negativen Bewertungen. Wiederholt sich der Eindruck über uns, führen die negativen Bewertungen zu Stigmatisierung.
Gesellschaften stehen Veränderungen im Allgemeinen skeptisch gegenüber. Das macht sie grundlegend konservativ. Man weiß nicht sicher, ob das Neue auch zu etwas Gutem führt. Da wird dann lieber auf Bewährtes vertraut, denn da weiß man was man hat. Da gibt es keine Risiken. Außerdem werden neue Forderungen junger Leute schnell als Angriff auf den Status Quo gewachsener Standards und seiner Autoritäten gesehen. Darauf reagieren die Vertreter der Ordnung sehr empfindlich.
Trotzdem sind Verhaltensänderungen nicht zwangsläufig ein Angriff auf bestehende Wertvorstellungen. Eine US-amerikanische Studie zeigte, dass es zwischen gepiercten und nichtgepiercten Personen keine Unterschiede in Bezug auf ihre Religiosität, ausgedrückt in Kirchgängen und täglichen Gebeten, gab (11). Eine weitere Studie konnte auch keine Unterschiede in der Häufigkeit von Depressionen, Angststörungen, Psychopathologie, Vitalität, und Selbstbewusstsein belegen (12). Aber je jünger die Gepiercten waren, desto stärker war das Motiv zu einer bestimmten Subkultur und ihren Werten zu gehören (13).
Der Lebenszyklus einer Mode beginnt, wenn innovative Menschen sich anders kleiden und diese Änderungen um sich greifen, weil progressive Menschen darauf aufmerksam werden und das Verhalten kopieren. Wenn diese beiden Gruppen, die im Marketing Early Innovators und Early Adaptors genannt werden, eine nennenswerte Präsenz erreichen, die statistisch je nach Produkt und Markt bei etwa 15 % Marktanteil liegt, dann erst traut sich auch die skeptische Masse nachzuziehen. Der sogenannte Tipping Point von 15 % löst ein dynamisches Verhalten aus, das aus einem Trend Mode machen kann Die meisten Menschen sind eher konservativ eingestellt. Sie wollen nicht der „Vorturner“ sein. Sie warten ab, wie sich eine Sache entwickelt, und erst wenn diese um sich greift, legen sie ihre Skepsis gegenüber dem Neuen ab. Trends sind kurzlebig, wenn sie nicht den kritischen Wendepunkt erreichen, an dem die neugierige aber skeptische Mehrheit zu kaufen beginnt. Zuerst muss die innovative Kraft eines Streetstyles ausreichend sein, so dass Mode- und Jugendmagazine regelmäßig darüber berichten. Dann erst folgt den Trendsettern die Mehrheit und es entsteht eine neue Mode (14).
Im Rahmen ihrer Marktforschung nutzen Modehersteller Trendscouts, um Anregungen von der Straße und aus Jugendszenen aufzuspüren. Das digitale Trendscouting bedient sich der Nutzerdaten, die soziale Netzwerke und Suchmaschinen zur Verfügung stellen.
Die meisten neuen Moden werden von Modemachern entworfen. Wenn Prominente sich darin kleiden, wirkt das stilbildend, weil die Kaufbereitschaft weiterer Menschen wächst. So haben Marlene Dietrich und Katharine Hepburn wesentlich dazu beigetragen, dass der Hosenanzug für Frauen ein Trend wurde. Yves Saint Laurent hat ihn dann stärker auf die weibliche Anatomie zugeschnitten, ohne dem Anzug seine Sachlichkeit zu nehmen. Die Feminisierung des Schnitts unter Beibehaltung der formalen Sachlichkeit war der Kompromiss, der die Brücke zu den Traditionalisten schlug. So gelang dem Hosenanzug langsam der Durchbruch.
Immer mehr Frauen kauften die Anzüge, obwohl es ihnen anfangs bei vielen Gelegenheiten verboten war, Hosen zu tragen. Der Sängerin Esther Ofarim wurde 1966 der Zutritt im Hosenanzug zur Bar des Atlantic-Hotels in Hamburg verweigert. Der Frau des englischen Fliegerstars Townsend wurde 1969 der Zutritt in Hosen zur Filmpremiere „Die Luftschlacht um England“ im Londoner Ritz verwehrt. Bundestagsvizepräsident Richard Jäger (CSU) drohte 1970 öffentlich, jede Abgeordnete in Hosen des Saals zu verweisen. Noch im gleichen Jahr war es ein Skandal, als die SPD-Politikerin Lenelotte von Bothmer im deutschen Bundestag eine Rede im Hosenanzug hielt (15). Trotz der Widerstände wurde aus dem Trend eine Mode. Die wachsende Zahl der Frauen, die sich nicht einschüchtern ließen, machte den Hosenanzug gesellschaftsfähig. Dadurch ist Frauen das möglich geworden, was ihnen vorher unmöglich war. Sie konnten fortan zu formalen Anlässen statt eines Kostüms Hosen tragen. Viele Frauen in Führungspositionen, aber auch Politikerinnen wie die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen oder die US-amerikanische Vizepräsidentin Kamalla Harris treten ganz überwiegend öffentlich im Hosenanzug auf. Heute ist das selbstverständlich, früher war es ein Tabu. Seit 2012 dürfen auch die Polizistinnen der Royal Canadian Mounted Police zu allen Uniformen Hosen und Stiefel tragen. In Frankreich wurde 2013 ein altes Gesetz abgeschafft, das von Frauen, die zum Reiten oder Radfahren Hosen tragen wollten, verlangte, eine entsprechende Genehmigung zu beantragen (16).
Wenn Abweichungen von modischen Standards Tabus berühren, kann das zu Sanktionen führen. Die US-amerikanische Frauenrechtlerin Amelia Bloomer versuchte in den 1850er Jahren, eine Reformkleidung für Frauen mit mehr Beweglichkeit und Bequemlichkeit zu etablieren. Ihr Bekleidungsvorschlag war nicht rockfrei. Das Bloomer-Kostüm (Abb. 01) bestand aus einer Pluderhose mit einem verkürzten etwa wadenlangen Rock. Trotzdem erregte ihr Entwurf heftigen Widerstand. Ihre Frauenhose mit Rock wurde in den Medien lächerlich gemacht. Frauen, die darin auf die Straße gingen, wurden belästigt. Der Widerstand war so massiv, dass Amelia Bloomer ihre Bemühungen nach einigen Jahren aufgab (17).
Abb. 01: Bloomer-Kostüm
Hosen waren damals das Privileg der Männer. Sie waren das Symbol ihrer Herrschaft. Gott hatte Adam erschaffen. Eva war ein Produkt aus ihm. Sie war aus einer Rippe Adams gemacht. Außerdem steht in Martin Luthers Übersetzung des Altem Testaments, dem Wort Gottes, bei 5. Moses 22,5: „Ein Weib soll nicht Mannsgewand tragen, und ein Mann nicht Weiberkleider antun, denn wer solches tut, der ist dem Herrn, deinem Gott, ein Greuel.”
Zum einen war das Mannsgewand der alten Israeliten keine Hose, sondern ein Kleid, wie z. B. bei 2. Moses 28, 2 nachzulesen ist: „Und sollst Aaron, deinen Bruder, heilige Kleider machen, die herrlich und schön seien.” Und zum anderen wollte Amelia Bloomer gar nicht die Hosen der Männer bei den Frauen einführen. Sie hatte doch eine eigene Pluderhose, die von Männern nicht getragen wurde, entworfen und diese auch noch mit einem Rock kombiniert. Der Unterschied zwischen ihrem Bloomer-Kostüm und den Herrenhosen ihrer Zeit war sicherlich markanter, als zwischen den Kleidern der Frauen und Männer der alten Israeliten. Das von allen Hebräern getragene Hemdgewand Kthoneth unterschied sich nicht im Schnitt. Unterschiede gab es nur bei den Farben, Verzierungen, Drapierungen und Gürteln.
Trotzdem wurde die Frauenhose der Feministin als Angriff auf die patriarchalische wie göttliche Ordnung empfunden. Das konnten gläubige Männer auf keinen Fall hinnehmen. Interessant ist, dass die Auslegung der Bibel sich in über 100 Jahren geändert hat. Heute tragen sogar katholische Nonnen gelegentlich Hosen. Dazu gehören auch Jeans, die vom Schnitt her nicht anders sind als genau die Jeans, die ursprünglich Männern vorbehalten waren. Offensichtlich war Amelia Bloomer ihrer Zeit weit voraus.
Eine Gesellschaft reagiert auf Normabweichler mit Sanktionen, weil unterstellt wird, dass der Abweichler nicht hinter den Werten der Gesellschaft steht. Man sieht sein Verhalten als zersetzend an. Es bestehen Bedenken, dass, wenn das Verhalten Nachahmer findet, gesellschaftliche Standards unterlaufen und aufgelöst werden könnten. Veränderungen des gesellschaftlichen Gefüges können das Zusammenspiel einer Gemeinschaft beeinträchtigen. Das kann sich zum Ungunsten einer Teilgruppe auswirken. So entstehen durch Veränderungen Interessenskonflikte, die immer auch Machtkonflikte sind (18).
Leider wird selten geprüft, ob die Unterstellungen gegenüber Abweichlern auch zutreffend sind. Oft sind es schiere Vorurteile. Schon bei den oben erwähnten Studien zu gepiercten Personen konnte gezeigt werden, dass es zwischen der Normabweichung beim Körperschmuck und der Persönlichkeit keinen signifikanten Zusammenhang gibt. Kein Manager, der bei heißem Wetter die Krawatte ablegt, ist faul und verliert damit seine Fachkompetenz. Und auch das Interesse an Röcken für Männer muss eben nicht in Zusammenhang mit einer sexuellen Identität oder Orientierung stehen, sondern kann einfach nur praktischen oder ästhetischen Motiven geschuldet sein.
Trotzdem werden Männer in Röcken denunziert und stigmatisiert. Daran beteiligt sind auch einige Christen, obwohl Gott im ersten Buch Moses Adam und Eva