Jenny Karpe

Zwei Ozeane auf Abwegen


Скачать книгу

aber eine Antwort.

      »Und zum Glück sind eure Köpfe programmierbar«, kommentierte eine geschmeidige Stimme. Bei diesem Klang stolperte Kiras Herz.

      Der Administrator stand im Raum. Er winkte schelmisch und hob dabei die Augenbrauen an. Kira sprang auf, aber der Mann war schneller. Er packte zu, klammerte sich an sie wie in einer stürmischen, gewalttätigen Umarmung. Kira trat um sich, aber ihm schien das nichts auszumachen. Sie roch das schlichte Waschmittel des Hemdes und irgendein erdiges Parfum.

      »June, was soll das?«, fuhr der Administrator fort. »Ich habe gerade wirklich keine Zeit für dich. Du solltest sie lediglich in deinen Wänden behalten, selbst das hast du nicht geschafft. Während ich ohne jegliche Unterstützung meine Finger wundschreibe, nippst du hier am Tee und berätst irgendwelche Pläne!«

      Selbst ein kräftiges Knie in den Weichteilen schien ihn nicht aus der Ruhe zu bringen. Nahm er keine Schmerzen wahr? Mit Schrecken stellte Kira fest, dass das innerhalb des Programms eine kluge Eigenschaft war.

      »Lass sie los«, krächzte Juniper. »Und du brauchst ihre Erinnerungen nicht löschen, ich—«

      »Als ich gesehen habe, dass sie dir entwischt ist, habe ich Cosmo hergebracht und vor ihren Augen verschwinden lassen, das war so eine gute Alternative! Wie viele Probleme soll ich eigentlich auf einmal beheben?«

      Kira hatte es aufgegeben, nach ihm zu treten. Sie bekam kaum Luft, der Geruch benebelte ihre Sinne. Außerdem wollte sie ihre Kräfte aufsparen – selbst, wenn sie nicht wusste, wofür.

      »Ich habe keine Ahnung, was du vorhast, Mortimer.«

      »Du solltest lediglich Befehle ausführen, ist das so schwer?«

      »Leg dir dafür einen Roboter zu.«

      »Habe ich!« Seine Stimme dröhnte.

      Kira wurde hellhörig. Roboter? War Augustin bei ihm?

      »Wir sprechen uns gleich. Logg dich aus. Ich beschränke den Zugriff auf alle Erinnerungen nach dem Vorfall mit Cosmo und überlege mir eine Alternative. Vielleicht kann ich sie eine Weile beschäftigen.«

      Er schien irgendeinen Plan durchzuführen. So oder so, gleich würde er ihr Gedächtnis kappen. Hatte er etwas gesagt, das sie nicht wissen durfte? Kira atmete tief ein und drückte ihre Arme auseinander, doch der Widerstand wurde weich und glatt. Da tauchte ihr Kopf in weißes Gelee, ihr Atem verschwand. Zu spät.

      Kapitel 04

      Juniper Hewlett war eine Dame ohne besondere Eigenschaften. Reinlich, ruhig und routiniert. Sie war Forscherin von Insel 002, aber sie selbst bezeichnete sich stets als Neurowissenschaftlerin. Juniper konnte Muster in Gehirnen erkennen, wo andere nur Wirbel und Wolken sahen. Ihre Aufgabe war es, die gestrandeten Seelen ihrer Insel zu kalibrieren, ihren Leben einen neuen Sinn zu geben. Meistens gelang das, und das machte sie glücklich.

      Heute war sie allerdings mit einem mulmigen Gefühl aufgewacht, das sich im Laufe des Tages verschlimmert hatte. Erst erlitt ihre Freundin einen Nervenzusammenbruch, dann entpuppte sie sich als Flüchtling einer weit entfernten Insel. Schließlich erfuhr Juniper, dass sie den Namen der Frau vergessen hatte, die sie am meisten liebte. So sehr sie sich auch konzentrierte: Der einzige Name, der ihr sofort einfiel, war Carla. Doch Carla war offenbar diese Kira gewesen, der Name ihrer Seele. Und Juniper verfluchte diese Seele. Wie konnte es dieses junge Ding wagen, sich in einen fremden Körper zu schleichen und die alte Seele zu überschreiben? Das gehörte sich nicht. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie das Leben auf Insel 002 aus dem Gleichgewicht gebracht.

      Mortimer hatte das Programm verlassen und sie angewiesen, unverzüglich zu folgen. Noch saß Juniper allein auf dem hellen Sofa in der Bibliothek und betrachtete die unberührte Tasse Tee. Sie hatte geahnt, dass es passieren würde. Befürchtet. Nun war auch der Körper von Carla fort. Die Fremde hatte ihn mitgenommen, dieses Biest. Jetzt hatte sie weder den Namen noch den Körper der Person, die sie liebte. Der Verlust nistete wie ein Kuckuck in ihrem Brustkorb.

      Immer wieder fuhr sie mit dem Daumen über die Stelle, an der sich in der Realität das U-USB-Kabel befand. Es schickte ihre Seele regelmäßig von ihrem eigentlichen Körper in das Programm, aber nie dauerhaft. Sobald das Kabel gezogen wurde, war sie zurück. Nur ein Teil von ihr lebte auf Insel 002, obwohl es sich längst anfühlte, als wäre dies ihre wahre Heimat.

      Sie brauchte nur den Stecker ziehen und sich hinter die Monitore klemmen, vielleicht fand sie dann einen Hinweis auf den gefräßigen Vogel in ihrem Herzen. Doch etwas hielt sie zurück. Wie konnte es sein, dass sie vergessen hatte, wer mit ihr zusammenlebte? Sie hatte ihr Gesicht vor Augen, ihr Lachen im Ohr. Juniper war keine umprogrammierte Seele. Sie war nicht nur Bestandteil eines Codes, der beliebig erweitert oder verkürzt werden konnte. Juniper hatte ein Recht auf ihre Erinnerungen.

      Nervös nestelte sie an dem Stecker herum. Gleich würde sie ihn ziehen. Aber was, wenn der Administrator wieder so unwirsch zu ihr war, keine Zeit hatte? Sie teilte schon seit zehn Jahren das Labor mit ihm und kannte seine Launen.

      Juniper holte tief Luft und ließ die Hand wieder sinken. Warum scherte sie sich um ihr Herz? Dort draußen gab es Probleme, die größer waren als ihre. Und sie hatten in all den Jahren keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Allmählich ging ihnen die Zeit aus.

      Dann schüttelte sie den Kopf und zog an dem unsichtbaren Stecker. Einen Moment lang war alles so weiß, dass sie hoffte, endlich zu sterben und im Programm bleiben zu können, ohne Verpflichtungen. Für immer in dem schönen Haus, für immer versorgt, für immer jung, aber für immer allein. Sie riss die Augen auf und versuchte, ihre Atmung zu kontrollieren. Mortimer sollte sie nicht hören, denn es hatte etwas furchtbar Erniedrigendes, wenn er sie direkt nach der Rückkehr aus dem Programm sah. Juniper setzte sich langsam auf und stellte fest, dass sie nassgeschwitzt war. Beim Anblick ihrer faltigen Hände, die nach dem grauen Pullover griffen, wurde ihr schwer ums Herz. Wyoming Wonders stand unter dem orangenen Dreieck, das drei minimalistische weiße Bäume zeigte. Das Logo prangte auf ihrer Brust, obwohl es hier niemanden gab, der nicht wusste, wo er sich befand. Wozu brauchte es Konformität, wenn alle im selben Boot saßen? Juniper schüttelte die Gedanken hinfort und setzte sich mühevoll auf. Ihre Knie knackten. Sie ging an dem winzigen Spiegel vorbei, der zu gern ihr wahres Alter offenbarte. Seit zehn Jahren hatte sie ihre weißen Haare nicht mehr geschnitten. Sie waren schon in ihren Vierzigern ergraut und erinnerten Juniper stets an die Grausamkeit der Zeit.

      Neben der Tür zum Monitorraum blieb sie stehen. Sie lauschte, hörte aber nur ein technisches Brummen und Finger auf einer Tastatur. Also verkniff sie sich ein Seufzen und trat ein.

      »Mortimer.«

      »Mo«, korrigierte er sofort.

      »Juniper«, entgegnete sie.

      »Hm?«

      Der Administrator hatte keinen Humor. »Ich habe zu tun«, stellte er klar. »Kannst du warten?«

      »Nun, Mortimer, ich bin die leitende Forscherin dieses Experiments. Meinst du nicht, dass ich mich selbst um meine Angelegenheiten kümmern kann?«

      Beim Wort Angelegenheiten hob der Administrator die Augenbrauen.

      »Aha«, machte er nur. »Dann sei bitte leise. Wir müssen uns konzentrieren.«

      Erst jetzt bemerkte Juniper den R1 zu ihrer Rechten, der eng an der Wand stand und mit Kabeln an die zentrale Konsole angeschlossen war. Sein Lämpchen blinkte so schnell, dass es fast durchgängig leuchtete. Ein derart altes Modell hatte sie schon ewig nicht mehr gesehen. Warum legte sich Mortimer ausgerechnet so eine lahme Ente zu?

      »Was macht er hier? Wenn er länger bleibt, solltest du ihn mir vorstellen«, scherzte sie.

      »Sollte ich?«, fragte der Administrator schmunzelnd und drehte sich auf seinem Stuhl herum. »Das ist Augustin.«

      »Er hat … einen Namen?«

      »Ja. Auf Phil reagiert er ungern. Wir werden eine Weile mit ihm zusammenarbeiten. Und jetzt