Jenny Karpe

Zwei Ozeane auf Abwegen


Скачать книгу

      Zwei bullige Gestalten zuckten zusammen und sahen sie unschlüssig an. Einer der beiden trat näher. Er trug leichte Kleidung und ein verschwitztes, gelbliches Stirnband.

      »Tach auch. Haben Sie sich verlaufen?«

      »So in der Art«, bejahte Kira und schöpfte Hoffnung aus dem Umstand, dass der Mann seine Ausrüstung auf dem Boden abstellte, um ihr zuzuhören. »Ich bin gerade erst in diesen Teil des Programms gekommen, aber irgendwie bin ich falsch. Ich sollte auf Insel 317 geschickt werden. Wo bin ich genau?«

      Niemand auf ihrer Heimatinsel wusste, dass sie alle nur Teil eines Programms waren. Auch nach den Geschehnissen vor drei Jahren, in dessen Folge Kira zur Leiterin von Insel 317 befördert worden war, hatte sie es vorgezogen, niemanden einzuweihen. Aaron wusste es natürlich, aber der Rest der Insel sollte nicht mit der Ungewissheit und Furcht leben, die diese Tatsache mit sich brachte. Wenn dieser Hafenarbeiter wusste, dass sie Teil eines Programms waren, war sein Experiment erheblich anders kalibriert als ihres. Andernfalls würde Kira einige wirre Worte murmeln und davonstürmen, auch wenn sie sich schon bei dem Gedanken schämte.

      »Insel 317?«, wiederholte der Mann langsam. Kiras Herz sackte ein Stückchen tiefer. »Das ist ganz schön weit weg. Wir sind hier auf Insel 002, quasi dem Zentrum aller Programme. Da wurden Sie ganz schön falsch herumgeschickt.« Jetzt verdunkelte sich sein Blick, er trat ein wenig näher und musterte Kira argwöhnisch. »Und woher wissen Sie, dass Sie sich in einem Programm befinden?«

      »Ich stamme von Insel 001, da weiß man das eben«, log Kira rasch. Hoffentlich schluckte er das.

      »Lügen Sie mich nicht an, Insel 001 ist ganz schön löchrig«, lachte ihr Gegenüber und deutete nach oben. »Aber okay, ich kann verstehen, wenn Sie nicht darüber reden wollen.« Nun senkte sich seine Stimme bedrohlich. »Und posaunen Sie das nicht herum – die Wände haben Ohren. Überall.«

      »Reden Sie vom Administrator?«

      Der Hafenarbeiter verschluckte sich an seinem Erstaunen. Hustend sah er sich nach allen Seiten um. »Den Namen würde ich an Ihrer Stelle nicht laut aussprechen. Aber ja, er hört mit. Und natürlich die R4, die laufen hier und draußen überall rum. Mir sind die unheimlich.«

      Kira erinnerte sich, dass die R4 neben den R1, R2 und R3 Bestandteil eines Labors waren. Es handelte sich dabei um Roboter, die jeweils unterschiedliche Aufgaben verfolgten. R4 blieben außerhalb des Labors und kümmerten sich um Botengänge, Datentransfers. Zumindest konnte sie sich daran erinnern, die emotionslosen Körper auf den Fluren von Wyoming Wonders gesehen zu haben. Sie hütete sich, auch nur einen Ton darüber zu verlieren. Kira wusste ohnehin viel zu viel über das Programm. Trotzdem gab es einiges, das sie nicht verstand. Wie waren die Experimente verbunden? Was geschah, wenn eine Seele starb? Und wer war dieser Administrator?

      Kira lächelte harmlos. »Ich werde mich daran halten, vielen Dank. Sagen Sie mal, gibt es hier Forscher, an die ich mich wenden kann?«

      »Das ist eine gute Idee«, stimmte der Arbeiter zu und sammelte seine Utensilien vom Boden auf. »Wir haben eine Forscherin, die ganz schön eng mit dem Administrator zusammenarbeitet. Sie wird Sie zurück auf Ihre Insel bringen können.«

      »Wo finde ich diese Forscherin?«, hakte Kira weiter.

      »In der Weststadt. Fragen Sie nach Juniper.«

      Kapitel 02

      Jede Gewissheit löste sich nach und nach auf. Rückblickend hatte Augustin gut in der Überzeugung gelebt, ein Optiker, Witwer und Vater zu sein. Er konnte sich an über dreißig Jahre seines Lebens erinnern, die nie geschehen waren. Jede Seele wurde ins Programm eingefügt und hatte eine Funktion im System, sollte Antworten auf die Fragen der Forscher geben. Manche Personen besaßen nicht einmal eine Seele. Erinnerungen an Augustins Frau waren letztlich nur Codezeilen, die sein Dasein realistischer wirken ließen.

      Er selbst war kaum anders. Kurz nach dem Start des Experiments hatte er es verlassen. Er war vom Rand der Insel 317 gestürzt und wie durch ein Wunder nicht im Ozean, sondern im Körper eines klobigen R1-Roboters gelandet. Seitdem betrachtete er das Leben von außen. Er hatte betäubt Aarons Trauer um seinen Vater ansehen müssen. Den Grenzbau und die zunehmenden Konflikte beobachtet. Hilflos gehofft, dass sich etwas ändern würde. Schließlich hatten Aaron und seine Freundin Kira ihr programmiertes Schicksal selbst in die Hand genommen und es mit einem halsbrecherischen Plan beendet. Die Probleme, die Überwachung, das Experiment – seit heute Nacht war all das vorbei. Weil die beiden Forscher nun selbst zu den digitalen Bewohnern zählten, war Augustin allein in der Realität geblieben. Ab jetzt würde ihn niemand mehr stören. Er bewachte Experiment 317, war Verwalter und Beschützer. Für immer.

      Augustin starrte auf die Monitore und spürte eine unheimliche Last auf seinen Schaltkreisen. Zumindest für einige Stunden hatte er ein gleichermaßen beängstigendes wie auch sicheres Gefühl verspürt. Als wäre nun endlich alles vorbei, sogar gut.

      Wie naiv.

      Hinter ihm durchsuchte jemand das Labor. Ein Mensch. Solange Augustin sich nicht bewegte, würde der Fremde vielleicht nur prüfen, woher die nächtliche Fehlermeldung gekommen war, und ob alles funktionierte. Im Nebenraum lagen die schlummernden Körper der beiden Forscher, Doktor Hana Tora und Doktor Elliott Naury. Es machte den Anschein, als wären sie mit den digitalen Avataren bei ihrer Arbeit im Experiment. Tatsächlich waren die beiden Seelen jüngst ausgezogen und hatten sich unfreiwillig für das friedliche Inselleben entschieden.

      Starr beobachtete Augustin die digitalen Wellen und hörte den Schritten des Fremden zu. In seinem Nacken stellte sich jedes einzelne Härchen auf, obwohl er weder einen Nacken noch Härchen besaß. Er steckte zwar im Körper eines Roboters, trotzdem konnte er sich an viele menschliche Empfindungen erinnern. Er hatte kein Wetterbein oder Phantomschmerzen, sondern hin und wieder eine ausgeprägte Furcht.

      Der Eindringling stellte sich direkt neben ihn und musterte die Monitore. Eine lautlose Fehlermeldung vor Augustins innerem Auge verkündete eine Überlastung, oder – wie er es nannte – Panik.

      »Interessant«, murmelte der Fremde. Roboter reagierten normalerweise auf menschliche Stimmen, also drehte Augustin seinen Kopf. Neben ihm stand ein Mann. Er war etwa Mitte fünfzig, hatte einen sauber getrimmten Bart und schwere Tränensäcke unter den Augen. Sein dunkles, ordentlich gekämmtes Haar ergraute allmählich an den Schläfen. Er trug ein dunkelblaues Hemd mit dem orangenen Logo von Wyoming Wonders, also gehörte er zu den Mitarbeitern. Sein fachmännischer Blick löste sich von den Bildschirmen und wandte sich Augustin zu.

      »Hallo, Phil.«

      Gleich zwei weitere Warnmeldungen erschienen. Dieser Name reichte aus, um Augustins System in Aufruhr zu bringen, von seiner Seele ganz zu schweigen – immerhin war es ihr Name.

      »Bitte?«, entgegnete er, wie es jeder Roboter getan hätte.

      »Du bist Phil Williams, eine Seele. Keine KI. Du brauchst dich nicht zu verstellen.«

      »Da muss ein Fehler vorliegen«, log Augustin.

      Der linke Vorderarm des Mannes leuchtete eisblau auf. Langsam schob er seinen Ärmel nach oben, ohne den Roboter aus den Augen zu lassen. Der Stoff hatte ein Bedienfeld verborgen, das direkt auf seiner Haut lag – oder war es ein Teil seines Körpers? Der Mann drückte darauf. Im selben Moment zuckte Augustin zusammen, als hätte man eines seiner Kabel eingeklemmt. Seine Befehle wurden nicht mehr ausgeführt. Panisch probierte er einige von ihnen aus, doch Augustin konnte nicht einmal den Kopf drehen.

      »Lügen ist sinnlos«, schnurrte der Fremde und vollführte eine gleichgültige Handbewegung. »Also, Phil, ich weiß längst, was hier vorgefallen ist. Im Grunde musst du gar nicht reden.«

      »Was für ein Schwachsinn«, entfuhr es Augustin. Er konnte spüren, wie sich eine kalte Aura im Raum ausbreitete, ausgelöst vom breiten Grinsen des Mannes.

      »Fein, du bist also wirklich Phil.«

      »Ich bevorzuge Augustin.«

      »Fein,