Günter Tolar

Mein Mann


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      Günter Tolar

      MEIN MANN

      Tatsachen-Roman

      (Nicht veröffentlichte Originalfassung)

      GESCHRIEBEN 4.8.1991 (Bregenz) bis 14.11.1991 (Wien)

      FÜR NORBERT

      VORWORT

      „AIDS IST NICHT WIRKLICH EINE KRANKHEIT,

      es vereinfacht die Dinge, sie als eine solche zu bezeichnen, es ist ein Zustand von Schwäche und Ergebung, welcher dem Tier, das man in sich trug, den Käfig öffnet, dem Tier, dem ich gezwungenermaßen unumschränkte Vollmacht gebe, damit es mich verschlingt, dass ich mir lebendigen Leibes antun lassen muss, was an meinem Leichnam zu tun es sich anschickte, um ihn zu zersetzen. Die Pneumozystis-Pilze, würgende Boas für Lunge und Atem, und die Toxoplasmose-Erreger, die das Hirn zerrütten, leben im Inneren jedes Menschen, nur verweigert ihnen das Gleichgewicht seines Immunsystems schlicht und einfach das Bürgerrecht, während Aids ihnen grünes Licht gibt und die Schleusen der Zerstörung öffnet.“

      Herve Guibert - "Dem Freund, der mir das Leben nicht gerettet hat."

      Kapitel 1

      „MACH’ ORDNUNG IN DEINEM SCHMERZ“,

      sagte Roswitha, meine riegelsame Nachbarin, die immer jemand brauchte, um sich um ihn kümmern zu können.

      „Ich finde es gut, wenn du darüber nachdenkst, darüber schreibst, darüber sprichst“, fügte sie hinzu, „mit jedem mal verdaust du es ein Stückchen mehr.“

      Roswitha wohnte die ganzen fünfzehn Jahre, die ich und Norbert in diesem Haus lebten, ein Stockwerk tiefer. Wir grüßten einander, nicht mehr, sprachen kaum miteinander. Norbert hatte mehr Kontakt zu Roswitha, ich sträubte mich aus Gründen, die ich selbst nicht nennen kann. Ich sträubte mich, damit genug. Erst nach der Geschichte mit Norbert lernte ich sie wirklich kennen, sehr schätzen und sogar ein wenig lieben.

      Norbert soll also verdaut werden und Nachdenken, Schreiben oder Reden soll diese Verdauung anregen. Wie unappetitlich ein Vokabular doch sein kann.

      Alles das sagte Roswitha mit der ihr eigenen, kindlichen Nachdenklichkeit, kraus gezogener Stirn und intensivem Blick vor sich hin.

      Ich begann also, Ordnung zu schreiben, zu denken, zu reden. Damit folgte ich aber nicht nur dem Ansinnen Roswithas. Auch Herbert, mein Regisseur, hatte, als ich ihm die Geschichte erzählte, sofort gesagt, dass das niedergeschrieben gehörte.

      So fand ich mich in den nächsten Wochen immer wieder vor der Schreibmaschine. Mehr nachdenkend als schreibend. Mehr weinend, als klar denkend. Ordnung machend auf dem Weg, auf dem ich mich befand, befinden wollte, unnachgiebig. Dennoch Gedanken fassend. Zumindest versuchend, hie und da einen zu fassen zu kriegen. Besonders fündig wurde ich immer wieder im Haus in St. Oswald, wohin ich mich mit meinem Denkzeug gerne zurückzog. Hier war ich mit Norbert besonders allein.

      Vor mir die Bücherregale, deren Vergrößerung wir noch miteinander ausmaßen, zwei Tage, nachdem Norbert sein Testament geschrieben hatte. Er zeichnete noch eine ordentliche Skizze, wissend, dass er sie nicht mehr realisieren würde. Wenn ich meinen Kopf sehr weit nach rechts drehe, sehe ich die Bücher, die Norbert nicht in unserer Wiener Wohnung aufbewahrt sehen wollte, schwule, schwüle Lektüre, Männergeschichten, literarische oder einfach spekulative, immer ästhetisch und immer ätherisch. Noch weiter rechts steht auf einem Regal sein Malzeug. Norbert betrieb Hinterglasmalerei. Kreativ und kopierend, beides mit Hingabe, Können und Selbstkritik. Ich musste einige Glasplatten, nachdem Norbert sie stundenlang bemalt hatte, zerbrechen hören und auch zusehen, wie er sie die lange Treppe hinunter in die Mülltonne trug, sie sorgsam verbergend, dass ich sie nicht sehen konnte. Totale Vernichtung. Eine einzige Glasplatte hat er vergessen, ich rahmte sie. Freunde sagten mir, ich hätte sie besser wegschmeißen sollen, weil Norbert sie sicher auch weggeschmissen hätte. Einige seiner vielen Schallplatten waren auch noch da. Er brachte immer aus Wien welche mit, hörte sie sich an und transportierte sie dann wieder auf einen der vielen Stapel, die wie Spalierobst in unserer Wiener Wohnung herumstanden.

      Ich vermeide es zumeist, den Blick so schweifen zu lassen, weil ich die ohnedies permanente Präsenz meines Freundes nicht noch weiter rufen will. Weil ich „mit all dem fertig“ werden soll, wie mir meine Freunde rieten. Weil ich „darüber hinwegkommen“ muss, wie sie meinen immerwährend vorhandenen Schmerz kopfschüttelnd kritisierten. Weil ich doch „an das viele Elend in der Welt denken“ soll.

      „Zeigefinger, die mich umgeben“, erklärte ich Norbert, mit dem ich, wie so oft nach seinem Tod, gerade wieder plauderte.

      Sie blieb dennoch unfassbar, die Tatsache, dass Norbert am 14. März 1991 Selbstmord beging. Sein Tod war im Polizeiprotokoll sachlich und drastisch vermerkt:

      „14.3.1991, 23 Uhr 37, U4 - Station Meidling - Gleis 1 - Todesursache: Kopf-Rumpf – Trennung“.

      Es ist gerade fünf Monate her, dass das geschah.

      Norbert und ich waren Freunde seit fünfzehn Jahren. Fünfzehn Jahre lang lebten wir zusammen und teilten buchstäblich alles miteinander. Ich sträube mich gegen das Klischee „teilten alles miteinander“ - und doch, ich vermag es nicht anders auszudrücken. Wir teilten alles miteinander. Es gab nichts, was einer allein hatte. Nichts. Bei unseren Freunden und Bekannten waren wir als ein ideales Paar angesehen, scheinbar überhaupt nicht zusammenpassend, und doch in einem wunderbaren Maß harmonisierend, dass es viele einfach nicht glauben wollten. Norbert war in einer sozialistisch-macho-dominierten Saubermann-Atmosphäre beruflich tätig, ich in christlicher Betschwestern-Umgebung bigotten Anstrichs voll gefährlicher Tücke und Falschheit. Aber selbst dort waren wir zwei angesehen und angenommen. Unsere spezielle Situation war für uns beide kein Problem, nicht nach innen und nicht nach außen, nicht zwischen uns und nicht den anderen gegenüber.

      Seit fünf Monaten bin ich nun allein.

      Ich behaupte, mein Leben ohne Norbert ist nicht denkbar. Ich behaupte das, weil ich weiß, dass es so ist. Ich weiß es, die anderen glauben es nicht. Ihnen ist mein Schmerz so leicht.

      Das anbefohlene Ordnen meiner Gedanken soll mir und den anderen einen Beweis erbringen. Nur unter diesem Aspekt habe ich mich bereit erklärt, den anderen den Gefallen zu tun. Lächelnd und es besser wissend. Das Ordnen würde nichts anderes erbringen, als was ich schon weiß. Aber sie wollen es ja.

      „Die Folgen mögen sich jene zuschreiben, die mich überredet haben!“, erklärte ich Norbert achselzuckend.

      Norbert schweigt. Norbert schweigt so viel in letzter Zeit.

      Kapitel 2

      „JEDER SELBSTMÖRDER KÜNDIGT SEINEN SELBSTMORD AN“,

      erklärte Prof. Ringel, den ich zwei Wochen nach dem Abgang von Norbert aufsuchte. Wir seien nur nicht in der Lage, die Zeichen zu deuten. Hinterher füge sich das Bild beklemmend lückenlos zusammen. Ich möge doch nachdenken, befahl Ringel mit seiner schnarrenden Stimme. Ich würde ein Indiz nach dem anderen finden, aber keines sei in seiner Einzelaussage so beschaffen, dass dadurch der Gedanke an einen bevorstehenden Selbstmord ausgelöst werden könne. Alle Hinweise, die der künftige Selbstmörder abgebe, seien verschlüsselt.

      „Wie aber hat er diese letzte Woche überstanden?“, fragte ich, und das Grauen vor der schrecklichen Verzweiflung, die in Norbert geherrscht haben musste, kündigt sich in mir an. Dieses Grauen vor dem Unbekannten, der Norbert, wenn ich auf diese letzte Woche zurückblicke, für mich war, als er seinen eigenen Weg ging, den man nur allein geht. Einsam. Ich denke an meine Mutter. Alle waren wir dabei, als sie starb. Und dennoch, sie war allein im Sterben. Lebte aber dennoch. Wie Norbert. Er sah mich, und wusste, er würde mich zum selbst festgesetzten Zeitpunkt verlassen. Verlassen in eine Dimension, von der nur weniges gesichert ist: Dass er nicht mehr da ist und dass er für immer nicht mehr da ist, zumindest nicht in der Gestalt, Form oder Ausprägung, die ihm die auslösenden Probleme schuf.

      Also erstens, replizierte Ringel