Ron Palmer

80 Jahre danach in der schönen neuen Welt


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die Kastenangehörigen. Heute entscheiden meistens Algorithmen aufgrund unseres Konsumverhaltens, wie wir eingestuft werden und in welche Konsumentenkaste wir daher gehören. Der Konsum wird im neueren Roman „Achtzig Jahre danach...“ noch stärker betont. Die Kasten wurden zur Unterstützung der Geschichtsfälschung in dem weiterführenden Roman umbenannt.

       Zentralisierung

      Huxley hat einen ausgesprochen zentralisierten Staat beschrieben, angeführt von einer kaum wahrnehmbaren Regierung, die ihre Marionetten auf kaum bekannte Weise steuert. Extreme Beispiele von Zentralisierung fand und findet man in in der ehemaligen UdSSR und in China. Die Verwaltungsapparate dieser Regierungen blähten sich auf, machten sie oft träge und undurchsichtig in ihren Entscheidungen. Einige Entwicklungen wurden dadurch völlig unmöglich. Übermäßig viel Personal war in der Verwaltung gebunden statt es in der Produktion dieser Staaten einzusetzen.

      Ähnlich war es auch in vielen staatlichen oder öffentlichen Betrieben der so genannten kapitalistischen Länder. Administrative Hoheitsgebiete wie zum Beispiel die Europäische Gemeinschaft oder die Bundesrepublik Deutschland spürten die negativen Auswirkungen von zunehmender Zentralisierung immer mehr. Die Probleme sollten durch eine wirtschaftliche Liberalisierungswelle gelöst werden. Als Wundermedizin gegen kränkelnde Bilanzen sollte jetzt die Privatisierung viele öffentliche und staatliche Betriebe sanieren: Bahn, Post, Telekommunikation, Autobahnen, Fernsehen, Krankenhäuser, die Energieversorgung und viele andere Bereiche waren davon betroffen. Versprochen wurde die Beseitigung alter Probleme, allein durch die Abgabe der Verantwortung in private Hände. Die Anhänger des Taylorismus überzeugten viele, die es nicht besser konnten. Eine sich selbst regulierende, denkende Marktwirtschaft sollte sowohl die Misswirtschaft wie auch die sozialen Probleme in diesen Betrieben aus der Welt schaffen. Gelöst wurden die Probleme damit aber nicht. Auf der anderen Seite wurden den Konsumenten erheblich bessere Leistungen für weniger Geld versprochen, was in einigen Fällen auch zunächst zutraf, aber nicht für immer oder für lange Zeit. Der nur wenige Jahre lange Kampf auf den geöffneten Märkten ruinierte viele kleine und mittlere Unternehmen und verbesserte dafür die Chancen und Umsätze von Großkonzernen und Kartellen.

      Leider förderte der Konkurrenzkampf der Unternehmen oft überhöhte Werbeversprechen und provozierte viele verbraucherrechtliche Probleme wie Knebelverträge. Mittelfristig entstanden immer größere Monopol-Betriebe. Es gab auch illegale Absprachen, eingeschränkte Verbraucherrechte und verdeckte Kartelle. Die Auswirkungen waren oft nicht besser als die einer schlechten Planwirtschaft. Besonders in Demokratien erlagen immer mehr Politiker den Angeboten der neuen Konzerne und entschieden, statt eine gewisse Grundversorgung in den Händen des Staates zu behalten, sie an große Privatfirmen zu veräußern . Der Kampf gegen ursprünglich zu viel Bürokratismus war bald in einen Kampf gegen Kartelle umgeschlagen. Diese Kartelle trugen, auf Grund ihrer Größe, führten ebenfalls wieder zu viel Bürokratie und zu einen überbezahlten und verantwortungslosen Wasserkopf an Managern an ihrer Spitze.

      Vorteile waren für die Bürger durch diese Art der Zentralisierung immer weniger zu spüren. Gescheitere private Konzerne hinterließen häufig einen Scherbenhaufen an ruinierten Strukturen und Märkten, wenn sie Konkurs gingen. Bereiche, die wichtig für die Versorgung der Bevölkerung waren, mussten dann vom Staat wieder aufgebaut werden. Die Rechnung zahlten, wie so oft in solchen Fällen, die Bürger über ihre Steuern.

      Ein weiteres Instrument der Zentralisierung ist das Internet, obwohl dieses inzwischen fast überall erhältliche Medium ja oft genaue Gegenteil suggeriert. Von Zentralisierung muss man im Internet deswegen sprechen, weil man von wenigen Dingen abhängig gemacht wird, wenn man es benutzt.

      Es ist ein Medium, in dem man oft nur eine Suchmaschine, nur ein Nachschlagewerk benutzt. Und auch der Konsum läuft über nur wenige Verkaufsplattformen, und es werden immer weniger. Wer glaubt, bei Ebay von einem unabhängigen Händler gekauft zu haben, wundert sich oft über das Amazon-Paket, das er einen Tag später erhält. Auch die Auswahl und die zahlreichen Vergleichsmöglichkeiten sind inzwischen viel mehr eine Illusion geworden, als es die meisten Internetnutzer glauben. Und das Schlimmste daran ist die erstaunlich dichte Überwachung der Konsumenten. Huxley wäre nicht darauf gekommen! Sogar Konsumverweigerer entgehen dieser Überwachung nicht, wenn sie das Internet nutzen, um sich zu informieren. Autoritäre Staaten missbrauchen das Internet natürlich, um die Bevölkerung zu überwachen.

      Die breite Anwendung eines solches Mediums auf die Bevölkerung hatte Huxley noch nicht einmal in Erwägung gezogen. Damals gab es bestenfalls erste seltene Denkvorstöße in diese Richtung, aber noch keine praktischen Ansätze. Huxleys Einwand, dass Menschen nicht das in vielen Utopien dargestellte Ameisenverhalten besitzen, sondern viel mehr ein eher lockeres Herdenbewusstsein zeigen, ist absolut richtig. Wir funktionieren nicht wie Insektenstaaten. Wir suchen, mit Ausnahme von Einzelgängern, den Anschluss an eine mehr oder weniger große Gruppe. Dieses Herdendenken wird von denen, die heute die Medien kontrollieren, genutzt. Das hohe Ideal des Individualismus wird dabei oft betont, damit man das falsche Gefühlder freien Entscheidung behält und weniger wahrnimmt wie sehr man beeinflusst wird. Dies wird durch freiwillige Selbsteinordnung in Gruppen, quasi Herden, genutzt: „Schau, was deine Herde heute tut, wo sie hingeht, was sie kauft, was sie mag - auch liken genannt. Deine Herde ist nett zu dir, in der Herde macht alles mehr Spaß, sei nett zu ihr, empfehle ihr Produkte, die sie kaufen soll oder gibt ihr Tipps, damit sie zusammen bleibt und vor allem: Folge deiner Herde!“ Diese Herde zu dirigieren ist für die im Hintergrund arbeitenden Administratoren des Internets ein Leichtes. In der Summe ist es egal, ob ein Ameisenstaat aus drei Sorten Ameisen, aus fünf Kasten einer „Schönen neuen Welt“, aus zwanzig Konsumentenkategorien oder aus ein Tausend Gruppen eines sozialen Mediums besteht. Diese Gruppen sind leichter steuerbar als Individuen und deren Verhalten dann mitunter so leicht vorhersehbar wie das von Ameisen.

      Eine weitere Eigenschaft, die Huxley Menschenmengen in seinem Buch „Dreißig Jahre danach“ (“Brave New World Revisited“) nachsagt, ist die Herdenvergiftung, wie er sie nennt. Als Herde reagiere der Mensch erheblich irrationaler und sei rein emotionalen Anspornen viel leichter zugänglich. Somit bekomme der Manipulator noch mehr Fäden zur Steuerung einer Gruppe in die Hand. Auch das scheint die Geschichte zu bestätigen. Menschen können sich offenbar nur schwer gegen diese Art zentraler Steuerung wehren. Erinnern wir uns an den Sturm auf das Kapitol in Washington 2021 und seine Ursache, nämlich mediengestützte Volksverhetzung.

       Propaganda in Demokratien und Diktaturen

      Beides hat Huxley in “Brave New World Revisited“ in zwei Abschnitten abgehandelt. Trotz noch vorhandener Unterschiede in der Propaganda sind diese aber in Demokratien und Diktaturen erheblich geschrumpft und inzwischen kaum noch zu unterscheiden. Zum großen Teil hat dies mit der so genannten Globalisierung der Medien zu tun, insbesondere dem Internet, das in Demokratien ebenso wie in Diktaturen zur Verfügung steht. Die Medien ähneln sich heute in praktisch allen Ländern in ihrer äußeren Erscheinung. Oft unterscheiden sie sich aber im Inhalt, außerdem ist der Zugang zum Medium nicht für alle gleichermaßen möglich. Der Eindruck, sich selbstbestimmt objektive Informationen zu beschaffen, bleibt aber in den meisten Ländern erhalten. So lange der Konsument nicht bemerkt, wie seine Anfragen gefiltert und gelenkt werden, wird er zufrieden mit den Resultaten sein. Durch gezielte Einspeisung oder Filterung bestimmter Inhalte können natürlich enorm unterschiedliche Wirkungen erzielt werden.

      Im Gegensatz zu solchen Propagandaeinflüsterungen totalitärer Staaten steht ein ganz anderes Ziel: In einigen demokratischen Staaten wird versucht solche Manipulationen aufzudecken und zu unterbinden. Leider geschieht dies auch in Demokratien noch zu selten und ist häufig nicht ausreichend möglich. Einerseits, weil es das schnelle Wachstum des Internets erschwert, andererseits, weil falsch verstandene Liberalität oder hohe Kosten dem entgegen stehen. Somit schleicht sich politische Propaganda ebenso wie Konsumpropaganda auch in das Internet demokratischer Staaten ein.

      Wie wirksam beeindruckende Bilder sein können, haben gleichermaßen Goebbels, Huxley, heutige Despoten und die Betreiber des Internets erkannt. Im Dritten Reich wurden die ersten pompösen und bildgewaltigen Propaganda-Shows