Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen


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Insel schlief, war es nicht gerade klug, ein Optikergeschäft zu betreiben. Obwohl diese klare Nacht zugegebenermaßen perfekt dafür war, ein Teleskop zu erwerben. Unschlüssig ging Kira einige Schritte zurück und betrachtete die Fenster des Hauses. Augustin wohnte bestimmt oberhalb des Geschäftes. Sie hatte keine andere Wahl, als ihn aufzuwecken. Sobald die Sonne aufging, konnte ein halbwegs intelligenter Ruaner feststellen, dass sie auf dieser Seite nichts verloren hatte.

      Etwas hilflos sah sie sich um und versuchte, kleine Steine auf dem Boden zu entdecken. Sie ging in die Hocke und tastete sich durch die Dunkelheit, wobei die Münzen in ihrem Lederbeutel klimperten. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, Augustin seinen Lohn auf unkonventionellem Wege zu übergeben, da fand sie eine Handvoll kleiner Kiesel.

      Sie wählte einen mittelgroßen, ovalen Stein für ihren ersten Versuch. Kira entschied sich für das rechte Fenster, zielte und warf. Das Geräusch konnte selbst sie kaum wahrnehmen. Wie sollte jemand davon aufwachen?

      Sie ließ die Steinchen unwirsch zwischen ihren Fingern kreisen, dann schleuderte sie alle auf einmal gegen das Fenster. Ein kurzer Regenschauer ergoss sich darüber, trotzdem regte sich im Inneren nichts. Wütend suchte Kira nach einer Alternative.

      Sie fand vor dem Schaufenster einen größeren Stein, der wie ein Ball in ihrer Hand lag. Ihre Zungenspitze lugte zwischen ihren Lippen hervor. Kira kniff angestrengt die Augen zusammen und steckte all ihre Kraft in den Wurf.

      Die Scheibe zersplitterte krachend, Scherben fielen vor ihre Füße. Kira zuckte zusammen, dann hörte sie jemanden fluchen – allerdings aus dem linken Zimmer. Dort wurde eine Flamme entfacht, der Schein einer flackernden Lampe nahm den Raum ein. Alles in Kira schrie danach, zu verschwinden, aber ihre Füße waren wie festgenagelt. Das Licht verließ das linke Zimmer, um gleich darauf im rechten aufzutauchen. Jemand fluchte erneut, und Kira glaubte, die Stimme zu erkennen. Im nächsten Moment sah sie Aaron, der wutentbrannt in der zerbrochenen Scheibe auftauchte und auf Kira herunterstarrte.

      »DU!«, rief er aus. »Was fällt dir ein!«

      »Ich, ähm, habe das Ei gefunden, das du gelegt hast!«, entgegnete sie. »Es tut mir leid, dass ich damit euer Fenster kaputt gemacht habe, wirklich!«

      »Willst du dich für irgendetwas rächen oder so? Man geht nicht zu fremden Leuten und wirft ihnen die Scheiben ein!«

      »Ich habe mich doch entschuldigt!«, rief Kira. »Außerdem ist dein Papa Optiker, ihr habt bestimmt genug Glas da!«

      Einige Häuser weiter öffnete sich ein Fenster. »Ruhe, ihr blöden Blagen! Wir wollen verdammt nochmal schlafen!«

      »Dann halt den Mund!«, brüllte Aaron. Er hatte die Lampe abgestellt und das Fenster aufgestoßen, wobei sich eine Scherbe aus dem Rahmen löste und klirrend in einem leeren Blumenkasten landete. Der Junge beugte sich vor, um Kira besser sehen zu können.

      »Was willst du?«, fragte er unwirsch.

      Hastig zog sie das Teleskop aus dem Beutel hervor. »Jemand hat es kaputt gemacht, dein Papa ist der Einzige, der es reparieren kann.«

      Aaron stöhnte. »Und jetzt willst du, dass ich ihn wecke, richtig?«

      »Das wäre furchtbar nett«, meinte Kira. »Dann kaufe ich dir auch ab, dass du kein feiges Huhn bist.«

      »Was soll das denn schon wieder!? Meinst du, ich traue mich nicht, meinen eigenen Vater zu wecken?« Aufgebracht wedelte er mit den Händen in der Luft herum. Kira hob die Schultern und machte ein unschuldiges Gesicht.

      »Verdammt, mir reicht es!«, fluchte Aaron und schloss das Fenster. Seinem Blick war anzumerken, dass ihm die Sinnlosigkeit dieser Aktion zu spät auffiel. Er starrte durch die zersprungene Scheibe in den Morgen und atmete langsam aus. Dann stieß er das Fenster wieder auf, betrat mit Schwung das Fensterbrett und nahm plötzlich den Rahmen ein.

      »Siehst du! Ich bin kein feiges Huhn!«, rief er.

      »ABER DAFÜR BIST DU VERDAMMT LAUT!«, brüllte der Nachbar so deutlich, dass vermutlich auch alle anderen Bewohner der Ladenstraße aufgewacht waren. Aaron verkniff sich seinen bissigen Kommentar, stattdessen wurde er bleich.

      »Wow, in einem Fensterrahmen kann ich auch stehen«, rief Kira unbeeindruckt. Aaron hingegen krallte sich fester in das Holz des Rahmens, als plötzlich zwei Hände seine Hüfte umfassten.

      »Was zum Teufel tust du da?«

      »Papa!« Aaron ließ sich erleichtert zurückfallen, was sein Vater mit einem gedämpften Stöhnen quittierte.

      »Uff, mit wem sprichst du?« Ein unausgeschlafenes Gesicht tauchte im Fenster auf. »Oh. Hallo, Kira!« Augustin fragte gar nicht erst, was sie auf dieser Seite der Insel verloren hatte. »Aaron, wir unterhalten uns später. Geh bitte runter und öffne ihr die Tür.«

      Widerwillig verschwand Aaron, begleitet von unzufriedenem Grummeln.

      »Die Scheibe ist ja kaputt«, bemerkte Augustin matt.

      »Es tut mir sehr leid, wirklich!«, beteuerte Kira ängstlich. »Ich wollte nur–«

      »Alles ist gut, ja? Komm erst mal herein, dann sprechen wir in Ruhe darüber.« Augustin lächelte und war im nächsten Moment nicht mehr zu sehen.

      Im Geschäft wurde eine elektrische Lampe entzündet, die von den unzähligen Gläsern gespiegelt wurde. Die Tür schwang auf und Aaron erschien darin. Stumm bedeutete er Kira, einzutreten. Er trug einen blau-weiß-gestreiften Morgenmantel und Filzpantoffeln, sein dunkles Haar ähnelte einer breitgetretenen Wiese. Kira trat ein, in der Hoffnung, dass Augustin so freundlich war wie bisher.

      Die elektrische Lampe tauchte die Mitte des Geschäfts in grelles Licht, sodass sie einige Male blinzeln musste, bevor sie sich daran gewöhnt hatte.

      In ihrer Hälfte gab es viele Regale, eine kleine Theke zur Linken und eine Sitzecke aus gut erhaltenen Ledersesseln zur Rechten. Die Modelle lagen in Plastikhalterungen, die besonders teuren auf absolut staubfreien Holzregalen. Die Preise konnte sie nicht entziffern, aber Kira wusste von der Lesebrille ihrer Mutter, dass diese so viel wie acht Mahlzeiten gekostet hatte. Immerhin teilten sich die Völker eine gemeinsame Währung, wobei die meisten Einwohner mittlerweile zum Tauschhandel übergegangen waren. Nur diejenigen, die fest mit einer Rettung durch eine nicht zerstörte Großnation rechneten, häuften das Geld an wie Eichhörnchen ihre Nüsse. Die wenigsten Händler nahmen darum noch Geld an. Kira hatte auf die Schnelle nichts für den Tausch gefunden, darum hoffte sie einfach, dass ihre Dollarmünzen für Augustin reichten.

      »Es ist ganz schön mutig, auf die andere Seite der Grenze zu schleichen«, meinte Augustin. Kira ging ihm entgegen, als er in seinem blauen Morgenmantel das Geschäft betrat. Er verlor kein Wort darüber, wie dumm und gefährlich das war. Es war mutig. In Kira entfachte das Freude, doch gleichzeitig schämte sie sich für ihren Besuch.

      »Es tut mir leid, dass ich das Fenster kaputt gemacht habe«, beteuerte sie abermals. »Ich wollte das nicht, wirklich! Ich brauche Ihre Hilfe.«

      »Kira, du darfst mich einfach duzen und Augustin nennen«, meinte dieser und zwinkerte ihr zu. »Warum brauchst du denn meine Hilfe?«

      Sie kramte in dem Lederbeutel und holte das Teleskop hervor. Es machte ein besorgniserregendes Geräusch, ähnlich einer metallenen, fast leeren Spardose.

      »Oh nein«, entfuhr es Augustin. »Wie konnte das denn passieren?« Sein Tonfall schwankte zwischen Neugierde, Wut und echter Trauer. Kira wurde schwer ums Herz.

      »Ein Mädchen hat es kaputt gemacht, weil ich es ihr nicht geben wollte«, erklärte sie und versuchte, nicht schon wieder zu weinen. »Meine Mama sagt, dass du der Einzige auf der ganzen Insel bist, der es reparieren kann.«

      »Was für ein gemeines Kind«, entfuhr es Augustin, als wäre er selbst erst acht Jahre alt. Er hob das Teleskop vorsichtig an und neigte es nach vorne, wobei ihm ein Stück Glas entgegenrutschte.

      »Celia ist gemein und stark. Und viel älter als ich!«, verteidigte Kira sich. »Sie hat ganz viele Freunde, die sind sogar eine Bande!«

      »Celia,