Alfons Wiebe

Vom gehorsamen Kirchenschaf zum selbstbestimmten Katholiken


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Patres St. Xaver in dem Zustand meines Eintritts in die Schule 1952.

      Das 1.‏ Viertel Jahr war eine Schreckenszeit. Ich war voller Heimweh, weg von der Geborgenheit der Familie, einsam in der Kälte eines riesigen Systems, in dem es keine Frauen und keine Mütterlichkeit gab, und ich mich unter 32 Klassenkameraden verlassen fühlte. 640 Schüler (im Stil des Regelbüchleins, das unser Verhalten regeln sollte, „ Zöglinge“ genannt), besuchten damals die Missionsschule und lebten im Internat. Dementsprechend war alles riesig und fremd, das Gebäude mit seinen langen Gängen und aneinander gereihten Klassenräumen und seinem ausgedehnten Gelände, die Gemeinschaft der Patres und Brüder, die uns zwar versorgten, aber doch unnahbar blieben, die Masse der Schüler. Wir schliefen zu 40 in riesigen Schlafsälen, die im Winter so kalt waren, dass das Wasser in den Waschschüsseln gefror. Wir hielten uns in unseren Klassenräumen auf, die uns vormittags als Schulraum, nachmittags als Studierraum und in den kurzen Freizeiten als Wohnraum dienten. Es herrschte ein sachlicher Ton zwischen den Schülern und zu den Lehrern und Präfekten ohne Herzlichkeit.

      

Das Photo zeigt die Sexta bei der Rast auf unserem 1. Ausflug. In der Mitte sitzt unser Unterpräfekt P. Hoff, dessen 1. Klasse wir waren.

      Betreut wurden wir von einem Präfekten und zwei Unterpräfekten, die für die Unterstufe und die Oberstufe zuständig waren. Mit allen Fragen, die zu unserem Internatsleben gehörten, konnten wir uns an sie wenden. Ich weiß noch, dass ich mich in meiner Not einmal weinend zu meinem Unterpräfekten, Pater Hoff, ging, der mir auf dem langen Gang entgegenkam und ihn anflehte: „Pater Hoff, bitte, lassen Sie mich wieder nach Hause fahren. Ich bin nicht berufen zum Priestertum.“ In der Hoffnung bald wieder zurückkehren zu können, mochte ich meine Unterwäsche nicht wechseln. Ich könnte sie ja nicht rechtzeitig von der Wäsche zurückkommen. Von Ostern bis Pfingsten dauerte dieser Trauerzustand. Ich schrieb mehrere Briefe nach Hause, in denen ich darum bat, mich doch wieder zurückzuholen. Schließlich entschloss sich mein Vater, meiner Bitte nachzukommen und mich abzuholen. In einem ernsten Gespräch zeigte er mir die Konsequenzen auf, die sich für mich ergeben würden,wenn ich wieder zu Hause wäre.

      

Hier bin ich mit meinem Vater auf die Iburg gewandert bei seinem ersten Besuch Pfingsten 1952. Dieser Besuch hat Weichen für mein Leben gestellt.

      "Du wirst kein Gymnasium besuchen und kein Abitur machen, du wirst eine Lehre in einem Beruf machen und dann genauso ein Leben wie ich führen.“ Ich weiß nicht, ob es diese Argumente oder die beruhigende Wirkung seiner Anwesenheit waren, die in mir die Kraft weckte, mich für das Dableiben zu entscheiden. Ab dem Tag seiner Abreise war das Heimweh zwar nicht verschwunden - es begleitete mich die ganzen 7 Jahre - aber es war erträglicher geworden.

      Unser Tagesablauf war streng geregelt:

      5.30Uhr wecken und waschen

      6 Uhr hl. Messe in der Kirche

      7 Uhr Frühstück

      7.30 Uhr Freigang draußen

      7.45 Uhr Unterrichtsvorbereitung im Klassenraum

      8.00 Uhr Unterricht im Klassenraum

      13.00 Uhr Partikularexamen in der Kirche

      13.15 Uhr Mittagessen im Speisesaal, mit Vorlesung aus einem frommen Buch

      14.00 Uhr Freizeit draußen

      15.30 Uhr Silentium, freies Studium im Klassenraum

      16.00 Uhr Kaffee im Speisesaal

      17.00 Uhr Silentium, Studium im Klassenraum

      19.00 Uhr Abendessen im Speisesaal

      19.30 Uhr freie Beschäftigung draußen oder drinnen

      20.30 Uhr Abendgebet in der Kirche

      danach Nachtruhe

      An manchen Tagen wurde dieser Rhythmus etwas unterbrochen. So hatten wir am Mittwochnach­mittag kein Studium und konnten in Gruppen das Missionsgelände verlassen, um einen Ausflug in die Umgebung zu machen. Am Samstag war nachmittags Duschtag, wo jede Klasse zu einer bestimmten Zeit duschen konnte. Das Studium begann darum erst um 17.30 Uhr. Der Sonntag zeichnete sich dadurch aus, dass wir länger schlafen konnten und besseres Essen erhielten. Um 7.30 gab es Frühstück. Eine halbe Stunde vor dem Hochamt um 10.00 Uhr hielten wir im Klassenraum eine geistliche Lesung. Es gab eine Bücherei, aus der wir uns geistliche Lektüre ausleihen konnten. Ich las gerne Beschreibungen von Missionaren über ihre Arbeit im Dschungel oder in exotischen Ländern. Später lieh ich mir ein Werk über das Leben der Kleinen Hl. Theresia aus. Nach dem Hoch­amt hatten wir Freizeit bis zum Partikularexamen Das Partikular­examen war eine Besinnung in der Kapelle, in der wir uns Rechenschaft ablegen sollten über unsere Verhalten und unsere rechte Gesinnung am Vormittag. Danach folgte das Mittagessen. Auch der Nachmittag stand zur freien Verfügung. Um 15.30 Uhr gab es eine Andacht in der Kirche bis zum Kaffee um 16.00. Um 18.00 versammelten wir uns wieder im Klassenraum zu einem kurzen Studium zur Vorbereitung des kommenden Schultages.

      Wie die Zeit so wurde auch unser Verhalten streng reglementiert. Ein Regelbüchlein, das jeder Schüler besaß, legte genau fest, wie und mit welcher inneren Motivation man sich in bestimmten Fällen zu verhalten hatte. Als Beispiel seien einige Sätze aus der Anweisung über Wandern und Spaziergänge zitiert.: „An den gemeinsamen Spaziergängen und Wanderungen nehmen alle teil…. Bei jedem Spaziergang trägt einer die Verantwortung (…) Trenne dich beim Wandern nicht von der Gemeinschaft. Die Benutzung von Verkehrsmitteln bedarf der vorherigen Erlaubnis Ebenso suche auch nicht ohne Erlaubnis Privathäuser, Geschäfte oder Gaststätten auf. Im Geleitwort zu diesem Büchlein hieß es: “Mein lieber Freund! Dieses Büchlein will dir sagen, wie Du Dein Leben als Missions­schüler gestalten sollst. Die Anweisungen, die hier gegeben werden, sind nur Rahmen und Plan. Sie warten auf die Formung durch dein Leben. Je mehr du in ihren Geist eindringst, umso sicherer bist du auf dem Wege zu einem reifen Menschen, zu einem guten Priester und Missionar in der Gesellschaft des göttlichen Wortes.

      Schon aus diesen wenigen Worten kann abgelesen werden, worauf es ankam. Wir sollten durch das Leben im Missionshaus auf unsere künftige Tätigkeit als Missionar ausgerichtet werden. Der Orden brauchte Menschen, die ihre Aufgabe als Dienst für Gott ansahen, sich dieser Aufgabe ganz hingaben und die unter Hintanstellen eigener Wünsche dem Orden Gehorsam schworen. Ich hab mich diesem Ziel als Kind ganz unterworfen.

      Zurück zum Alltag im Missionshaus. Für meine religiöse Entwicklung waren die Jahre dort nicht revolutionierend. Ich lebte das, was ich im Elternhaus gelernt hatte, nur viel intensiver. Die religiösen Übungen waren verstärkt, wie der Tagesablauf ausweist. Schon das Wecken begann mit einem religiösen Spruch: „Omnia ad majorem dei gloriam“ (Alles zur größeren Ehre Gottes!) Sogar das Studium wurde alle viertel Stunde durch das Gebet „O mi deus credo in te…(O mein Gott ich glaube an dich...)“ unterbrochen. Der Gedanke an Gott gehörte zum Alltag. Das Partikularexamen in der Mitte des Tages diente der Gewissenserforschung, wie ich den Vormittag mit Gott gelebt hatte. Die höchste Steigerung der religiösen Intensität ergab sich in den Exerzitien, die in den drei Tagen nach der Ankunft aus den Sommerferien im Schweigen stattfanden. Die Vorträge sollten uns von der Erfahrung der Welt abwenden und wieder auf das Leben mit Gott im Kloster ausrichten. In dem sog. Höllenvortrag wurden wir durch die Vertiefung in das Leiden Jesu am Kreuz auf unsere große Schuld hingewiesen, die durch seinen Kreuzestod gesühnt wurde. Daran schloss ich die Beichte an. Ich erinnere mich noch, wie ich mich einmal unter dem Eindruck dieser Predigt der Sünde der Unkeuschheit anklagte, weil ich mit dem Penis den Harnstrahl auf Fliegen auf der Urinrinne und der Wand davor weg scheuchte. Solch seltsame Blüten trieb die religiöse Erziehung bei mir.

      Die Prüderie und Skrupelhaftigkeit entfaltete sich dann besonders in der Zeit der Pubertät, als die Sexualität sich entfaltete, die sexuelle Fantasie sich regte und das Glied mit Versteifung darauf reagierte. In einer hl. Messe stellte ich mir zwei Flugzeuge vor, von denen eines das andere in der Luft betankte. Das empfand ich als sexuellen Akt, der mich erregte. Das durfte aber nach meiner Vorstellung nicht sein. Ich empfand es deshalb