Serena S. Murray

Celeste - Siehst du mich?


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Decken glitzerten im Licht der Flammen, die ihr als Wegweiser dienten.

      In ihrer Handfläche formte sie eine weitere kleine Flamme, die zum einen mehr Licht bot, zum anderen zur Verteidigung eingesetzt werden konnte. Sie war eine der wenigen Dunklen, die das Feuer beherrschten. So, als ob sie auf der Jagd wäre, bewegte sie sich lautlos vorwärts. All ihre Sinne waren geschärft. In ihren Gedanken hörte sie einen Adler schreien, was ihr ein vergnügtes Grinsen entlockte, trotz der Gefahr, in der sie schwebte.

       Azia, was ist los? Du hast doch nicht etwa Angst um mich?

      Als Antwort erhielt sie einen warnenden hellen Schrei des Adlers. Wie alle Dunklen besaß auch Celeste eine besondere Verbindung zu einem Tier, das ihr bei der Jagd half. Sie hatte Azia als Küken vor dem sicheren Tod gerettet, als sie sie verlassen in ihrem Nest fand. Seit diesem Tag kümmerten sie sich gegenseitig umeinander. Sobald ein Seelenfänger mit seinem Tier eine besondere Verbindung eingegangen war, konnte er oder sie das Tier verstehen. Natürlich nicht mit Worten, aber die brauchte Azia auch gar nicht. Celeste spürte den Unmut der Adlerdame. Sobald sie die Stimme ihrer Tante hörte, konzentrierte sich Celeste wieder voll und ganz auf ihre Aufgabe.

      Nur noch eine Tür trennte sie von Thalia, der Schwester ihres Vaters. Ohne ein Geräusch zu verursachen, drückte sie die Klinke herunter. Es war egal, ob auch diese Tür einen Laut von sich geben würde. Celeste konnte jetzt ohne Antworten nicht einfach wieder umdrehen. Doch zum Glück glitt die schwere Holztür ohne ein Geräusch auf und gab somit den Blick auf ihre Tante frei, die vor einer deckenhohen Sanduhr stand.

      „Da bist du ja endlich. Ich habe schon gedacht, du kommst gar nicht mehr“, begrüßte ihre Tante sie. Sie stand mit dem Rücken zur Tür und konnte Celeste eigentlich nicht sehen, aber Thalia war schon immer etwas anders gewesen. Sie war sozusagen das schwarze Schaf in der Familie. Oftmals verwirrte sie die Menschen mit ihren kryptischen Worten.

      Auch Celeste wurde von klein an beigebracht, sich lieber von ihrer Tante fernzuhalten. Doch mittlerweile war sie erwachsen und an kein Verbot ihrer Eltern gebunden, das sie nicht selbst befolgen wollte.

      „Du hast mich also erwartet?“ Thalia nickte, drehte sich aber noch immer nicht um. Die Energie im Raum vermittelte Celeste das Gefühl von Angst und Verwirrung.

      „Gut. Dann kannst du mir ja ein paar Fragen beantworten. Was machst du hier unten? Und warum ist eine Helle hierher geflohen?“

      „Weil die Welt untergehen wird.“ Celeste lachte trocken auf.

      „Das ist der Grund? Und woher weißt du das?“ In ihren Gedanken stieß Azia einen warnenden Laut aus, doch sie ignorierte den Adler.

      Endlich drehte Thalia sich um. Erschrocken wich Celeste zurück. Die sonst so anmutige und schöne Frau sah aus wie ein Abbild ihrer Selbst. Ihre Haut war fahl, die Haare glanzlos und ungepflegt und unter den Augen trug Thalia dunkle Augenringe.

      „Ich sehe es seit Monaten in meinen Träumen. Niemand wollte mir zuhören. Nicht einmal mein eigen Fleisch und Blut.“

      Damit musste wohl Celestes Vater gemeint sein. Der stolze Schlossherr war genauso dickköpfig wie sie selbst und hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass er seine Schwester als nicht richtig im Kopf ansah. Bei dem Anblick, den Thalia im Moment bot, konnte sie ihm im Stillen nur zustimmen. Und doch gab es da die Stimme in ihr, die die Worte ihrer Tante nicht so einfach abtun konnte.

      „Warum bist du hier? Weil deine Neugier dich antreibt, richtig? Ich war einst genau wie du. Begierig, die Geheimnisse der Welt zu erfahren.“ Als Thalia sich umdrehte und wieder auf die Sanduhr schaute, die zur Hälfte durchgelaufen war, wurde ihre Stimme leiser, aber nicht weniger eindringlich.

      „Die Menschen sind so darauf bedacht, dass sie über allem und jedem stehen. Sie können sich nicht vorstellen, dass sich etwas ändert. Etwas, das das gesamte Gefüge durcheinander bringt. Ich habe gesehen, dass eine Helle ihre Erinnerung an ihr altes Leben wiedererlangt hat.“

      Wie alle wusste auch Celeste, dass die Seelen eingefangen wurden, damit sie in einer anderen Welt wiedergeboren werden konnten. Passierte das nicht, konnten sie einigen Schaden in Edrè anrichten.

      „Sie ist auf der Suche nach einem Weg in ihr altes Leben. Und sie hat es fast geschafft. Jemand hilft ihr, ich weiß nur nicht, wer.“ Frustriert ballte Thalia die Hände zu Fäusten.

      „Ich habe diese Sanduhr erbaut, um die Zeit abzuschätzen, die uns noch bleibt, unseren Untergang zu verhindern. Die Hellen helfen mir, indem sie einen Teil ihrer Energie abgeben. Nur so kann der Sand weiterlaufen.“

      Da Celeste noch nie davon gehört hatte, dass die Hellen jemandem halfen, war das ein weiterer ungewöhnlicher Faktor. Eine eisige Faust griff nach ihren Eingeweiden. Sie konnte die Angst beinahe auf ihrer Zunge schmecken. Also startete sie einen letzten Versuch, um das Unmögliche zu begreifen.

      „Wenn das stimmt, dann solltest du dich an die großen Häuser wenden. Sie müssen bei dem kleinsten Beweis einer Gefahr etwas unternehmen, so steht es in den alten Verträgen.“

      Als ihre Tante sie direkt anschaute, konnte sie eine bleierne Traurigkeit in ihren Augen erkennen.

      „Ich habe es versucht, doch meine Träume reichen nicht als Beweis aus. Ich lebe seit Jahren hier unten, verborgen vor der Welt dort draußen. Wenn man anders ist, dann ist man meistens auch auf sich allein gestellt. Sag, Celeste, hast du in den letzten Tagen bemerkt, dass sich immer mehr Angriffe der Monster an den Grenzen häufen? Dass die Waldtiere nach und nach in Richtung Wüste fliehen? Weg vom Berg?“

      Widerstrebend nickte Celeste. Diese Information wurde den Seelenfängern vor zwei Tagen in einem Treffen mitgeteilt. Doch niemand durfte ein Wort darüber verlieren, um keine Panik auszulösen. Dass Thalia davon wusste, besiegelte Celestes Gefühl, dass an der dunklen Vorahnung etwas Wahres dran sein musste.

      „Auch wenn du mir nicht gänzlich traust, kannst du das Gefühl nicht abschütteln, dass ich die Wahrheit sage, oder?“ Thalia lächelte sie freundlich an, was ihrem Gesicht einen Teil ihrer alten Schönheit zurückgab.

      „Ich schlage dir einen Handel vor. Du besitzt die Kraft und die Neugierde, um zum Tempel auf den Berg zu gehen und nachzuschauen, ob dort alles in Ordnung ist. Danach kommst du zurück und erstattest mir Bericht. Wenn du etwas Ungewöhnliches vorfindest, haben wir vielleicht endlich einen Beweis, mit dem die großen Häuser zum Handeln gezwungen werden.“

      Unwillkürlich wanderte Celestes Hand zu ihrem Dolch. Die Reise war voller Gefahren und für die Dunklen verboten. Nur den Herrschern der Häuser, den Weisen und – wie man sich hinter vorgehaltener Hand sagte – Göttern war der Zutritt zum Tempel gestattet. Was sollte sie also tun? Ihrem Gefühl vertrauen und zum Tempel reisen, obwohl sie dafür schwer bestraft werden könnte? Oder Thalias Gerede abtun und weiter ihr Leben wie bisher leben? Sie war schon einmal als Begleitung ihres Vaters dort gewesen und wusste, dass jeder Eindringling ohne jede Gnade vertrieben wurde.

      Ein Summen an ihrem linken Ohr ließ sie herumfahren. Und plötzlich sah sie sich dem hellen Licht der Seele gegenüber, die sie gestern gesehen hatte. Ihr Licht war heller als das der anderen Seelen. Celeste blieb still stehen und atmete so flach wie möglich. Ihr Herzschlag hatte sich verdreifacht und Schweißperlen tropften ihr von der Stirn. Die körperliche Reaktion auf diese Begegnung war so ungewöhnlich, dass ihre Gedanken wie wild hin und her rasten.

      „Ist das …?“, fragte sie zögernd.

      Thalia lächelte das Licht liebevoll an. „Ja, das war Danae, die Weise aus dem Wald. Sie ist eine der wenigen, die mir glauben und mir helfen.“

      Erst als sich das Licht wieder entfernte und über der Sanduhr schwebte, beruhigte sich Celestes Herzschlag. Es kostete sie einige Überwindung, das unruhige Gefühl in ihrem Innersten zurückzudrängen, um nach außen hin wieder die kühle Jägerin zu sein.

      „Warum denkst du, dass ich beim Tempel etwas finden werde?“

      „Würdest du mir glauben, wenn ich es dir sagen würde?“, fragte Thalia lächelnd.

      „Vor