ich meine Visionen. Sie beschränken sich jetzt nicht mehr nur auf meine Träume in der Nacht. Ich weiß, dass dieser Tempel eine bestimmte Bedeutung hat. Nur bin ich körperlich nicht in der Lage, die Reise allein anzutreten.“
„Was ist, wenn ich nichts finde?“
„Dann suchen wir weiter. Uns bleibt keine andere Wahl“, sagte Thalia bestimmt.
Endlich nickte Celeste. „Gut, ich werde zum Tempel reisen. Mir stehen sowieso noch ein paar freie Tage zu.“
Als sei eine zentnerschwere Last von Thalias Schultern gefallen, veränderte sich ihre gesamte Haltung. War sie zuvor noch angespannt gewesen, konnte Celeste ihr jetzt deutlich die Aufregung ansehen. Als Thalia ein rotes Tuch aus ihrer Hosentasche zog, sah Celeste ihre Tante ratlos an.
„Hier, nimm das mit. Ich weiß nicht genau, wie es funktioniert, aber es wird dir helfen.“ Danach ging Thalia zu einem Schrank in einer Ecke des Raumes und holte eine goldene Taschenuhr aus einem Schubfach hervor. „Und die musst du auch mitnehmen. Sie ist auf die Sanduhr eingestellt.“ Mit dem Fingern zeigte ihre Tante auf das weiße Ziffernblatt, auf dem sich nur ein schwarzer langer Zeiger befand, der nach oben zeigte.
„Wenn der Zeiger einmal herumgewandert ist, dann kommt jede Hilfe zu spät. Und jetzt los. Du musst deine Sachen für die Reise packen.“
Völlig perplex von dem veränderten Verhalten ihrer Tante ließ sie sich in Richtung Tür ziehen. Erst als sie auf dem Weg in den Teil des Schlosses war, den sie allein bewohnte, fiel ihr auf, dass die tödliche Falle verschwunden war. Entweder war sie nur eine Prüfung gewesen, oder ihre Tante hatte sie abgestellt, damit sie sich wirklich so schnell wie möglich auf den Weg machen konnte.
In ihren Gemächern angekommen, öffnete sie zuerst das Fenster, das ihr einen atemberaubenden Blick über den Wald gewährte. Hoch oben am Himmel sah sie Azia ihre Runden drehen.
Sie ließ sich noch einmal das Gespräch mit ihrer Tante durch den Kopf gehen. Noch konnte sie den Ausflug abblasen. Doch sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Celeste hatte sich schon immer auf ihr Gefühl verlassen. Und das sagte ihr, dass sie diesem Hinweis nachgehen musste. Genauso wie sie gewusst hatte, dass sie in die untersten Räume zu ihrer Tante gehen musste.
London
Ian starrte das Haus an, das sich inmitten einer großen Stadt befand, in der er erst vor einigen Wochen gewesen war. London machte nach außen hin nicht unbedingt den Anschein, aber in letzter Zeit häuften sich die Meldungen zu paranormalen Vorfällen. Natürlich wurden dafür in den Medien ganz andere Erklärungen gefunden. Der Mensch wollte eben meistens lieber etwas Handfestes hören, als die Nachricht aufgetischt zu bekommen, dass sich Möbel nicht von allein und nicht mit einem Trick quer durch den Raum bewegten.
„James, sag mir bitte noch einmal genau, warum ich mich kurz vor Mitternacht in Chinatown in London wiederfinde.“ Sein langjähriger Freund zuckte bewusst unschuldig mit den Schultern.
„Weil du dafür gut bezahlt wirst und weil bereits zwei Geisterjäger abgesagt haben, nachdem ihnen ihre Instrumente in die Luft gesprengt wurden.“ Ian knurrte seinen Freund regelrecht an: „Du weißt, dass ich diesen Begriff nicht mag.“
„Kann sein, aber die Besitzer des Restaurants nebenan bezahlen keinen Ian McMillan, der übersinnliche Fähigkeiten besitzt, ohne dass man etwas davon sieht oder dass es den Anschein macht, als könnte er Geister vertreiben. Sondern sie bezahlen McMillan, den Geisterjäger. Wenn du mich nicht hättest, dann würdest du kein Geld verdienen, mein Freund.“ Kopfschüttelnd ließ Ian es dabei bleiben.
Er lernte James in dessen Heimat Schottland kennen, als dieser auf einer Rucksacktour durchs Land zog. Nur hatte Ian weder mit dem schottischen Wetter noch mit schottischen Insekten gerechnet. Ian hatte seinem Vater im Pub hinter dem Tresen ausgeholfen und so waren er und der englische Student ins Gespräch gekommen.
Als ob auch James an diese Zeit zurückdachte, fragte er: „Kannst du dich noch an dieses alte Schloss Penkaet in der Nähe von Haddington erinnern?“
„Ja, immerhin war das unser erstes Spukschloss“, antwortete Ian.
„Ich habe damals gewusst, dass es dein Verdienst war, dass die unheimlichen Geräusche verschwanden. Und ich weiß auch jetzt, dass hier etwas Ungewöhnliches vor sich geht, bei dem nur du helfen wirst und helfen kannst.“
Als Ian seinen Freund ironisch ansah, lachte James laut auf.
„Ich meine etwas Seltsameres als sonst. Lass uns einfach reingehen und nachschauen, ob du eine Schwingung oder etwas Ähnliches wahrnehmen kannst.“
Ian hatte schon oft versucht, seinem Freund zu erklären, wie er Geister aufspüren konnte. Meistens geschah es über Geräusche. Manchmal waren es einzelne Töne, manchmal war es eine kurze Melodie. Als kleiner Junge hatte er alles zu Geistern gelesen, was er in die Hände bekommen konnte. Und doch fand er in den Seiten der vielen Bücher keinerlei Antworten.
An seinem fünften Geburtstag waren seine Eltern mit ihm in ein Fischrestaurant gegangen. Zum allerersten Mal waren sie bis kurz vor Mitternacht geblieben, obwohl er noch so jung gewesen war. An diesem Tag war seine Welt noch in Ordnung gewesen. Letztendlich hatte seine Familie weitergefeiert, während er mit dem Kopf auf den verschränkten Armen an einem Tisch in einer Ecke des rustikalen Restaurants eingeschlafen war. Seine Freunde waren längst von ihren Familien nach Hause geholt worden.
Eine helle Melodie weckte ihn aus einem Traum. Noch völlig schlaftrunken hatte er den Kopf gehoben und sich den Schlaf aus den Augen gerieben. Und dann sah er ein kleines Mädchen mit blonden Haaren, die zu zwei Zöpfen zur Seite gebunden waren. Sie trug ein blaues Kleid, daran konnte er sich noch genau erinnern. Ihre Gestalt verschwamm immer wieder, also dachte er zuerst, dass er noch träumte.
Doch dann sah sie ihn direkt an. Zuerst wirkte sie zu Tode erschrocken, dann wütend. Sie öffnete den Mund, doch nicht ein Wort kam über ihre Lippen, als sie sprach. Sie befand sich nur ein paar Schritte von ihm entfernt.
Und zum ersten Mal in seinem jungen Leben verspürte er Angst. Es war anders als die Vorstellung, dass etwas unter seinem Bett war oder er Geräusche aus seinem Kleiderschrank hörte. Diesmal sah er etwas Gruseliges. Er sah jetzt den Beweis direkt vor sich, dass die Schauergeschichten seines älteren Cousins nicht nur erfunden waren.
Als das Mädchen merkte, dass er sie nicht verstehen konnte, schrie sie aus vollem Hals. Dabei musste er sich regelrecht die Ohren zuhalten und die Augen zusammenkneifen, so weh tat das hohe Geräusch, das sie mit einem Mal dabei verursachte.
Als er die Augen wieder öffnete, war sie verschwunden. Seine Eltern dachten, er habe einen Albtraum gehabt, doch Ian wusste, dass er das Geistermädchen tatsächlich gesehen hatte.
Mit einem Ruck kam er zurück in die Gegenwart. James zog einen langen silberfarbenen Schlüssel aus seiner Jackentasche. Es war gerade Mitte April und das Wetter meinte es nicht gut mit ihnen. Den ganzen Tag über hatte es geregnet und auch jetzt war die Luft feucht und eisig kalt.
Das Knarren der Tür war so laut, dass die beiden sich verstohlen umsahen, ob jemand sie beobachtete. Sie taten nichts Verbotenes, doch hin und wieder wurden sie von eifrigen Bürgern oder der Polizei bei ihrem Vorhaben aufgehalten. Zum Glück hielten sich nur einzelne Passanten um diese Uhrzeit hier auf.
James verschloss hinter ihm die Tür, sodass sie sich ungestört umsehen konnten. Das Haus war fast leer. Nur ab und zu fanden sie Hinterlassenschaften von Menschen, die sich zuvor im Haus aufgehalten hatten. In den Wänden und in der Decke befanden sich kleine bis riesige Löcher. Aus den Bodendielen ragten spitze kleine Nägel hervor. In den Ecken der einzelnen Räume fanden sie Kot von verschiedenen Nagern vor. Einzig und allein der Schein ihrer Taschenlampen erleuchtete das Hausinnere, denn die Fenster waren von innen mit Holzlatten zugenagelt worden.
„Warum wird das Haus nicht mehr saniert?“, fragte Ian in die Stille hinein.
„Es ist einsturzgefährdet.“ Nachdem Ian ihm einen eindeutigen Blick zuwarf, fügte er entschuldigend