Heinrich Jordis-Lohausen

Wir denken an....


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in dieser verwirrenden Flachheit der Lagunen, an deren unfassbaren Horizonten sich Wolken zu Wasser und Wasser in Wolken verwandelten – hier verlor sich alle Wirklichkeit in den Sinnestäuschungen einer nur mehr in Lichtwerten zu begreifender Atmosphäre. Noch ahnte der neunjährige Tizian nichts davon, dass er eines Tages berufen sein sollte, diese beiden frühen Erlebnisse – das venezianische und das der Lagunen, selbst zu Ende zu denken: der Malerei die Farbe und der Landschaft die Atmosphäre zu erobern. Wir hören nicht viel von Tizians Lehrjahren. Er ist zuerst seinem Meister Bellini gefolgt, dann schloss er sich zeitweilig seinen gleichaltrigen Mitschülern Giorgione und Palma Vecchio an. Frühreifer als er, eilten sie ihm zunächst weit voraus. Sein eigener Stil entfaltet sich spät und im Gegensatz zu Giorgione war er nicht der Mann, die Welt in jungen Jahren in Erstaunen zu setzen. Erst allmählich, und im Gefolge einer von Jahr zu Jahr ständig zunehmenden Erfahrung wuchs er in seine spätere Größe hinein. Und er wuchs mit einer für alle eifersüchtigen Nebenbuhler beängstigenden Stetigkeit. Denn, während Geschlecht um Geschlecht immer neue Generationen ins Grab sinken, arbeitet der längst zur legendären Gestalt gewordene Tizian unermüdlich weiter, das einmal begonnene zu vollenden. Bei solch gleichmäßiger Entwicklung lässt sich ein einzelner Zeitpunkt als Beginn eines Aufstieges nicht festsetzen. Immerhin ist im Jahre 1513 sein Ruf schon so weit verbreitert, dass er von Rom aus die Aufforderung erhält, in päpstliche Dienste zu treten. Diese Einladung spielt er so geschickt gegen die venezianischen Stadträte aus, dass sie ihn nicht nur gleichberechtigt neben Bellini mit der Ausschmückung des Dogen-Palastes betrauen, sondern darüber hinaus noch die Einkünfte eines Sensals am Kaufhof der Deutschen – dem sogenannten fondaco dei tedeschi – überlassen. Nach Rom geht er nicht, doch folgt er in den nächsten Jahren wiederholten Einladungen der Herzöge von Ferrara, Mantua und Urbino.

      Dann bringt der Winter des Jahres 1532 die erste Begegnung mit Karl V. und Vasari. Tizians zeitgenössischer Biograph berichtet, der Kaiser habe, nachdem er Tizian in Bologna kennengelernt, keinem anderen Künstler mehr gesessen. Sein Lohn jedenfalls entsprach der Gebärde eines Weltherrschers. Denn nach Spanien zurückgekehrt, ernannte er Tizian zum Pfalzgrafen, mit allen aus dieser Würde entspringenden Vorrechten und erhob seine Kinder zu Edelleuten des Reiches.

      Und das geschah trotz jenes berühmten Kolossalgemäldes, das Tizian zur Verherrlichung eines venezianischen Sieges über die Kaiserlichen angefertigt und der Stadt Venedig übergeben hatte. Und beweist, wie wenig ein Mann wie Karl V. Kunst mit Politik vermengte und wie weit insofern er von den kleinlichen Ressentiments späterer Jahrhunderte entfernt war. Und Tizian brauchte den Verlust der kaiserlichen Gnade auch dann nicht zu befürchten, als er die Aufforderung des Kaisers, dessen tunesischen Feldzug zu begleiten, ebenso ablehnt, wie seine wiederholten Einladungen nach Spanien. Dass Tizian Gründe zu solcher Ablehnung gehabt hat, geht aus den unzähligen Verpflichtungen hervor, mit deren Erfüllung er sich oft Jahre und selbst Jahrzehnte in Rückstand befand. Nicht nur die Herzöge von Ferrara und Mantua beklagten sich oft bitter über seine Säumigkeit, sondern auch die Stadt Venedig sah sich eines Tages veranlasst, Tizian in einem sehr ernst gehaltenen Schreiben den Verlust seiner staatlichen Einkünfte anzudrohen, falls er die vor einundzwanzig Jahren übernommene Ausschmückung des großen Ratsaales im Dogenpalast nicht endlich zum Abschluss zu bringen gedächte. Erst im Jahre 1545 folgte Tizian den so oft schon erneuerten Einladungen des päpstlichen Hofes nach Rom. Mit der typischen Großzügigkeit jener Zeiten hatte der Herzog von Urbino die Kosten der Reise übernommen und dem Künstler ein berittenes Geleit bis an das Ziel seiner Fahrt zur Verfügung gestellt.

      Tizian hat später bedauert, diese Reise nicht zwanzig Jahre zuvor unternommen zu haben, so stark war der Eindruck sowohl der antiken Stadt wie auch jener der dort angetroffenen zeitgenössischen Kunst.

      In Michelangelo und Tizian trafen sich damals die Häupter der beiden führenden Richtungen – die rein malerische Venedigs und die mit Plastik und Architektur innig verschwisterte der Römer und Florentiner. Bezeichnend für ihren Gegensatz ist das Urteil, das Michelangelo damals über den so ganz anders gearteten Tizian gefällt hat: Es sei schade, meinte er zu Vasari, dass man in Venedig nicht zuerst ordentlich zeichnen lerne und, dass die dortigen Maler nicht gründlicher im Studium wären. Hätte dieser Mann so viel künstlerisches Wissen und so viel Formsicherheit wie natürliche Begabung, würde niemand mehr und besseres erreichen als er.

      Man könnte gegen diese Auffassung einwenden, dass sie am wesentlichen der venezianischen Kunst vorbeigesehen habe. Zweifellos war es dem großen Florentiner nicht gegeben, eine Entwicklung zu würdigen, die immer ausschließlicher nur von der Farbe bestimmt wurde. Bisher hatten Gestalt und Form den Gehalt eines Bildes getragen, indem den ausfüllenden Farben eine bloße Nebenrolle zufiel. Aber schon der jüngere Tizian hatte das zeichnerische Element immer stärker hinter das malerische zurücktreten lassen und in steigendem Maße den Eigenwert der einzelnen Farben und die von aller Zeichnung unabhängige Gesetzmäßigkeit farbiger Wirkungen entwickelt.

      Dann allerdings – und zwar ziemlich unvermittelt, beschritt der ältere Tizian einen neuen, noch gänzlich unbetretenen Weg: mit einem Mal dämpfte er den leuchtenden Reichtum seiner Farben zu Gunsten einer neuartigen Geschlossenheit.

      Nicht Farbe und nicht Zeichnung sind die Träger seiner späteren Werke, sondern Licht selbst, jenes körperlose und unfassbare Licht, das aller Sichtbarkeit irdischer Dinge zu Grunde liegt – ihrer Farbe sowohl wie ihrer Gestalt.

      Diese neuartige Betrachtungsweise, die die einzelne Farbe ihrer individuellen Daseinsberechtigung entkleidet, um sie einem größeren, das ganze Bild beherrschenden Zusammenhang einzufügen, hat den noch im 15. Jahrhundert geborenen Tizian über die Grenzen seines eigenen 16., hinausgetragen und in die unmittelbare Nähe der großen holländischen Vollender unserer klassischen Malerei gebracht.

      Darüber hinaus hat seine Entdeckung des an sich körperlosen Lichts als des einzig wesenhaften Gegenstandes malerischer Darstellung, der Welt eine weitere, noch kaum erschlossene Provinz erobert – nämlich den Begriff der Atmosphäre und ihr damit den Durchbruch zur Landschaftsmalerei als einer gleichwertigen Kunstübung neben Akt und Porträt gewonnen.

      Vielleicht war es ein Rest kindlicher Sehnsucht nach heimatlichen Bergen, der Tizian schon in seinen frühesten Versuchen dazu verführt hat, seine Kompositionen immer wieder ins Freie zu verlegen. Sicher ist, dass er gerade in der gleichwertigen Vereinigung landschaftlicher und menschlicher Motive das volle Maß seiner dichterischen Kunst erreicht hat und nicht mit Unrecht ist er – und nicht allein in Italien als der Vater der abendländischen Landschaftsmalerei bezeichnet worden.

      Tizians römische Reise ist nicht seine letzte gewesen. Noch als Siebzigjähriger ist er Einladungen Karls V. zu den Augsburger Reichstagen gefolgt und hat den beschwerlichen Weg über die Alpen zweimal – davon einmal mitten im Winter – angetreten. Erst dann blieb er endgültig in Venedig und überließ seinen Söhnen die Regelung auswärtiger Angelegenheiten. Seine Schaffenskraft jedoch blieb unverändert wie sein Ansehen und seine unverwüstliche Gesundheit.

      Als die Pest im Jahre 1575 über die europäischen Länder hereinbrach, erfasste sie im folgenden Sommer auch ihn. Am 28. August ist Tiziano Vecelli, nachdem er bis zum letzten Tage gearbeitet hatte, im 99. Lebensjahr der furchtbaren Seuche erlegen.

      Antonio Correggio

      Er hieß eigentlich Antonio Allegri. Corregio ist der Name seines Geburtsortes in der Provinz Emilia.

      Dass dieser Name ihm blieb, ist nicht ohne tiefere Bedeutung, denn mit Correggio wird auch seine heimatliche Landschaft zur Heimstätte der großen Malerei, und Parma, die Stätte seines Wirkens, tritt gleichberechtigt neben Venedig, Florenz und Perugia.

      Correggio hat, ähnlich Raffael, zu verschiedenen Zeiten verschiedene Bewertung erfahren. Das Seicento vergötterte ihn und hielt die Ausmalung der Domkuppel zu Parma für den Gipfel der Renaissancekunst, und noch den Sammlern des 18. Jahrhunderts war Correggio der meistbegehrte Meister.

      Dann ließen neue Gesichtspunkte der Kunstbetrachtung seine Bedeutung zurücktreten und auch die Gegenwart vermag ihn im Allgemeinen wohl zu bewundern, aber kaum wirklich zu lieben. Seine Kunst erscheint ihr zu leicht und zu spielend; wie bei Joseph Haydn will sie den Ernst hinter so viel lächelnder Schwerelosigkeit