Ron Palmer

80 Jahre danach in der schönen neuen Welt


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sie es über Jahre, drei Nächte pro Woche eingeflüstert bekommen.

      Nochmals erhob die Zweier-Plus emotionslos ihre Stimme. „Konditionierung. Sie behalten dadurch den Klammer-Reflex der Säuglinge. Er hat sich wahrscheinlich noch nicht einmal bewusst festgehalten und wäre erst gefallen, wenn sein Kreislauf versagt hätte. Er konnte nicht anders. Und Mut haben sie auch nicht, sie haben nur keine Angst. Alles keine bewusste Handlungen, nur reine Konditionierung.“

      Es war Putina, die da sprach, eine angehende Ärztin für Vierer und Fünfer oder auch Pharmakologin, so viel Arnold wusste. Putina sah im Hörsaal in die zufriedenen und beruhigten Gesichter ihrer Kommilitonen. Konditionierung war gut, das wussten die Studenten hier. Sie erleichtere es jedem seine Aufgaben zu erfüllen. Wie gut, dass Putina ihnen das Erlebte mit der wertvollen Errungenschaft der Konditionierung erklärt hatte. Doch das hatte sie nicht beabsichtigt, sie hatte gar nichts mit dieser Bemerkung beabsichtigt, es brach einfach aus ihr heraus. Sie hatte ein Bedürfnis Dinge richtig zu stellen, die Wahrheit zu sagen. Das wollte Arnold auch, traute sich aber oft nicht. Nicht so offen, wie diese Studentin. War das Mut oder wusste sie nicht was sie riskierte?

      An noch einen weiteren so nahen Kontakt zu den Sechsern erinnerte sich Arnold nicht, er wusste erstaunlich wenig über sie, offenbar viel weniger als diese Studentin.

      Arnold saß inzwischen im U-Bahn Abteil und fuhr nach Süden in die Innenstadt. Ein wenig perplex war er noch wegen seines kleinen Blackouts bei der gestrigen Feier. Es war ihm grundsätzlich egal, mit wem er sich möglicherweise vergnügt hatte, dafür waren die Feiertage da, aber er wüsste es nur gerne. Aus Verlegenheit überprüfte auf seinem Smart-Pad am Handgelenk den monatlichen Stand seiner Konsumpunkte. Es mussten beinahe null Punkte sein, da der Monat gestern begonnen hatte. Überrascht sah er, dass die Anzeige auf drei Komma neun stand. Fast vier Konsumpunkte an einem Feiertag! Er musste mächtig gefeiert haben und gratulierte sich selbst, dem Ziel von einhundert am Monatsende schon näher gekommen zu sein. Er schaute sich auf dem Wandschirm der U-Bahn noch eine Werbung an und wurde sofort dafür belohnt, indem die Anzeige auf vier Komma null umsprang. Er musste lachen, weil es ein Werbesport für Isodol-Vier war. Trotzdem fragte er sich, was diese vom Staat geforderte positive Einstellung zum Konsum ihm persönlich brachte.

      Ein junger Zweier-Minus stieg gerade in die U-Bahn ein und zeigte einem anderen Bekannten flüchtig sein Smart-Pad, der es aus über einem Meter Entfernung gar nicht hätte ablesen können. „Sieh nur, eintausendeinhundert, gestern kurz vor Mitternacht erreicht. Eintausendeinhundert!“ „Gratulation, ich freue mich für dich“, beglückwünschte ihn sein Zweier-Kollege aufrichtig. Arnold schaute verstohlen auf sein Smart-Pad, drückte seine Konsumpunkte in den Hintergrund und ging auf den roten Knopf für den Bürgerindex, die wichtigste Anzeige überhaupt. Sein Bürgerindex stand seit über einem Jahr auf eintausendzweiundzwanzig. So viel er auch konsumierte oder sonst noch Wünschenswertes tat, es gelang ihm nicht, ihn zu erhöhen. Mit einem Bürgerindex von ein Tausend startete jeder Einser, Zweier oder Dreier in sein Leben. Jeden Monat ein Hundert Konsumpunkte zu erreichen war Pflicht, um seinen Bürgerindex auf ein Tausend zu halten. Die Vierer und noch niedrigeren Kasten hatten keinen Bürgerindex. Sie erhielten automatisch, was sie benötigten, und hatten keinen großen Einfluss auf die Konsumwirtschaft.

      Arnold konnte seine meisten Bürgerpunkte als Kind gutmachen, mit banalen Referaten über „Unsere schönste neue Welt“ und mit ähnlichen Heldentaten des Alltags. Solche sehr einfachen Aufgaben waren für Arnold nie eine große Herausforderung gewesen. Er dachte damals, er würde noch als junger Erwachsener spielend zweitausend Punkte erreichen, obwohl er noch nie davon gehört hatte, dass jemals ein Bürger so viele Punkte erreicht hatte. Als Jugendlicher hatte er aber fünf Punkte verspielt, weil er mit einigen Zweier-Freunden nachts umher gezogen war und dabei eine Parkbank im Flammen aufgegangen war. Benimm-Wächter hatten sie aufgegriffen. Er hatte nichts getan und war nur dabei gewesen, hatte den beiden Anderen sogar noch ins Gewissen geredet, es bleiben zu lassen. Doch jetzt galt er als Mitläufer und bekam außerdem noch eine Woche zusätzlichen Gesellschaftsunterricht verpasst. Seine zwei damaligen Freunde bekamen, wie er hörte, einhundertundzwanzig Punkte Abzug, was für Schüler ungewöhnlich viel war und die späteren Berufschancen erheblich verschlechterte. Man kam zwar noch den den Beruf, für den man vorgesehen war, aber dort bekam man dann eher die schlechteren als die besseren Arbeitsplätze. „Tendenz zur Normabweichung“ hieß das furchtbare Urteil und einen so großen Punktabzug konnte niemand so schnell wieder aufholen. Über einen der beiden hatte er gehört, dass er später viele weitere Punkte verspielt hatte und bei sechshundert Punkten eine Rekonditionierung angedroht bekam. Weitere einhundert Punkte niedriger und es wäre für ihn so weit gewesen. Vielleicht war es dann auch tatsächlich passiert, doch Arnold hatte nie wieder von ihm gehört.

      Mit solchen Personen hatte Arnold schon lange keinen Kontakt mehr, es war ihm eine Lehre gewesen. Doch er ärgerte sich, dass es ihm als Einser offenbar schwerer als anderen fiel, seine Bürgerpunkte zu verbessern. Er wusste doch genau, was zu tun war, womit man seine Punkte erhöhen konnte. Alle fünfzig Punkte über eintausend gab es einen kleinen Drei-Tage-Urlaub vom Staat. Alle einhundert Punkte zusätzlich weitere drei, also sechs Tage Urlaub, wenn Arnold die eintausendeinhundert erreichte. Er konnte sich natürlich auch jederzeit ein paar Tage lang krank melden, ohne sich damit zu schaden, doch es ging ihm viel mehr um das Prestige. Es ärgerte ihn, dass mancher Zweier oder Dreier spielend leicht erreichen konnte, was ihm trotz guter Vorsätze und penibler Planung regelmäßig misslang. Wohin zerrannen seine Bürgerpunkte und vor allem warum?

      Im unteren Stockwerk seines Wohnhauses wohnten mehrere Dreier mit deutlich mehr als eintausendzweihundert Bürgerpunkten. Von einem sagte man, er habe im letzten Jahr eintausendvierhundert erreicht. Abzüge, und zwar große, gab es natürlich für Tendenz zur Normabweichung, was man schon durch eine falsche Äußerung in der Öffentlichkeit erreichen konnte. Noch schwerwiegender waren natürlich gesetzliche Unregelmäßigkeiten, die früher Straftaten genannt wurden. Aber auch für Unfälle, bei denen ein Bürger starb und damit der Gesellschaft verloren ging, gab es Punktabzug. Zwanzig, dreißig oder vierzig Punkte, je nachdem wie groß die Schuld des Unfallverursachers und wie hoch der Wert des Opfers war. Für die Arbeitsleistung gab es keine Bürgerpunkte, sie war selbstverständliche Pflicht für jeden Bürger. Das fand Arnold falsch, denn er glaubte, dass er ungewöhnlich gute Arbeit als Professor leistete. Bessere Arbeit als seine Kollegen, was durchaus zusätzlich belohnt werden sollte, wie er fand.

      Die Krupp-Universität! Wie immer freute er sich, als das sechzig Stockwerke hohe Gebäude vor ihm immer beeindruckender in die Höhe ragte, während er vom U-Bahn-Aufgang über den Vorplatz der Uni schritt. Er hätte auch unterirdisch direkt von der U-Bahn zum Aufzug der Uni gelangen können. Doch wenn es nicht gerade stark regnete, ließ er keine Gelegenheit aus, die Universität in ihrer vollen Größe zu betrachten. Er wusste, dass nur Einser und Zweier auf das Gefühl konditioniert wurden, vor solchen ehrfürchtigen Gebäuden angenehmen Respekt zu spüren. Dreier mochten mehr ihr unmittelbares Arbeitsumfeld, ihr Büro, ihre Werkstatt oder ihren Fahrersitz, die sprichwörtliche Armlänge um sie herum, die sie nicht gern verließen. Ihr wichtigstes Arbeitswerkzeug oder das Material, mit dem sie arbeiteten - das liebten die Vierer und Fünfer ganz besonders. Doch worauf die Sechser konditioniert waren, das wusste Arnold nicht genau. Sie waren blau gekleidet, klein und trotzdem wichtig. Sie liebten Hitze, Dunkelheit, Enge, Höhe und Stromschläge. Viel mehr wusste er wirklich nicht über sie. Verwegene Burschen und kleine Heldinnen waren sie wohl. Draufgänger, die in der Tat sehr häufig bei ihrem Beruf draufgingen.

      Das erhabene Gefühl, welches das Universitätsgebäude in Arnold auslöste, hielt noch an. Es war noch genauso stark wie an seinem ersten Tag an der Uni – damals, als er das Gebäude als Erstsemester zum ersten Mal betreten hatte. Aber er fand auch ganz eigene Gründe, weshalb er gern den Haupteingang benutzte: Es waren die Studenten, sein „Arbeitsgerät.“ Er mochte sie wirklich, ob darauf konditioniert oder nicht, denn sie bestätigten, wie beliebt er und seine Arbeit bei den Studenten waren. „Tolle Vorlesung!“ oder „Eine große Wahrheit, gestern!“, so etwa klangen die Zurufe, die er in der Eingangshalle häufig völlig formlos von den Studenten zugerufen bekam. Es galt zwar als respektlos einen Professor ohne Begrüßung anzusprechen, doch ihm war es angenehm, wenn seine Studenten ihm ihrem Respekt