Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen


Скачать книгу

Katastrophe hatte das Land um das Feld herum abgetragen. Die Erwachsenen nannten es Erosion, was offenbar etwas war, das sonst viele Jahrhunderte dauerte. Leider wusste niemand, wie es unter ihrer Insel aussah, und wie stabil sie tatsächlich war.

      Aaron tauchte in Kiras Blickfeld auf. Er lugte vorsichtig an der Kante des Towers entlang und grinste, sein verschwitztes Gesicht spiegelte sich auf der glatten Oberfläche. Vor einigen Tagen war ihm sein erster Eckzahn ausgefallen. Seit den frühen Morgenstunden versuchte er, den anderen wackelnden Eckzahn durch Herumtoben und ständige Bewegungen der Zunge ausfallen zu lassen. Auf ein Experiment, das Kira vorgeschlagen hatte und eine Türklinke sowie eine Schnur beinhaltete, hatte er aber angeblich »keine Lust«. Kira hatte sich einen Kommentar über ängstliches Geflügel verkniffen.

      »Gibst du auf?«, fragte er.

      Kira schüttelte den Kopf, rührte sich aber nicht. Aaron schien mit sich zu ringen, dann entschied er sich dafür, seinen Sicherheitsabstand aufzugeben.

      »Ist alles in Ordnung?«, fragte er im Näherkommen.

      »Habe gerade an den Sturm gedacht«, meinte Kira betrübt.

      »Oh«, machte Aaron. »Das passiert mir auch oft, wenn ich hier bin.« Nachdenklich musterte er die weiße Linie, die sich zwischen ihnen auf dem Boden befand. Kira stand auf der ruanischen Seite, Aaron auf der amerikanischen.

      »Ich bin froh, dass wir überlebt haben«, meinte er unvermittelt.

      »Ich auch.« Kira verschränkte die Arme. »Aber ich würde gerne wissen, wie unsere Insel aussieht. Warum sie wackelt.«

      »Du … solltest darüber nicht zu viel nachdenken, das macht einem nur Angst.«

      Kiras Augen blitzten auf. »Angst? Ha! Ich habe keine Angst.«

      Mit diesen Worten übertrat sie die Grenze und schlug mit der flachen Hand nach Aarons Schulter. »Hab dich!« Damit rannte sie an ihm vorbei, immer entlang des Towers.

      »Ach, verdammt!«, hörte sie Aaron noch fluchen, dann stolperte sie in die Krähe.

      »Kiiira, was für ein Zufall!«, krächzte Celia. »Was höre ich da? Du hast keine Angst?«

      Hinter ihr tauchte ihre beste Freundin Finja auf, die zwar älter und größer als Celia war, sich aber stets mit einem buckeligen Rücken kleiner machte und nie sprach. Sie war wie Celias Haustier – ein Wurm, den die Krähe verschmäht hatte, und der ihr seitdem dankbar war. Ein anderer Gedanke drängelte sich Kira auf. Sie sollte weglaufen, bevor Celia mitbekam, dass sie mit einem ruanischen Jungen spielte.

      »Du wirst ja ganz verrückt, Kiiira«, flötete Celia. »Warum sonst solltest du Selbstgespräche führen?«

      »Habe ja sonst niemanden zum reden«, giftete Kira. Sie fragte sich, wo der Rest von Celias Bande war. Für gewöhnlich lief sie nicht nur mit ihrem Schoßhündchen herum.

      »Das ist ja überraschend«, verkündete eine Stimme hinter ihr.

      »Oh nein«, entfuhr es Kira. »Raik, lass ihn los!«

      Ein massiger Zwölfjähriger mit kurzem blondem Haar hatte Aaron gepackt und zu Celia geschleppt. Raik überragte ihn um einen Kopf. Seine Lider waren dick wie die eines Elefanten. Er sah aus, als fiele es ihm schwer, die Augen überhaupt offen zu halten, was ihm einen gleichmütigen Blick verlieh. Aaron wehrte sich zwar, hatte damit aber wenig Erfolg.

      »Das ist ein ruanischer Bursche, richtig?«, bemerkte Celia. Wind fuhr durch ihr schwarzes Haar, das davon jedoch vollkommen unbeeindruckt blieb. Ein Reif und dutzende schwarze Spangen hielten die Frisur fest, als bestünde auf der Insel Helmpflicht.

      »Bist du Celia?«, wollte Aaron ächzend wissen und warf Kira einen vielsagenden Blick zu. Celias Krähengesicht bekam unzählige rote Flecken.

      »Du hast ihm von mir erzählt!?«

      Kira behielt ihre schlagfertige Antwort für sich. Solange Aaron in Raiks Schwitzkasten hing, hielt sie besser die Füße still. »Was willst du von uns?«, fragte sie stattdessen.

      »Kannst du dir das nicht denken? Ist ja widerlich, dass du dir auf der ruanischen Seite Freunde suchst, nur weil bei uns keiner etwas mit dir zu tun haben will.« Ihr höhnischer Tonfall verriet mehr über die Wahrheit als ihr Gesicht.

      »Ein bisschen?«, wiederholte Aaron. »Du hast ihr Teleskop zerstört!«

      Kira wünschte sich in diesem Moment, dass Raik ihn zumindest kurz zum Schweigen brachte.

      »Warte mal, ich kenne dich doch!«, rief Aaron plötzlich. »Du bist das Mädchen, das mit Malik herumrennt!«

      Offenbar hatte Aaron ins Schwarze getroffen. Celia sog scharf die Luft ein, und auch die sonst stille Finja gab ein empörtes Geräusch von sich.

      »Malik?«, hakte Kira nach.

      »Das ist der große Bruder von Marv, meinem besten Freund.«

      »Der Lockenkopf, der die Erwachsenen gewarnt hat?«, überlegte Kira. Dann begriff sie, was ihr Freund eigentlich sagen wollte. »Aber Marv ist ein Ruaner!«

      »Na und?«, keifte Celia. Sie trat zwischen Aaron und Kira, als könnte sie auf diese Weise nicht nur das Gespräch, sondern auch ihre Gedanken unterbinden. »Natürlich kann ich mir Freunde auf beiden Seiten zulegen, ich kann gar nicht genug haben!«

      »Entschuldige«, höhnte Aaron. Er vollführte eine divenhafte Handbewegung. »Bei den Ruanern kennt dich niemand. Wenn Kira mir nicht von dir erzählt hätte – Mann, lass mich endlich los!«

      Raik entspannte seine kräftigen Oberarme etwas, wodurch Aaron wieder durchatmen konnte. Dafür erhielt der Hüne einen boshaften Blick von der Krähe.

      »Malik kennt mich, das reicht«, meinte Celia zu Aaron. Plötzlich tippte Finja ihrer besten Freundin auf die Schulter. Celia reagierte mit einem abweisenden Zucken, als wäre eine Kakerlake an ihrer Bluse hinaufgekrabbelt.

      »Was ist?«, fauchte sie gereizt. Finja ließ sich davon nicht verunsichern – vielleicht war sie es sogar gewohnt – und deutete auf die ehemalige Hauptstraße, welche zum Marktplatz führte. Zwischen den Häusern traten Khan Elliott von Amerika und Basílissa Hana von Ruan hervor, begleitet von jeweils zwei Wächtern. Niemand konnte sich erinnern, wer den beiden die Macht über ein Volk gegeben hatte, aber seit sie das Sagen hatten, liefen die Streitereien strukturierter ab. Sie wurden zwar nicht weniger, aber immerhin kam niemand zu Schaden.

      »Gott, wie die Basílissa wieder übertreibt«, ächzte Celia herablassend. Sie meinte damit die weiten Gewänder und den auffälligen Rock, mit dem Hana sich vom Rest der ruanischen Bevölkerung unterschied. Sie hatte zudem olivfarbene Haut und goldblondes Haar, was sie im Sonnenlicht noch erhabener aussehen ließ.

      »Sie ist unsere Basílissa, also halt die Klappe. Sonst sage ich was ich über den absolut albernen Namen eures Khans«, knurrte Aaron.

      »Albern?«, wiederholte Celia. Sie sprach umso lauter, je näher die beiden Anführer kamen. Ausnahmsweise stritten sie sich nicht, stattdessen schwiegen beide ernst.

      »Kinder!«, begrüßte Hana sie, als müsse sie unbedingt in Worte fassen, was sich vor ihren Augen befand. »Hallo, Aaron!«

      Aaron nickte zur Begrüßung. Die Tatsache, dass Raik ihn immer noch festhielt, schien die Basílissa nicht zu beunruhigen. »Darf ich euch fragen, was ihr hier gerade tut?«

      »Nur eine kleine Diskussion, sonst nichts«, beschwichtigte Celia sie mit einem Engelslächeln.

      »Das sah eher nach einem Streit aus«, meinte Elliott. Heute trug er einen großen, ledernen Cowboyhut. Offenbar hatte er Probleme mit seiner Frisur gehabt, denn die Sonne war nicht kräftig genug, um das Tragen eines Hutes zu rechtfertigen. »Wir wollen nicht, dass sich die Völker weiterhin streiten. Es ist besser, wenn ihr jeweils auf eurer Seite der Grenze bleibt.«

      »Kommt bitte mit uns«, verlangte Hana geduldig. Sie wandte sich Raik zu, schlagartig verdunkelte sich ihr Blick. »Und du lässt Aaron gefälligst