Ron Palmer

80 Jahre danach in der schönen neuen Welt


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die Erinnerung, dass seine U-Bahn in zwei Minuten einlief. Überflüssig, denn er betrat gerade den Bahnsteig. Nach diesem Feiertag waren hier noch viel weniger Menschen als sonst. Besonders von den höheren Kasten waren nur wenige zu ihrer Arbeit unterwegs. Eine U-Bahn öffnete ihre Türen und eine ganze Nachtschicht Vierer schwappte auf den Bahnsteig. Fünf dutzend erdfarbene Overalls, die zu höchstens vier verschiedenen Gesichtern der Klon-Geschwister gehörten. Das Neujahrsfest feierten nur die beiden oberen Kasten, Dreier und niedrigere Kasten gingen zu ihrer üblichen Arbeit. Dafür hatten sie ihre eigenen Feiertage.

      Als Arnold die Vierer ansah, fiel es ihm schwer die einzelnen Gesichter zu unterscheiden, außer vielleicht durch eine mehr oder weniger starke Schmutzschicht. Das amüsierte ihn, obwohl man Witze über Kasten nicht laut äußern durfte. Doch es gab diese Witze. Sie wurden auch gestern Abend unter den feiernden Einsern und Zweiern erzählt, aber keiner davon fiel Arnold jetzt noch ein. Isodol macht eben vergesslich. Nur besonders häufige Wiederholungen prägten sich auch unter Isodol-Einfluss in das Gedächtnis ein. Es waren selten die interessanten, sondern meistens die dummen Dinge, die hängen blieben. Arnold konnte sich noch nicht einmal erinnern, mit wem er sich gestern unterhalten hatte.

      Die Vierer kamen aus einem speziellen Waggon mit Platz für einhundertundzwanzig stehende Vierer oder einhundertundvierzig Fünfer. Einser oder Zweier benutzten diese Waggons nicht. Als die Vierer ausgestiegen waren, tauchte die leere U-Bahn wieder in den dunklen Tunnel ein und zog eine Wolke von Arbeiterschweiß hinter sich her. In der nächsten Station würden wieder Vierer oder Fünfer einsteigen und die U-Bahn würde wieder in die dunkle Röhre abtauchen, den Arbeiter-Wohnvierteln am Stadtrand entgegen. Lange Leerfahrten waren selten. Die Dreier-Schichten lagen heute offenbar anders. Dann würde Arnold auch später auf dem Nachhauseweg in der U-Bahn fast keinem Dreier begegnen. Den hohen Kasten hätte es nichts ausgemacht mit anderen Kasten in der U-Bahn zu fahren, doch es war wirtschaftlicher, ganze Arbeitsschichten getrennt nach den Kasten zu transportieren. Auch Sechser würde Arnold in der U-Bahn heute nicht sehen. Das passierte nur selten. Die Sechser-Wohnviertel lagen ganz im Osten und im Westen der Stadt und es gab dort für die Sechser separate Haltestellen, wo sie jeweils zu zweihundert in die gleichen Waggons einstiegen, die auch die Vierer eben benutzt hatten. Die meist unter einem Meter dreißig kleinen Sechser mochten es eng, das wusste jeder. Und trotz ihrer Kindergröße waren sie ein weiterer wichtiger Baustein der Gesellschaft. Viele der Sechser fuhren aber weit aus der Stadt hinaus, um in den großen Fabriken und Kraftwerken zu arbeiten.

      Arnold lehrte im Studienfach Errungenschaftslehre die eine große Wahrheit, nach der es vor Jahrzehnten viel weniger Sechser gegeben habe. Er selbst glaubte sogar, dass es eine Zeit gab, in der die Fünfer allein die unterste Kaste gewesen sein mussten, also die unterste von nur fünf Kasten. Woher er das wusste, konnte er nicht genau sagen. Vielleicht glaubte er es auch nur zu wissen. Arnold hatte viele ältere Texte gelesen und je älter die Texte waren, desto seltener wurden darin die Sechser erwähnt. Also vermutete er wahrscheinlich nur, dass es eine Zeit ohne Sechser gegeben haben muss, ohne dies konkret gelesen zu haben. Unvorstellbar als große Wahrheit, beinahe Science-Fiction, nur umgekehrt.

      Er durfte diese Vermutung aber auf gar keinen Fall im Unterricht erwähnen. Sogar ihn selbst irritierte seine Vermutung, weil er bei seiner Recherche nicht erfahren konnte, ob die Epoche, in der noch keine Sechser erwähnt wurden, womöglich eine kleine Wahrheit sein könnte. Man durfte kleine Wahrheiten zwar nicht lehren, aber man musste sie wenigstens nicht leugnen und unter Einsern hätte man sogar darüber reden dürfen. Doch er schwieg lieber über diese gefährliche Idee. Eine Welt ohne Sechser konnte sich auch Arnold nur schwer vorstellen. Wer sonst als die Sechser sollten die gefährlichen Arbeiten machen, die nur Sechser machen konnten? Die Arbeit in den Kraftwerken, im Bergbau, als Feuerwehrassistenz - das liebten die Sechser und alle liebten sie dafür. Die Schulklassen riefen bei den seltenen Gelegenheiten, wenn sie eine Gruppe Sechser sahen, oft im Chor: „Sechste Kaste – beste Kaste!“, um den dummen, aber fleißigen Sechser ihre Anerkennung auszusprechen. Meistens waren die Sechser aber viel zu weit weg, um die Schüler zu hören.

      Nach kurzem Nachdenken musste Arnold sich eingestehen, Sechser bisher kaum aus nächster Nähe gesehen zu haben, meistens nur gesichtslos in den schnell durchfahrenden U-Bahnen, in denen sie so dicht standen, dass nur die blaue Farbe ihrer Arbeitsuniformen und ihre kindhafte Körpergröße auf ihre Kaste hindeuteten. Ein blauer vielköpfiger Drache zog vorbei, auf dem Weg in die Hitze, den Schmutz oder die Gefahr. Und nach Schichtende von dort wieder zurück in die Sechser-Quartiere. Dieses Bild hatte er sich schon als Kind von den riesigen Sechser-Arbeiterkolonnen gemacht und seitdem nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Sechste Kaste – beste Kaste.

      Wirklich als einzelne Personen hatte er Sechser nur einmal wahrgenommen. Es war im Sommer vor wenigen Jahren, als er in einer Vorlesung zur Auflockerung das schöne Wetter erwähnte und alle unwillkürlich nach draußen schauten. Niemand konnte das Drama übersehen: Ein blauer Punkt rutsche das schräge Dach des alten gegenüberliegenden Gebäudes hinab. Offenbar stürzte gleich ein Sechser-Dachdecker in den Tod. Er rutschte über die Dachkante und stürzte mindestens sechs Meter tiefer auf das Baugerüst vor der Fassade. Der ganze Hörsaal schrie auf. Der Sechser hatte unwahrscheinliches Glück, denn er fiel nicht tiefer, sondern blieb merkwürdig verkrümmt an dem Gestänge des Gerüsts hängen. Er schien bewusstlos, wenn nicht sogar tot. Als er sich plötzlich bewegte, fiel er nochmals tiefer. Aber er blieb zur Überraschung aller nur ein Stockwerk tiefer an einer weiteren Querstange hängen. Ja, er hielt sich sogar, sicher schwer verletzt, mit den Händen fest.

      Ein Raunen ging durch den Saal, als ein Fünfer-Fensterputzer seinen Aufzug verlassen wollte, um auf das Baugerüst zu klettern. Er zögerte, als ein anderer Fünfer ihm etwas zurief. Offenbar verbot er ihm seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Die beiden schwarzgekleideten Fünfer sahen danach gelassen zu dem kleinen Blauen hinüber und nahmen nur wenige Augenblicke später ihre Arbeit wieder auf. Auch der Hörsaal beruhigte sich wieder und bald wurden erste Wetten unter den Studenten abgeschlossen, wie lange sich der Sechser noch halten könnte. Es war nicht ungewöhnlich oder verboten auf unabwendbare Ereignisse Wetten abzuschließen, so lange man um nichts Wertvolles wettete.

      Der kleine Sechser war erstaunlich zäh und hing immer noch reglos an der Stange. Die niederen Kasten, auch die beiden schwarzgekleideten Fünfer-Fensterputzer, waren sehr stark konditioniert ihre Arbeit in den ungewöhnlichsten Situationen weiterzumachen. Auch im Hörsaal, der an diesem Tag nur mit Zweiern gefüllt war, wurden die Studenten nervös, weil sie von Arnold erwarteten, dass er die Vorlesung fortsetzte. Inzwischen hatten die meisten der Studenten die amüsante Gelegenheit genutzt und auf irgend eine Uhrzeit gewettet. Nur eine Studentin hörte Arnold selbstbewusst sagen: „Er fällt nicht herunter.“ Aber vielleicht wollte sie einfach nur nicht wetten.

      Arnold Wankel setzte seine Vorlesung fort. Dann plötzlich erschien ein zweiter blauer Punkt auf dem Gerüst. Ein anderer Sechser kletterte schnell und geschickt am Gerüst herunter und war sofort bei seinem Kollegen. Er schlang einen Arm um den Körper und zog ihn kraftvoll in Richtung des Gerüstes. Der Verletzte ließ nicht los. Es kostete den Retter eine weitere Minute den Griff des Verletzten zu lösen, indem er stark an ihm rüttelte. Dann reichte er ihn mühelos durch ein Fenster in das Gebäude hinein. Heitere Erleichterung breitete sich im Hörsaal aus und die Studenten unterhielten sich angeregt. „Mut haben sie, die Sechser.“, „Reife Leistung!“, „Wie lange, Jassir?“ - „Vierunddreißig Minuten“, „Huh, ich kenne einen Zweier-Turner, der das vielleicht zehn Minuten durchgehalten hätte. Wie müssen diese Zwerge nur trainieren?“

      Nur Arnold bemerkte den zynischen Widerspruch in dieser respektvoll gemeinten Bemerkung der Zweier-Plus Studentin. Jeder wusste, dass es für die drei unteren Kasten, Vierer, Fünfer und Sechser, weder die Zeit noch die Notwendigkeit für Sport gab, so viel und so hart arbeiteten sie. Zynismus war aber bei Zweiern ungewöhnlich, wenn auch durchaus möglich. Wahrscheinlich war es aber nur gedankenlos von der Studentin. Erforderte Zynismus doch die Fähigkeit eine Sache gleichzeitig aus mehreren Blickrichtungen zu betrachten. Daran mangelte es hier im Hörsaal, denn keiner lachte. Wenn es Zynismus war, hatten die Kommilitonen ihn nicht verstanden.

      Aus der hinteren Sitzreihe rief einer der Studenten: „Die mutigen Sechser sind das Fundament unserer Gesellschaft, aber ich bin stolz ein