Jenny Karpe

Zwei Ozeane auf Abwegen


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hilfsbereit wie bisher, dann habt ihr schon bald die Gelegenheit, Gutes zu tun.« Noch immer sah er Kira in die Augen, als wolle er auf diese Weise ihre Seele von Carlas Körper lösen. Das Knistern hinter ihrer Stirn verschlimmerte sich weiter, zwischen den Ohren sauste und brummte es. Der Administrator grinste. »Auch du kannst Gutes tun, Carla.«

      Dann verschwand er und hinterließ feine Pixel, die wie Schnee zu Boden rieselten. Während Kira sich fühlte, als wäre ihr Schädel aufgebrochen worden, applaudierte die Menge freudig. Ihr war übel. Jetzt brauchte Kira dringend jemanden, der ihr half. Zum Glück schien sie dafür am besten Ort von Wyoming Wonders zu sein.

      Auf dem Weg zurück zu Junipers Haus rempelte sie unzählige Menschen an, während sie mit den Tränen kämpfte. Wie konnte es dieser Typ wagen, Aaron verschwinden zu lassen? Er war keine Zirkusnummer und Kiras Herz kein Spielzeug, das man quetschen konnte, damit es lustige Geräusche von sich gab. Was für eine Herausforderung sollte das für sie sein? Glaubte er, dass sie in den kommenden Tagen jedem Idioten half, um in der nächsten Woche mit einer geringen Wahrscheinlichkeit ebenfalls verschickt zu werden? Vermutlich würde sie dann am Ende aller Experimente landen, einem einzelnen Felsen von der Größe einer Litfaßsäule, die aus dem Meer herausragte wie eine Farce. Die Schwärze hinter ihren Augen pulsierte und schlug Funken.

      Im nächsten Moment stolperte sie in Juniper. Ohne es bemerkt zu haben, hatte sie das helle, freundliche Haus gefunden, vor dessen Eingangstür eine reichlich verwirrte Frau stand. Kira war für einen Moment ebenfalls verwirrt, in erster Linie, weil sie nicht damit gerechnet hatte, sich sofort erklären zu müssen. Ein untersetzter Mann im schwarzen Anzug stand neben der Forscherin und musterte Kira mit übertriebenem Desinteresse.

      »Du bist wieder da«, flüsterte Juniper und schloss sie in die Arme. Kira brachte nur ein erschrockenes Glucksen hervor. »Du hast das einzig Logische getan!«

      »W-wir müssen reden«, bat Kira.

      »Ja doch, natürlich. Komm herein, du bist ja ganz durcheinander.« Juniper öffnete die Tür und hielt ihre vermeintliche Freundin sanft bei den Schultern, während sie Kira hineinführte.

      Die Eingangshalle war mächtig und hell, aber leer. Juniper kostete offenbar nicht den Prunk aus, den das Forscherdasein mit sich brachte. Zumindest nicht so, wie es Khan Elliott von Amerika getan hatte. Kira zählte die Stufen auf der Treppe und hatte ihre Anzahl vergessen, als sie oben ankam. Das Gefühl im Kopf war schwächer geworden, aber es hatte ein dumpfes Echo in ihrem Körper hinterlassen.

      »Es wäre schön, wenn wir allein sein könnten«, schlug Kira vor und meinte damit den Mann, der Juniper auf Schritt und Tritt folgte.

      »Er hilft mir aber«, widersprach sie. »Ich verweigere Hilfe nicht, und ich nehme sie gerne an.«

      Kira bemerkte den kratzenden Unterton in ihrer Stimme.

      »Es tut mir leid, dass ich verschwunden bin. Das hier ist viel für mich«, murmelte Kira. »Mir würde es helfen, wenn er nicht dabei ist.«

      Juniper überlegte kurz, verlor ihr souveränes Lächeln nicht. »Wenn es dich stört, bleibt er draußen. Zane, tust du uns den Gefallen?«

      »Natürlich«, antwortete der Mann. »Soll ich Tee aufsetzen?«

      Juniper nickte, während Kira einen Kloß im Hals spürte. Tee? Auf Insel 317 gab es lediglich welchen im Tower, wo alle Medikamente aufbewahrt wurden. Aus Ehrfurcht waren diese Packungen nie angerührt worden. Stattdessen hatten die Amerikaner und Ruaner vor allem in den ersten Jahren Sonnenschutz benötigt.

      Als Zane die Treppe hinuntereilte, führte Juniper sie einen Flur entlang, an dessen Ende sie eine Doppeltür öffnete. Kira betrat eine lichtdurchflutete Bibliothek. Der Geruch erinnerte sie an ihr altes Kinderzimmer und ließ sie beinahe weinen. Sie hatte den Duft der Seiten lange verachtet, jetzt vermisste sie ihn.

      An zwei Wänden des Raumes standen deckenhohe Regale, die mit Dokumenten und ledergebundenen Folianten gefüllt waren. Unter einem breiten Fenster wartete ein Sofa aus so hellem Leder, dass Kira sich nicht setzen wollte. Sie erinnerte sich an den ranzigen Lieblingssessel ihres Vaters, den er vergöttert hatte. Überrascht stellte sie fest, dass sie sogar den leicht zu manipulierenden Eugene Solomon vermisste, der so viele dumme Dinge sagte, dass Kira ihn manchmal gerne erwürgt hätte. Aber seit die Insel nicht mehr in Amerika und Ruan geteilt war, hatten sich seine rassistischen Bemerkungen gelegt. Er war ein harmloser Zeitgenosse geworden.

      Kira setzte sich so vorsichtig auf das Polster, als handelte es sich um einen schlafenden Alligator. Juniper bemerkte ihr Unbehagen sofort.

      »Hab keine Angst«, sagte sie. »Ich bin hier, Carla.«

      »Also, was das angeht … ich brauche deine Hilfe. Und ich glaube, dass du auch meine benötigen wirst.«

      Juniper rückte näher und griff nach Kiras Händen. In ihren blauen Augen glitzerte etwas, das Kira recht gab. Sie hatte einen Weg gefunden, damit sie ihr zuhörte. Manchmal war es gut, um Hilfe zu bitten.

      »Ich werde dir jetzt eine Reihe von schwer vorstellbaren Dingen erzählen«, begann sie. Juniper nickte wie ein Kind, das nicht weiß, wie schmerzhaft ein abgerissenes Pflaster sein kann. »Zuallererst müssen wir uns darauf einigen, dass ich nicht Carla bin.«

      »Der Administrator hat dich eben selbst Carla genannt«, begann Juniper, doch Kira schüttelte den Kopf.

      »Ich heiße Kira. Und der Junge, der heute verschwunden ist, war mein Freund Aaron. Mein fester Freund. Aber, äh, es war nicht sein Körper. Wir sind von unserer Insel hergekommen.«

      »Und welche Insel soll das sein?« Junipers Nasenflügel blähten sich ungeduldig. Innerlich kontaktiere sie offenbar eine psychiatrische Pflegekraft. Oder sie versuchte, Zane telepathisch mitzuteilen, dass Kira besser doch keinen Tee bekam.

      »Insel 317«, sagte Kira mit fester Stimme. »Ich würde vorschlagen, dass du dich kurz von diesem Experiment löst und dann in deinem Labor nachschaust. Der Name meiner Seele ist tatsächlich Carla, Carla Frenton. Ich gehöre nicht hierher, und das wirst du in den Daten sehen können.«

      »Ich verbringe nicht viel Zeit in meinem Labor«, lachte Juniper. »Ich habe längst nicht die Möglichkeiten, die ich einst hatte. Der Administrator hat dort seine Zentrale eingerichtet, und ich helfe ihm gerne.«

      »Natürlich tust du das«, knurrte Kira, obwohl sie es nicht wollte. Jemand klopfte. Zane erschien mit einem Tablett, auf dem zwei feine Tassen, eine dampfende Kanne und ein Schälchen mit kostbaren Zuckerwürfeln standen.

      »Ich bin bereit, das für dich zu tun«, warf Juniper plötzlich ein. »So lässt sich feststellen, wer du wirklich bist. Aber eines musst du mir versprechen.«

      »Das wäre?« Kira nahm widerwillig eine Tasse entgegen und ließ sich von Juniper einschenken, während Zane durch die Tür verschwand. Es wunderte sie, wie schnell die Forscherin zustimmte.

      »Wenn du nicht Carla bist … hilfst du mir, sie zurückzubekommen?«

      »Falls ich dir da überhaupt helfen kann.« Kira nickte. Was blieb ihr anderes übrig?

      »Nun, du scheinst eine Menge über Wyoming Wonders zu wissen«, murmelte sie. »Die Bewohner von Insel 002 wurden darüber informiert, dass sie Teil eines Experiments sind. Sie haben gelernt, damit zu leben. Ich kann mir gut vorstellen, dass das überall sonst für Bestürzung sorgt.«

      »Das, äh, kannst du laut sagen«, murmelte Kira. »Mir platzt manchmal der Kopf, wenn ich darüber nachdenke, was außerhalb unseres Labors liegt.«

      »Fällt es dir schwer, dich an Details zu erinnern?«

      Kira nickte verwundert. »Woher weißt du das?«

      »Das ist ganz natürlich. Die Seelen haben ein etwas eingeschränktes Speichersystem. Wenn ich gemein wäre, würde ich sagen, dass ihr ein kleineres Gehirn habt als reale Menschen, aber das wäre nicht korrekt.«

      »Warum?«

      »Weil die Größe eines Gehirnes nicht immer etwas über die Klugheit aussagt, ganz zu schweigen von hundert