Aspekte verarbeitet. Sie kennzeichnet die permanente Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Die Sozialisation bestimmt unsere Identität, unser Selbstwertgefühl und unsere Fähigkeiten (10). Wenn individuelle Interessen nicht gefördert werden, weil sie gesellschaftlich nur für einen anderen Stand oder ein anderes Geschlecht als wichtig angesehen werden, dann können die mit einem Interesse verbundenen Potentiale auch nicht entwickelt werden.
Mädchen sind noch heute in einigen Gesellschaften nicht des Lesens und Schreibens mächtig, nicht weil sie dümmer sind als Jungs, sondern weil die Jungs vorzugsweise Schulen besuchen und die Mädchen stattdessen früh verheiratet werden.
Wie viele große Denkerinnen mögen der Welt entgangen sein, weil die gesellschaftlichen Kategorien in den meist patriarchalen Gesellschaften Mädchen keine Chance gaben, ihr Potential zu entwickeln? Wie viele große DenkerIinnen mögen unentdeckt geblieben sein, weil Arbeiterkinder, gemäß den Standesregeln, der soziale Aufstieg unmöglich war?
Wir sind, was wir sind, durch die Gesellschaft und ihre Kultur. Wir nutzen ihre Artefakte und werden durch sie bewertet. Unsere Identität und unser Verhalten werden dadurch bestimmt, wie wir gesehen und eingestuft werden.
Weil das Votum unserer Umwelt so wichtig ist, neigen wir dazu, die Mode zu mögen, die auch unsere Freunde und Bekannten gut finden. Unser Urteil ist nie objektiv. Wir bewerten immer unter dem Einfluss unserer Sozialisation.
Als meine Mutter Ende der 1950er Jahre Hosen anziehen wollte, war ihre Mutter strikt dagegen. Sie sagte, Frauen sähen in Hosen wie gerupfte Hühner aus. Nur unanständige Frauen würden Hosen anziehen. Hosen, sagte sie, passen einfach nur Männern. Für Frauen hat Gott den Rock gemacht.
Wenn jemand mit einem Dresscode bricht, dann wird das schnell als unästhetisch empfunden. Die Leute meinen dann, objektiv ihren Geschmack zu äußern. Tatsächlich beurteilen wir durch die Brille unserer Prägungen, die fest in uns verankert sind. Deswegen stehen wir allem Neuen eher skeptisch gegenüber. Menschen empfinden häufiger konservativ als progressiv.
Neue Mode ist nonkonform
Wenn die Brüche mit einer Konvention aber zunehmen, kann sich ein neuer Trend entwickeln. In der Folge entsteht dann aus anfänglicher Ablehnung durchaus Zustimmung. Und so war auch meine Oma einige Jahre später der Meinung, dass die Caprihosen, mit denen meine Mutter vom Urlaub in Italien zurückkam, toll waren. Unsere scheinbar objektive und individuelle Meinung folgt insgeheim der kulturellen Norm, ändert sich die, dann ändert sich auch unsere Einstellung. Dass die Meinung in beiden Fällen beeinflusst war, bleibt uns unbewusst. Wir denken weiterhin, eigentlich immer schon so gedacht zu haben, wie wir gerade denken.
Gesellschaftliche Regeln wie auch Bekleidungsvorschriften können sich im Laufe der Zeit verändern oder gar umkehren. Das Kopftuch für Frauen ist in vielen islamischen Ländern gesetzliche Pflicht. In einigen europäischen Ländern ist das Tragen eines Kopftuches hingegen verboten. Zuwiderhandlungen werden mit einem Bußgeld geahndet. In Deutschland haben Frauen vor allem auf dem Land bis in die 1960er Jahre ein Kopftuch getragen. Auf dem Bauernhof meines Onkels habe ich meine Tante bei der Arbeit im Stall oder beim sonntäglichen Kirchgang immer mit Kopftuch erlebt. Ich konnte gar nicht sagen, ob sie darunter kurze oder lange Haare hatte. Anständige Frauen, so sagte sie mir als kleinem Jungen, tragen Kopftücher, um in den Himmel zu kommen.
Die Halbwertszeit von Regeln hängt von den jeweiligen kulturellen Strukturen ab. Moden haben einen Lebenszyklus. Wenn Normen religiös begründet werden, dann ist es ein Tabu, sich anders zu verhalten oder anzuziehen. Eine diesbezügliche Regel kann sich erst ändern, wenn sich das Verständnis bzw. die Interpretation religiöser Texte ändert. Es kann sehr schwer werden, von Regeln abzuweichen, wenn die Meinung vertreten wird, dass eine Regel gottgewollt ist.
Grundsätzlich ist jede Änderung und jede Innovation wegen der strukturellen Hindernisse schwierig durchzusetzen. Normen fordern ihre Umsetzung. Sie sind gesellschaftlicher Konsens. Das tägliche Leben von Rollen konditioniert uns auf die Rolle. Es fällt uns schwer, ein anderes Verhalten zu zeigen, als das, was wir gewohnt sind und das uns geprägt hat.
Ein Mann mag die Idee haben, im Sommer statt einer Hose, die schnell verschwitzt an den Beinen klebt, einen dünnen weiten Rock zu tragen. Das heißt aber noch lange nicht, dass er es auch tut.
Oft stehen wir Veränderungen selbst im Wege, wenn wir uns im vorauseilenden Gehorsam selbst sanktionieren. Wir haben Angst vor den Reaktionen der anderen, wenn wir uns abweichend zeigen. Was sagen die Freunde und Kollegen? Wir fürchten Kritik und Widerspruch. Viele Menschen verhalten sich regelkonform, gerade weil sie nicht sozial geächtet werden wollen. Die Angst vor negativen Sanktionen ist verbreitet und bei vielen Menschen so stark, dass sie von einem abweichenden Verhalten absehen, nach dem Motto: „Das gibt eh nur Ärger.“
Ich habe vor Jahren in Ägypten ein Beduinendorf besucht. Alle Teilnehmer der Exkursion bekamen vor der Abfahrt eine Dschallabija (Abb. 36). Das ist der ägyptische Kaftan, der anders als die gerade geschnittene saudische Thobe (Thawb) viel weiter ist und im unteren Schoßteil Falten wirft. Alle Teilnehmer des Ausflugs in die Wüste fanden das Kleid extrem bequem. Ich fühlte mich darin wie nackt, weil das Gefühl von dünnem Stoff, der den Körper flüchtig umspielt, so neu und erfrischend war. In der Wüstenhitze, das war die einstimmige Meinung, war der Kaftan durch seine Luftigkeit jeder Hose überlegen. Deswegen wusch ich am Abend das Kleid und zog es am nächsten Tag im Hotel am Frühstücksbuffett wieder an. Diesmal waren die Reaktionen ganz anders. Man wies mich lächelnd darauf hin, dass die Exkursion vorbei sei, und warum ich das noch nicht bemerkt habe. Andere Touristen fragten ironisch, ob ich zum Islamisten konvertiert sei. Niemand im Hotel konnte meine Kleiderwahl akzeptieren, obwohl alle am Tag davor in der Wüste die gleiche Kleidung anhatten. Man war halt wieder zurück im eigenen Kulturkreis, und da ist der Kaftan ein No-Go. Praktische Argumente, wie die Luftigkeit, die von allen geschätzt worden war, zählten nicht mehr. Man hatte wieder den gewohnten Normen zu folgen und riet dringend davon ab, beim Rückflug die Dschallabija anzuziehen, wenn ich nicht den Verdacht erwecken wolle, ein islamistischer Fundamentalist zu sein.
Ich war sehr beeindruckt, wie krass der Unterschied zwischen einer praktischen Intention und der gesellschaftlichen Wahrnehmung war, die hier ja total neben den Fakten lag. Wie konnte ich so missverstanden werden?
Mode ist, wie bereits erwähnt, nonverbale Kommunikation. Sie arbeitet mit kodierter Symbolik. Wenn ein Kleidungsstück aus anderen Gründen als den ihm zugeordneten benutzt wird, dann kommt es zwangsläufig zu Fehlinterpretationen. Und da Dresscodes jede Gesellschaft beherrschen, mag niemand an ein unschuldiges Verhalten wegen des heißen Sommerwetters denken.
Es gibt keine gesellschaftlichen Normen ohne ein System von Maßnahmen, um unerwünschten Dresscode-Abweichungen entgegenzuwirken. Jede Gesellschaft ist selbsterhaltend strukturiert und setzt Restriktionen mit Sanktionen um. Soziale Ausgrenzung, Stigmatisierung, Mobbing, Kündigung des Arbeitsplatzes oder körperliche Angriffe sind möglich. Wer etwas verändern will, sollte das beachten und an allen Stellschrauben der Struktur drehen.
Veränderungen geschehen selten spektakulär oder gar revolutionär. Starke Brüche schrecken ab, weil sie zu sehr neben dem liegen, was uns geprägt hat. Veränderungen haben bessere Chancen sich durchzusetzen, wenn sie sich einschleichen als Variation von Bekanntem und nicht wirklich mit Gewohnheiten brechen, sondern es lediglich verfeinern oder erweitern.
Bei jugendlichen Subkulturen kann der Bruch massiver sein, wenn er auf angestaute Unzufriedenheit zurückzuführen ist, die unterdrückt wurde. Die Menschen haben lange versucht sich konform zu verhalten, obwohl ihre Bedürfnisse und gesellschaftlichen Visionen weiterhin keine angemessene Beachtung fanden. Die enorme junge Energie, die Gesellschaft zu verändern, ist schwer kontrollierbar. Das gilt besonders, wenn sie als progressive Kraft auf eine konservative Gesellschaft trifft, die ihre Grundsätze vehement verteidigt.
Wenn die Rollen, die wir öffentlich in der Schule, im Job, in der Familie, unter Freunden und anderswo spielen, stark von unserem privaten, inneren Ich abweichen,