das kann ich nicht immer.«

      »Augustin war ja da«, meinte Kira und lächelte ihn an. »Das nächste Mal passe ich besser auf.«

      »Ich auch«, versprach Aaron.

      Sie tauschten einen kurzen Blick, dann mussten sie lachen. Sei es, weil Kira mitten in der Nacht die Grenze überquert hatte, um Steine an ein Fenster zu werfen, sei es wegen des albernen Morgenmantels oder ihrer ständigen Streitereien.

      Geschäftig kehrte Augustin in den Laden zurück und begann damit, Schubladen zu öffnen. »Es ist eigenartig, irgendwo sollte ich noch passende Linsen haben«, murmelte er, mit dem Rücken zu den Kindern gewandt. Er zog eine Schublade nach der anderen auf, unzählige einzeln verpackte Linsen in allen Formen und Größen kamen zum Vorschein. »Verdammt, ich fürchte, ich habe die Linsen nicht mehr. Tut mir leid.«

      »Warte kurz«, meinte Aaron und ging in Augustins Richtung. Dieser schob hastig eine Schublade zu, fuhr herum und lehnte sich dagegen. Doch Aaron nahm ohne einen weiteren Kommentar die Treppe nach oben. Sein Vater atmete langsam aus, wobei er Kira nicht aus den Augen ließ.

      »Was ist das für ein eigenartiges Teleskop im Schaufenster?«, wollte sie plötzlich wissen.

      »Im Schaufenster? Da habe ich kein Teleskop hingestellt«, meinte Augustin verwundert, ohne sich von der Stelle zu rühren. Er sah hinüber zu der Scheibe, die allmählich vom Licht des nahenden Morgens erfüllt wurde.

      »Ach, du meinst die alte Kamera.«

      »Das ist keine Kamera«, spottete Kira. »Kameras sind viel kleiner und flacher.«

      Augustin schüttelte den Kopf. »Alles hat irgendwann begonnen, Kira. Wusstest du, dass der erste Computer der Welt einen ganzen Raum ausgefüllt hat?«

      Kira presste ihre Lippen aufeinander und verschwieg, dass sie nicht genau wusste, was ein Computer war.

      Aaron brauchte keine Minute, bis er die Treppe herunterkam und eine kleine, schwarze Schachtel in den Händen hielt. Atemlos umrundete er den Tresen und streckte sie Kira entgegen.

      »Hier, ich kann es sowieso nicht mehr gebrauchen«, meinte er verlegen. Mit großen Augen nahm Kira ihm den Karton aus den Händen und betrachtete ihn sorgfältig.

      »Ist das etwa …«

      Augustin lächelte breit, während Kira den Karton öffnete und darin ein schwarz glänzendes Teleskop fand. Es hatte unzählige weiße Punkte, die wie Sterne aussahen.

      »Vielleicht können wir es uns teilen«, schlug Aaron vor. »Ich benutze es aber nicht besonders oft, darum kannst du es mit nach Amerika nehmen.«

      Im nächsten Moment umschlang Kira seine Brust und schmiegte sich an ihn.

      »Danke, danke, danke!«, rief sie. »Aaron, du bist gar nicht übel!«

      Mit einem klickenden Geräusch drehte Augustin einen winzigen Schlüssel um und zog ihn aus der Schublade, gegen die er sich gelehnt hatte.

      »Kira, du solltest langsam heimkehren«, sagte er sanft. »Es wird heller. Ich möchte nicht, dass du auf dieser Seite der Insel erwischt wirst.«

      Das Mädchen machte ein betroffenes Gesicht. »Aaron, wie sollen wir denn das Teleskop teilen, wenn ich nicht herkommen darf?«

      »Ich kenne einen tollen Ort, da können wir uns treffen. Die Erwachsenen werden uns nicht finden«, versprach er. Er warf Augustin einen vielsagenden Blick zu und erhielt ein unschuldiges Lächeln zur Antwort. Kira klemmte sich den Karton unter ihren Arm und strahlte. Jetzt wurde es mit jeder Minute heller auf der Straße, als hätte Kiras Lächeln die Sonne aus ihrem Schlaf geweckt. Die beiden Kirchtürme, jeweils einer in Amerika und Ruan, schlugen sechs Mal und waren dabei völlig im Einklang. Für Kira bedeuteten die Glocken nur eines: Dass es Zeit war, möglichst unauffällig in ihr eigenes Bett zu kriechen.

      Kapitel 04

      »Bleib gefälligst stehen!«, rief Kira lachend, doch Aaron war längst wieder aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Sie rannte an der silbernen Außenwand des Towers entlang, die über und über mit halb abgerissenen Plakaten bedeckt war. Wenige Meter über ihren Köpfen fand sich die Zahl 317 in großen Lettern aus schwarzer Farbe. Es war Abend, gleich mussten sie auf ihre Seite der Grenze zurückkehren. Trotzdem war Kira fest entschlossen, Aaron noch einmal zu fangen. Sie blieb stehen, überlegte kurz und lief in die entgegengesetzte Richtung um den Tower herum. Es brauchte die gesamte amerikanische Bevölkerung, um ihn zu umfassen.

      Der Tower hatte ihre Völker gerettet. Jede Insel besaß einen, jeder befand sich genau in der Mitte. Kira blieb stehen, legte den Kopf in den Nacken und musterte die riesige Nadel. Die Spitze konnte sie von hier unten nicht erkennen.

      Anfangs hatten die Bewohner der Insel noch mit dem Gedanken gespielt, den Tower mit einem blühenden Park zu umgeben, um ihr Überleben zu feiern, aber erstens gab es dafür zu wenig Wasser und zweitens zu viel Hass.

      Die Erde war vor über einem Jahr von einem alles vernichtenden Sturm heimgesucht worden, der so gewaltig war, dass die Kontinente verschwanden. Das magnetische Feld des Turms hatte sich über die Stadt gelegt und ihr kleines Stück Land gerettet. Je näher jemand am Tower lebte, desto sicherer war er. Hätte Kira das vor der Katastrophe gewusst – sie war sich sicher, dass sie dann so viele Menschen wie möglich hergeholt hätte, um sie zu retten. Doch ihr Vater hatte ihr erklärt, dass die Regierung bis zum bitteren Ende über die Funktion der