Jenny Karpe

Zwei Kontinente auf Reisen


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was Augustin kurz grinsen ließ. »Ich wollte, dass er weggeht! Ich wollte nur die Insel sehen, die zerbricht!«

      »Kind, die Inseln können nicht zerbrechen. Du und deine blühende Fantasie!« Er warf Augustin einen kumpelhaften Blick zu, der in etwa »Kinder, nicht wahr?« bedeutete, ehe ihm einfiel, dass Augustin ein Ruaner war.

      »Ich habe es auch gese—«, begann Aaron, doch sein Vater ließ ihn verstummen, indem er ihm sanft eine Hand auf die Schulter legte.

      »Shh«, machte er. »Es ist zwecklos.« Augustin zwinkerte Kira zu, dann schob er Aaron nachdrücklich von den Amerikanern fort. Während sie den beiden nachsah, schloss Kira ihre Hände fester um das Teleskop.

      »Woher hast du das?« Eugene beugte sich vor und betrachtete kritisch die filigranen Malereien im Metall. »Hat dir das dieser Spinner gegeben?«

      »Gefunden«, haspelte Kira. Sie schluckte schwer und sah Eugene an, ohne sich zu bewegen. Er war wie ein übergroßes Spinnenwesen, das sie in einen klebrigen Kokon gewickelt hatte. Eugene wusste, dass sie log, aber er hatte keine Gelegenheit, darauf einzugehen.

      »Die Grenze verläuft nicht genau durch das Auffangbecken, das wäre absurd!«

      Die Köpfe auf dem Markt drehten sich in Richtung der Gasse, aus der Khan Elliott und Basílissa Hana streitend zurückkehrten. Obwohl sie sich große Mühe gaben, stets eine gewisse Erhabenheit auszustrahlen, war davon im Moment wenig übrig. Der kräftige Wind an der Kante hatte Elliotts Frisur vollkommen zerstört. Der Khan schüttelte gerade den Kopf.

      »Es muss sein, sonst zetert ihr weiterhin ständig herum, dass wir euch das Wasser wegnehmen würden.«

      Hana blieb stehen und öffnete ihren zartroten Mund einige Male, dann ließ sie genervt die Wut aus ihrer Nase entweichen und hob den Kopf.

      »Volk von Ruan, Volk von Amerika!«, rief sie und stemmte die Arme in die Hüften. »Es ist wahr! Unsere Nachbarinsel ist gerade zerbrochen und zu großen Teilen im Meer versunken. Das ist jedoch kein Grund zur Beunruhigung!«

      Alle Anwesenden, egal ob Amerikaner oder Ruaner, waren wie erstarrt. Niemand glaubte der Basílissa ein Wort, nicht einmal ihre eigenen Bürger.

      »Kein Grund zur Beunruhigung?«, wiederholte Eugene. »Ihr habt selbst gesagt, dass die Inseln nicht zerbrechen können! Wer weiß, was die dort drüben falsch gemacht haben – vielleicht haben sie sich nur falsch bewegt? Niemand weiß, wohin wir noch gehen können! Wir müssen unsere Völker auf den beiden Hälften lassen. Wenn wir weiterhin planlos umherlaufen, wird das üble Konsequenzen haben.«

      »Ach, denen glaubst du?«, grummelte Kira. Sie strampelte unruhig und versuchte erneut erfolglos, sich aus dem starken Griff ihres Vaters zu lösen. »Lass mich los!«

      »Damit du wieder beinahe eine Klippe herunterfällst? Das kannst du vergessen, Kind! Und jetzt benimm dich endlich, das ist ja kaum auszuhalten.«

      »Wie war das?« Hana trat näher und betrachtete Kira eingehend. Besorgt sah sie dabei zu, wie sich das Mädchen erfolglos abmühte. Das Blut an ihrem Bein war noch nicht getrocknet. »Du wärst beinahe von der Kante gefallen?«

      »W-war mein Fehler, es tut mir leid!«, jammerte Kira. Sie gab auf und hing schlapp in Eugenes Armen. »Mich hat euer Streit gestört, ich … wollte das nicht mehr hören. Als ich ganz nah am Meer war, habe ich nicht mehr verstanden, worüber ihr streitet.«

      Die anderen Erwachsenen lauschten Kira schweigend. Sie waren regelrecht ergriffen, obwohl sie ahnten, dass es keine Viertelstunde dauern würde, bis sie erneut einen Streit begannen. Spätestens beim nächsten Regen würde alles von vorne losgehen.

      »Mädchen, bitte! Wir streiten uns ab sofort nicht mehr.« Die Basílissa beugte sich zu Kira vor und ignorierte den spöttischen Blick von Khan Elliott. »Erwachsene sind manchmal doof, oder? Die streiten sich oft. Wir haben beschlossen, dass wir noch heute eine Grenze ziehen. Ihr Kinder werdet sie nicht mehr übertreten, und die gefährlichen Bereiche werden wir mit Zäunen absperren.«

      Kiras Augen weiteten sich vor Schreck. Sie öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch Elliott schnitt ihr das Wort ab.

      »Also, meine Damen und Herren – die Grenze zwischen Ruan und Amerika läuft durch den Marktplatz, den Tower und das Regenauffangbecken. Auf der ruanischen Seite sorgen die Getreidefelder für die Grundnahrung, die Amerikaner werden auf ihre Gewächshäuser zugreifen. Es ist sinnvoll, dass wir den regelmäßigen Markt fortführen, um eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten. Die verbleibenden Medikamente werden je nach Bedürfnissen verteilt.« Khan Elliott sah sich nach Beifall heischend um, niemand reagierte. Der Schreck saß noch immer in allen Knochen.

      »Ich weiß, es ist heute etwas viel«, beschwichtigte Hana. »Die Tatsache, dass eine Insel zerbrechen oder kippen kann, ist beängstigend. Aber wir können das Problem in den Griff bekommen, wenn wir uns voneinander fernhalten. Die vergangenen neun Monate haben gezeigt, dass wir nur so fortbestehen können – wir haben akzeptiert, dass wir uns nicht akzeptieren können.« Ausnahmsweise schienen der Khan und die Basílissa einer Meinung zu sein, was seit der Katastrophe beinahe nie vorgekommen war. Kira fragte sich, wie sie so ruhig bleiben konnten.

      »Unser besonderes Augenmerk legen wir auf die Kinder«, pflichtete der Khan der Basílissa bei. Er deutete auf Kira, die bleich vor Entsetzen die Luft anhielt. »Sie sind unsere Erben. Sollten wir keine Rettung bekommen, müssen wir uns darauf einstellen, mit ihnen die menschliche Rasse fortbestehen zu lassen.« Ein spöttisches Grinsen überfiel ihn. »Nun, wenn die ruanischen Kinder wild herumlaufen, ist das natürlich nicht mein Problem. Aber – Amerikaner! – wir sind gezwungen, unsere Kinder nicht mehr mit denen von der anderen Seite spielen zu lassen!«

      Hana warf ihm einen abschätzigen Blick zu, ihre Fäuste ballten sich. »Es reicht allmählich«, zischte sie. »Lass es nicht wieder eskalieren.«

      »Bitte, bitte«, machte Elliott und hob abwehrend beide Hände. Eine seiner öligen Haarsträhnen rutschte ihm in die Stirn. »Lasst uns die Grenze ziehen. Habt ihr Farbe, Ruan?«

      »Das ist nicht wirklich euer Ernst!«, rief Augustin. Mit wehendem Schal trat er zwei Schritte vor und bedrohte den Khan mit seinem Zeigefinger. »Ihr wollt tatsächlich die letzte Möglichkeit begraben, Frieden zwischen unseren Völkern zu schaffen?«

      »Frieden?«, wiederholten Elliott und Hana synchron.

      »Ich bitte dich, Augustin«, spottete die Anführerin der Ruaner. »Wir hatten genügend Zeit, um zu verstehen, dass es nicht funktioniert. Vielleicht sitzen wir noch lange auf dieser Insel fest – und jeder weitere Tag mit den Amerikanern ist eine Qual.«

      »Beruht auf Gegenseitigkeit«, merkte Elliott an. Er schaffte es nicht, die Strähne zurück zu den anderen zu streichen. Immer wieder glitt sie ihm in die Stirn, was ihn offenbar ebenso wahnsinnig machte wie die Anwesenheit der Basílissa. Kira konnte beide nicht leiden.

      Da zog Aaron seinen Vater am Ärmel. Er sah zu ihm hinauf und schüttelte sanft den Kopf. »Hör auf, Papa. Selbst Kira hat gesagt, dass sie nichts mit mir zu tun haben will.«

      »Ja, weil du feige bist!«, kommentierte Kira lautstark, wobei sie vergaß, dass das Geschenk, das sie noch immer umklammert hielt, von Augustin stammte.

      »Das reicht jetzt!« Eugene drehte sich um und trug die fluchende Kira davon. Sie konnte nur noch sehen, wie Elliott die Arme verschränkte und erst zu Augustin, dann zu Hana sah.

      »Also, was ist?«, fragte der Khan. »Habt ihr noch Farbe?

      Kapitel 02

      Die Grenze leuchtete als helle Linie auf dem Marktplatz, noch ehe der Rest der benachbarten Insel in die Fluten gestürzt war. Kira saß in ihrem Zimmer fest. Ihr Vater hatte ihr verboten, zurück an die Kante zu gehen. Sie wohnten eine schmale Gasse vom Marktplatz entfernt, die Stadt versperrte die Sicht zum Meer. Wenn Kira sich Mühe gab, konnte sie allerdings ein kleines Stück der weißen Farbe sehen, die zwischen den Häusern aufblitzte. Dafür musste sie sich auf ihren wackeligen Schreibtisch