Alfons Wiebe

Vom gehorsamen Kirchenschaf zum selbstbestimmten Katholiken


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doch einen bestimmenden Einfluss auf mich hatte, zeigen folgende zwei Begebenheiten: Als 3- oder 4-jähriger lag ich mit Diphtherie im Krankenhaus. In meinem Gitterbettchen spielte ich manchmal mit meinem Glied. Ich erinnere mich noch daran, wie ich das Gefühl hatte, dabei etwas Falsches zu tun. Auch die zweite Begebenheit hat etwas mit Sexualität zu tun. Bevor ich ins Waisen­haus kam, wohnten wir eine Zeitlang bei einem Bauern in der Nähe von Karthaus. Hier musste ich mit einem Mädchen, das etwas älter war als ich, öfter die Gänse hüten. Dabei trieben wir sie auf eine Wiese, die abseits lag und wo uns niemand sah. Wir vertrieben uns die Zeit, indem wir uns gegenseitig unsere Genitalien untersuchten und sie mit Grashalmen kitzelten. Der Anblick der Scheide des Mädchens ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Ich empfand die Spiele als sehr angenehm und die sexuellen Empfindungen dabei haben mich das ganze Leben begleitet. Gleich­zeitig hatte ich aber auch hier das Gefühl, etwas Unerlaubtes zu tun. Denn am Sonntag, dem heiligen Tag, unterließen wir diese Spielchen. Offensichtlich hatten mir meine Eltern, die ihr Lebtag sehr prüde waren, schon sehr früh sexuelle Einschränkungen auferlegt, ohne dass ich mich daran erinnere. -

      In Karthaus besuchte ich die ersten beiden Schuljahre der polnischen Schule. Hier ist mir in Erinnerung geblieben, dass die Lehrerin uns die Passionsgeschichte Jesu erzählte, von der ich sehr beeindruckt war. Ich konnte es jedoch nicht verstehen, dass Jesus vor seinem Kreuzestod geweint haben soll. Für mich war das kein männliches Verhalten und ich fragte mich, ob Jesus wohl eine Frau gewesen war. Wie sehr mich die Erzählung von seinem Kreuzestod beeindruckt hat, zeigt folgende Begebenheit. Als ich einmal erkrankte und Fieberträume hatte, erkannte ich in dem Fenster­kreuz, das sich gegen den dämmrigen Himmel abzeichnete, das Kreuz Jesu. Zu seinen Füßen ringelten sich lauter Schlangen und krochen auf mich zu. Ich hatte furchtbare Angst, dass die Schlangen mich erreichen könnten.

      In der Weihnachtszeit übten die Schwestern einmal mit uns ein Krippenspiel ein. Ich hatte dabei einen Soldaten am Hofe König Herodes zu spielen. Wenn die Hl. 3 Könige an unserem Spalier vorbeizogen, sollten wir vor ihnen eine tiefe Verbeugung machen und dabei unser Holzschwert parallel zum Oberkörper senken. Das wollte mir aber nicht gelingen, denn das Schwert war viel zu schwere für mich und plumpste zur Erde, sobald ich es etwas schräg hielt. Die Folge war, dass ich die Rolle nicht spielen konnte, worüber ich sehr traurig war. Das Krippenspiel muss mich dennoch sehr angeregt haben. Denn ich weiß noch, dass ich neben Panzern sehr gerne Krippenszenen gemalt und den Stall von Bethlehem gebastelt habe, sein Dach mit Watte belegt und die Krippenfiguren aus Pappe ausgeschnitten hatte. Daran hatte ich sehr viel Freude.- Ich erinnere mich auch an ein Theaterstück im Heim, bei dem Petrus mit Rauschbart aus dem Himmel hervortrat und in dem der Nikolaus uns aus einem großen Sack Päckchen an uns verteilte, die uns die amerikanische Organisation Care geschenkt hatte: In meinem Päckchen hatte ich - nebenbei bemerkt - bunte Glaskugeln, eine Dose Chesterkäse und Zahnpastapulver.

      Ich erinnere mich, dass das Haus eine Kapelle hatte. Ich habe noch ein Bild in mir, wie wir sonntags in diese Kapelle geführt wurden. Nachdem wir uns sonntäglich gekleidet im Schlafsaal versammelt hatten. stellten wir uns in Zweierreihen vor der Treppe auf, die zur Tür in die Kapelle führte. Eine Schwester begleitete uns dann nach oben. An den Gottesdienst selber habe ich keine Erinnerung.

      5Das Kommunionkind

      1948 war mein Vater aus englischer Gefangenschaft nach Braunschweig entlassen. Dort hatte er auf Veranlassung des Wohnungsamtes ein Zimmer bei dem Fabrikantenehepaar Salge erhalten, das in einer repräsentativen Wohnung aus der Gründerzeit lebte.

      

Das Photo entstand kurz vor unserer Abreise von Karthaus nach Danzig,also etwa im Frühjahr 1948.

      Die Wohnung bestand aus 6 Zimmern mit Küche und Bad. Das Wohnungsamt hatte meinen Vater und eine andere Familie mit einer Tochter dort eingewiesen.

      Das uns überlassene Zimmer wurde nun unser beengtes Zuhause, nachdem mein Vater uns, die Mutter mit uns drei Kindern, zu sich hatte kommen lassen. Hier lebten wir und spielten, hier wurde gekocht, gewaschen, geschlafen und geliebt, hier machten wir unsere Schularbeiten und empfingen Besuch. Wir Kinder nahmen den Zustand als gegeben hin. Für unsere Eltern aber muss das eine Quälerei gewesen sein. Erst als mein kleiner Bruder geboren wurde (1950), überließen uns unsere Vermieter ein weiteres kleines Zimmer, in dem wir Kinder schlafen konnten.

      Die beengten Wohnungsverhältnisse und die zeitweilige Arbeitslosigkeit meines Vaters waren die Ursache für häufigen Streit meiner Eltern. Oft entzündete er sich an der unterschiedlichen Vorstellung über Erziehungsmaßnahmen. Meine Mutter konnte es nicht mit ansehen, wenn mein Vater zu streng mit uns umging. Er verlangte von uns unbedingten Gehorsam. Widerworte und Maulen ließ er uns nicht durchgehen. Und wenn wir nicht gleich parierten, gab es schon mal Dresche. Auch unsere Mutter sollte sich ihm unterordnen. Er verwaltete das Geld, gab ihr das Wirtschaftsgeld und kontrollierte ihre Ausgaben. Als sie bei einem Besuch in der Ostzone von dem günstig umgetauschten Geld Geschirr für die Familie gekauft hatte, ohne ihn zu fragen, gab es mächtigen Ärger.

      Dennoch habe ich nie daran gezweifelt, dass die Ehe meiner Eltern glücklich war und wir in einer harmonischen Familie lebten. Meine Eltern haben sich sehr um uns Kinder bemüht, so dass ich mich in ihrer Gegenwart immer geborgen fühlte. Besonders gern erinnere ich mich an die Gesellschaftsspiele mit ihnen, an die Zeltlager, die mein Vater mit uns durchführte, und an die lustigen Silvester- und Faschingsfeiern im Familienkreis.

      Ein großes Anliegen meiner Eltern war die religiöse Erziehung. Sie beteten mit uns und hielten uns zum Gebet an. Wir beteten das Morgen-, Tisch- und Abendgebet, besuchten jeden Sonntag die Hl. Messe und gingen jeden Monat zur Beichte. Unsere Eltern lebten uns vor, wozu sie uns anhielten. Natürlich gingen auch sie mit uns jeden Sonntag und Feiertag zum Gottesdienst, wie es das Kirchengebot verlangte. In den ersten Jahren war das Nüchternheitsgebot vor dem Kommunion­empfang noch sehr streng. Nur Flüssigkeiten durften bis 1 Std. vor der Kommunion zu sich genommen werden. Meine Mutter hatte Sorge, dass wir Kinder den Vormittag nicht durchstehen könnten. Daher brockte sie uns Kindern Brötchen in heiße Milch und löste sie so auf, dass wir sie trinken konnten, und dabei das Gebot nicht verletzten. Auch die übrigen Kirchengebote wurden genau beachtet. So gab es am Freitag Fisch zu Mittag, Aschermittwoch und Karsamstag waren Fast- und Abstinenztage. Während der Adventszeit und der Fastenzeit wurden wir angehalten auf Süßigkeiten zu verzichten.

      Die kirchlichen Feste spielten eine große Rolle im Jahreskreis. Ihr religiöser Gehalt wurde immer mitbedacht. Das schönste Fest war natürlich das Weihnachtsfest. Es wurde vorbereitet durch die Bräuche in der Adventszeit. Selbstverständlich hatten wir einen Adventskalender, der uns mit seinen Türchen, die wir jeden Morgen gespannt öffneten, die Zahl der Tage bis zum Fest anzeigte. Auch ein Adventskranz, der an dem mit einem goldenen Stern bekrönten Ständer hing, verkürzte uns die Wartezeit. Die Zeit der Vorbereitung war auch eine Zeit des Verzichtens, wie es die Tradition der Kirche nahe legte. Wir Kinder verzichteten auf das Essen von Süßigkeiten und gaben uns Mühe, dem Christkind zu gefallen. Jede gute Tat galt als ein Strohhalm für die Krippe, damit das Christkind weich liegen konnte. Während der Adventszeit saßen wir oft nachmittags gemütlich zusammen und feierten Advent. Dabei sangen wir die Adventslieder aus unserem Canta Bona, so hieß das kirchliche Gesangbuch der damaligen Zeit. Die Eltern lasen uns dabei vorweihnachtliche Geschichten vor, wie Ludwig Thomas „Als ich einmal Christtagsfreude holen ging“ oder Waggerls innige Geschichten von den Erlebnissen des kleinen Jesus im Stall von Bethlehem.

      Oft besuchten wir auch die Roratemessen früh am Morgen und genossen den Gang durch den frisch gefallenen Schnee und die trauten Gesänge in der großen Kirche, die mit den mitgebrachten Kerzen nur spärlich erhellt war und deshalb sehr heimelig wirkte.

      Zu Nikolaus luden meine Eltern einmal den Nikolaus, den ein Mitglied des Freundeskreises spielte, persönlich ein. Er kam mit Mantel, Stab und Mitra und bescherte uns. Meine kleine Schwester aber hatte Angst vor ihm und versteckte sich unter dem Tisch. In der Regel jedoch stellten wir zu Nikolaus unseren geputzten Schuh vor die Tür und warteten gespannt auf den Morgen, ob denn der Schuh auch mit Süßigkeiten gefüllt war. Falls der Schuh jedoch nach der Begutachtung