Jenny Karpe

Zwei Ozeane auf Abwegen


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ihrer Heimat zu springen war der Weg zurück in die Realität. Eigentlich.

      »Ich … wie konnte ich das vergessen?«, stotterte Kira. Der Boden unter ihren Füßen geriet ins Wanken, zwischen ihren Ohren brauste es.

      »Vielleicht ist etwas schiefgegangen, nachdem wir gesprungen sind. Wir wissen ja nicht genau, was passieren kann«, überlegte Aaron laut.

      »Überraschung, ihr seid wieder Kinder und dürft euch eure Heimat aus der Ferne ansehen«, imitierte Kira die Stimme von Augustin, den sie seit Jahren nicht mehr in seiner menschlichen Gestalt gesehen hatte. Es kostete sie Mühe, sich an sein gutmütiges Gesicht zu erinnern. Gleichzeitig brodelte Unbehagen in ihrer Magengrube. »Aaron, da stimmt doch etwas nicht! Weswegen sollten wir von der Insel springen?«

      »Hm, du hast recht«, murmelte er nachdenklich. Seine Augen wanderten vom Meer zurück zu Kira. »Er hat ja gesagt, dass wir nur im Notfall springen sollen. Das hier ist kein Notfall.« Dann blickte er auf seine Füße. »Spürst du das eigentlich auch?«

      Kiras Augen weiteten sich. »Ich dachte, mir wäre schwindelig.«

      »Ich auch«, entgegnete Aaron. »Diese Insel ist instabil.«

      »Großartig. Da haben wir unseren Notfall.«

      Jetzt rüttelte das Beben ihre Knochen durch und verschlimmerte das Surren in Kiras Kopf.

      Aaron zog sie vom Abgrund fort. Als sie auf eine Gasse zwischen den Häusern zugingen, neigte sich der Boden in Richtung des Meeres, als wollte die Insel nicht zulassen, dass sie sich vom Fleck rührten. Kira rutschte auf dem Gestein nach unten, aber Aaron hielt sie fest. Schreie durchbrachen den Lärm des Bebens. Hier waren andere Menschen, und plötzlich erinnerte Kira sich an sie. An die dunklen Schemen, die in die Fluten stürzten.

      »Diese Insel!«, entfuhr es ihr. »Aaron, diese Insel haben wir untergehen sehen!«

      Sie waren an jenen Tag zurückgekehrt, an dem Aaron und sie sich kennengelernt hatten. Der Tag, an dem in ihrer Heimat die erste Grenze gezogen worden war. Der Anfang vom Ende. Und sie waren am völlig falschen Ort.

      »Wir haben keine Chance!«, ächzte Kira und krallte sich fester in Aarons Griff. Die Insel neigte sich weiter, die Häuser über ihnen gaben ein beunruhigendes Knarren von sich. »Wir haben gesehen, was passiert!«

      »Ich verstehe das nicht«, rief er. Kiras Blick fixierte seine linke Hand, mit der er eine Straßenlaterne umklammerte. »Was sollen wir tun? Papa will uns doch nicht in den Tod schicken!«

      Kira hätte beinahe aufgelacht, aber es gelang ihr nicht, die Angst in ihrer Brust zerspringen zu lassen.

      »Wir können nicht sterben«, keuchte sie.

      Er hielt inne. »Stimmt.«

      Dann ließ Aaron die Laterne los. Kira presste die Augen zusammen, als sie rückwärts zum Abgrund schlitterten. Sie verloren den Boden unter ihren Füßen. Jetzt wartete nur der Aufprall, gefolgt von der Antwort auf ihre Fragen. Kiras Kopf schnarrte immer lauter, je tiefer sie fielen, und der Wind riss Aarons Worte aus seinem Mund. Kira konnte ihn nicht verstehen, erkannte seine Panik. Sie musste an die fallenden Schatten denken, die sie als Kind beobachtet hatte. War sie letztlich einer davon gewesen?

      Über den Aufprall wusste Kira wenig. Sie war schon zwei Mal von einer Insel gesprungen, hatte aber nur den zerrenden Wind gespürt. Dieses Mal war es anders. Der Atem verließ ihren Körper, als sie auf die Wasseroberfläche traf. Ihr Kopf platzte, Schmerz riss ihre Glieder auseinander.

      »Schatz, ist alles in Ordnung?«

      Das Licht blendete sie durch ihre Lider hindurch. Sie schüttelte den Kopf, bevor sie begriff, dass sie die Stimme nicht kannte.

      »Du hast geschrien«, wurde sie erinnert. Die Stimme klang weich, mütterlich. Verwirrt schlug Kira die Augen auf und sah in das Gesicht einer schmalen Frau. Sie war vermutlich Mitte dreißig, hatte hohe Wangenknochen und eine dünne Nase. Ihre blonden Haare legten sich in Wellen auf ihre Schultern.

      »Carla«, flüsterte sie sanft. »Weißt du, was passiert ist?«

      »…Carla?«, wiederholte Kira. »Ich bin keine Carla.« Ihr brummender Schädel protestierte, der Magen stimmte ein. Hoffentlich übergab sie sich nicht.

      »Der Administrator hat es mir versichert. Er hat eben nach dir gesehen.« Sie hielt inne. »Aber du wirst dich doch an mich erinnern, oder?«

      Mit offenem Mund sah Kira die Frau an. »Der … Administrator? Und, äh, ich weiß wirklich nicht, wer Sie sind.« Sie unterdrückte den Drang, aufzuspringen. Was hatte Augustin vor, was sollte das?

      Die Frau runzelte die Stirn und streichelte behutsam über Kiras Handrücken. »Am besten ruhst du dich aus. Ich hole dir ein Glas Wasser.«

      Schon stand sie auf und schloss die Zimmertür hinter sich. Kira verzog das Gesicht und sah sich desorientiert um. Der Raum war schlicht, aber schön. Auf dem hellen Parkett standen Bücherregale, ein braunes Ledersofa, etliche Topfpflanzen und ein niedriger Tisch, auf dem sich Papiere stapelten. Nirgends lag Sand.

      Kira sah an sich herab und erkannte, dass sie nicht mehr sie selbst war. Immerhin war sie älter als acht Jahre. Ihre Finger waren länger, die Haut daran warf kleine Falten. Jemand hatte sie in ein grässliches gelbes Nachthemd gesteckt und ihr einen neuen Namen gegeben. Kira vergrub ihr Gesicht in den Händen und versuchte, ruhig zu atmen. Dann hielt sie die Luft an.

      Carla war tatsächlich ihr Name. Carla Frenton. Es war der Name ihrer menschlichen Seele – jenem Teil von ihr, der im Programm zu einem neuen Ich umgebaut worden war. Aber diesen Namen kannte fast niemand.

      Das Quietschen der Tür ließ sie hochschrecken. Die Frau hatte ihr ein Glas Wasser mitgebracht.

      »Wo ist Aaron?«, wollte Kira wissen. »Ist ihm etwas zugestoßen?«

      Ihr Gegenüber senkte mitleidig die Augenbrauen. »Von wem sprichst du?«

      »Na, von Aaron! Er ist mein Freund, mein Partner.«

      »Ist er das?«, hakte sie nach und setzte sich ungefragt auf die Bettkante, während sie das Wasserglas auf dem Nachttisch abstellte. Diese Art von Zuneigung gefiel ihr nicht.

      »Ja«, beharrte Kira.

      »Wie lange kennt ihr euch schon?«

      »Ich war acht, er zehn«, entgegnete sie. »Warum glauben Sie mir nicht, dass er mein Freund ist?«

      »Carla, ich kenne dich seit vielen Jahren. Du warst nie an Männern interessiert. Es tut weh, solche Worte von dir zu hören.«

      Kira erbleichte. »Ich fürchte, ich stecke im falschen Körper«, nuschelte sie, zog ihre Beine an und versuchte vergeblich, an der Fremden vorbei aus dem Bett zu steigen. Das Gesicht der Frau verfinsterte sich.

      »Carla, du solltest liegen bleiben. Wir müssen reden. Erst dieser Nervenzusammenbruch heute Morgen … und ausgerechnet Mortimer kommt vorbei, um nach deiner Genesung zu fragen? Ein Glück, dass dir nichts passiert ist!«

      »Nervenzusammenbruch?«

      »Du wolltest aus einem Fenster springen!«

      »Ich bin nicht aus dem Fenster gesprungen, ich bin von einer Stadt gesprungen«, erklärte sie. »Von einer Insel.« Sie hoffte auf einen Funken Erkenntnis bei der Fremden, stattdessen legte sie die Stirn in Falten.

      »Ich werde Mortimer um Rat fragen, Schatz. Er soll dir das wegprogrammieren, er hat einige Fehler übersehen, als er dich wiederhergestellt hat.«

      Sie wollte aufstehen, doch Kiras Hand grub sich hartnäckig in ihren Unterarm. »Ist er dieser … Administrator

      »Carla, du machst mir Angst.« Ihre Augenbrauen zogen sich zusammen. »Den Administrator kennt jedes Kind. Er hat unsere Inseln programmiert, das weißt du doch.«

      Kira biss sich auf die Lippe und starrte ihr Gegenüber an. Ihre Hände zitterten, als die Frau nach ihnen griff.

      »Bitte schau nicht so, Schatz.