Ron Palmer

80 Jahre danach in der schönen neuen Welt


Скачать книгу

Gedanken galten, ähnlich wie Träumen, bereits als leichte Geisteskrankheit. Arnold bezweifelte geisteskrank zu sein, weil sich die Reisen in seine Gedankenwelten sehr gut anfühlten. Etwa so gut wie ein Gramm Isodol, nur frei und inspirierend statt betäubend. Diese innere Freiheit genoss Arnold, er nahm sich das Recht diese inneren Ausflüge zu unternehmen. Besonders da er er als Einser-Professor glaubte gewisse Rechte zu haben, auch wenn es so nirgends geschrieben stand. Er sprach nicht in den Andachtssitzungen oder sonst mit irgend jemandem darüber. Es kannte auch sonst niemanden, dem er das mitteilen wollte. Seine flüchtigen Bekanntschaften, weiblicher wie männlicher Art, und die Kontakte mit Kollegen waren reiner Freizeitvertreib, so wie die Neujahrsfeier letzte Nacht. Nein, so etwas wie intellektuellen Austausch oder philosophischen Gedankenaustausch gestattete Arnold nur mit sich selbst. Woher er die Eigenschaftswörter intellektuell und philosophisch kannte, wusste er nicht genau, aber er glaubte ihre ungefähre Bedeutung zu kennen.

      Arnold war sicher, dass die Beruhigungswellen auch die Fantasie einschränkten, sogar noch stärker als Isodol. Im leichten Isodol-Zwei-Rausch hatte er schon manche Idee für seine Vorlesungen gehabt. Isodol-Zwei ersetzte seit einigen Jahren das erste Isodol und es war viel bekömmlicher als das alte. Aber nachdem er den Beruhigungswellen ausgesetzt war, fühlte er sich immer viele Stunden lang noch ideenloser als unter Isodol-Zwei. Arnold war sich aber sicher, dass seine Fantasie nicht schädlich für ihn war, sondern für seine Arbeit sogar nützlich. Als Einser-Professor unterrichtete er die Einser- und Zweier-Jungstudenten in Geschichte und in Errungenschaftslehre an der Frankfurter Krupp Universität. Er legte in seinen Vorlesungen stets Wert darauf, dass seine Studenten sich den Lehrstoff über mehrere Sinne oder Wahrnehmungskanäle einprägten, auch wenn es manchen schwer fiel dafür mehrere Sinne einzusetzen. Viele seiner Studenten schien es aber auch an der Fantasie zu fehlen, die in ihren Köpfen weitere Kanäle für neue Erkenntnisse bahnen würde. Doch das war wieder nur eine von Arnolds vielen geheimen Ideen.

      Die Beruhigungswellen im Kino schienen im Gehirn jene weiteren Kanäle zu blockieren, über die man sich das Erlebte auf zusätzlichen parallelen Wegen viel nachhaltiger einprägen würde. Nach einem Kinobesuch fehlten dann im Gehirn weitere Anker, das Gesehene festzuhalten. So war es schwer möglich, die gesehenen Bilder mit eigenen Erfahrungen und Erinnerungen zu verknüpfen, um sie gleichzeitig in mehreren Bereichen der Gehirns abzuspeichern. Nur auf einem Kanal etwas wahrzunehmen bedeutete, dass man schon bei der kleinsten Störung, wie zum Beispiel der nächsten Filmszene, schnell wieder vergaß, was man davor gesehen hatte. So wie Träume aus der Erinnerung des Träumers verschwanden, wenn man nicht sofort versuchte sie sich nach dem Erwachen fest einzuprägen. Das hatte Arnold in einem Buch über Geisteskrankheiten gelesen, denn natürlich hielt er sich an das Traumverbot und träumte nicht. Die Bilder, die er im Schlaf sah, waren Erinnerungen, unbedeutende Bruchstücke von Erinnerungen. Nur ein bildliches Nachdenken im Halbschlaf. Nicht mehr, denn er war kein Träumer, da war er sich ganz sicher. Niemand durfte ein Träumer sein. Trotzdem war das alles Arnolds ganz persönliche Theorie, die er niemandem offenbaren wollte.

      Je mehr es Arnold gelang, sich diese Filme durch Wiederholung im Gedächtnis zu bewahren, umso mehr regten sie seine Fantasie an. Bald fragte er sich, ob ein Emo-Kinofilm, indem man ihn sich immer wieder, Tausende Male anschaute, zu einer großen Wahrheit werden könnte. Damit würde sich die alte Nachtschulweisheit bestätigen.

      Arnold vermied es das Wort Fantasie vor anderen zu benutzen, so lange er es vermeiden konnte. Es war in den letzten Jahren immer mehr zu einem Synonym für eine Geisteskrankheit geworden, die sich besonders unter den Einsern ausgebreitet hatte. Er selbst dachte aber sehr viel über den Begriff Fantasie nach und bekam immer mehr den Verdacht, dass viele seiner Ideen jener Quelle entsprangen, die als Fantasie bezeichnet wurde. Seine Gesundheit schien darunter nicht zu leiden. Also hatte er auch keinen Grund, etwas dagegen zu unternehmen oder einen Psychologen um Rat zu fragen.

      Plötzlich unterbrach er diese Gedanken, weil er hoffte, dadurch einen anderen klarer zu erkennen, der sich gerade tief in seinem Gehirn kristallisierte. Er wusste, dass dieser Gedanke wichtig war und er ihn nicht verrinnen lassen durfte, bevor er ihn deutlicher vor sich sah. Woran hatte er zuvor gedacht? Neujahr, Chicago, Emo-Kino, Science-Fiction-Filme...Fantasie!

      War es die Fantasie, die mit seiner undeutlichen Erkenntnis zu tun hatte? Nein. Aber was war es? Emo-Kino... Beruhigungswellen-Emitter...Isodol? Das war es: Isodol-Vier! Das neueste Produkt aus dem Hause Nixon-Pharma – Mach' Nächte durch und trink' viel Bier, wenn eins dir hilft: Isodol-Vier!

      Arnold war sich jetzt sicher. Isodol-Vier hatte eine ähnliche Wirkung wie die Beruhigungswellen-Emitter in den Emo-Kinos: Sie hemmten die Fantasie und dämpften sogar starke Schmerzen. Seine Ideen hatte er seiner Fantasie zu verdanken, davon war er überzeugt. Deswegen wollte Arnold es sich nicht erlauben, dass etwas seine Fantasie dämpfte. Seine Vorlesungen wären dann exakt der fade Unterrichtsbrei, den die Zentrale für alle Universitäten genormt hatte. Arnold hielt große Stücke auf die Art, wie er unterrichtete. Besonders, wenn er auf manche Fragen der Studenten „kreative“ Antworten gab.

      Das sorgte fast immer für heitere Vorlesungen und seinen Studenten gefiel das. Es war nicht das übliche Lachen aus Höflichkeit oder Verlegenheit gegenüber einem Professor, die Studenten lachten ganz entspannt und aus freien Stücken. So wurde Arnold beliebt bei seinen Studenten. Er war sich sicher, dass sich seine Vorlesungen besser einprägten, wenn die Studenten dabei viel lachten. Er hatte auch von Professoren gehört, die das mit viel Isodol im Hörsaal erreichten, aber das war für Arnold wie künstliche Heiterkeit auf Knopfdruck. Vielleicht schaffte er es seine persönliche Lehrmethode zum Standard künftiger Normen werden zu lassen. Arnold musste sie wahrscheinlich nur oft genug wiederholen. Doch auch diese Meinung behielt er für sich, denn: Zweiundsechzigtausendvierhundert Wiederholungen ergeben eine Wahrheit! Daran zweifelte selbst er nicht. Er musste nur beharrlich bleiben. Und er war sich sicher, dass er keine seiner kreativen Ideen im Unterricht jemals in einem Isodol-Zwei- oder Isodol-Vier-Rausch bekommen hatte, denn er war er immer nüchtern im Hörsaal.

      Seine eigene Art zu unterrichten betrachtete Arnold lediglich als nützliches Werkzeug, um die genormten großen Wahrheiten besser zu vermitteln. Genauer betrachtet, hätte man sie aber schon als leichte Normabweichung bezeichnen können. Doch auch mancher Weltratspräsident, WRP genannt, soll schon vieldeutige Witze gemacht haben, die nur wenige andere Ohren gehört hatten. Man sprach in höheren Kreisen, dann entschuldigend, von „kleinen Wahrheiten“. Solche Abweichungen von der Norm waren damit offiziell gerechtfertigt. Der Begriff „kleine Wahrheiten“ war also der inoffizielle Befehl eine Äußerung oder sogar einen Vorfall augenzwinkernd zu vergessen. Bei Einsern wurde dies, sofern es nicht zu oft vorkam, toleriert. Nicht aber bei Zweiern oder gar den niederen Kasten. Es wäre nicht sehr logisch, dass neben den großen Wahrheiten gleichzeitig auch kleine Wahrheiten existierten. Es wäre ein Widerspruch. Dann musste auch das Erzählen von unorthodoxen Witzen, wie es der Weltratspräsident manchmal tat, ein kleiner Ausbruch von Fantasie sein. Wenn dem so sei, dann wäre dies eine weitere unglaubliche Erkenntnis, die Arnold sich niemals trauen durfte mit jemandem zu teilen.

      Arnold fand sich im Aufzug wieder, der nach unten fuhr. Davor hatte er den Aufzug verlassen und war einige hundert Meter auf der die Spazierrunde der Promenaden-Plattform auf dem Dach des Wohnkomplexes gegangen. Er war durch seine Gedanken so abgelenkt, dass er sich an den Weg kaum noch erinnerte. Danach hatte er sich ohne nachzudenken auf den Weg zur Universität gemacht. Seine Aktentasche hatte er bereits unter dem Arm, als der Aufzug unten ankam. Die tägliche Routine hatte es überflüssig gemacht, dass er mit seinem Smart-Pad in der Uni anrief und ihnen dort eine Ausrede auftischte, warum er heute krank sei. Wenn Arnold sich nicht gut fühlte fuhr er vor der Arbeit automatisch nach auf das Dach des Porsche-Hochhauses und ging ein paar Meter. Sein Kopf war durch die vielen Gedanken an diesem Morgen und den Spaziergang wieder völlig klar geworden, und er freute sich auf die Vorlesungen. Nur ein Frühstück müsste er sich nach der ersten Vorlesung noch dringend besorgen. Wie konnten bloße Gedanken eine so aufputschende Wirkung besitzen, ähnlich wie es Isodol-Vier nach dem Schlucken für kurze Zeit bewirkte? Und dabei dämpften diese Gedanken nicht wie jenes Isodol nach einer weiteren Viertelstunde die Fantasie. Das war natürlich viel besser, denn Arnold legte ja