Ron Palmer

80 Jahre danach in der schönen neuen Welt


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aufgemacht zu haben, denn an der Kasteneinteilung zu zweifeln, war ein schwerer Zweifel am System und konnte die Höchststrafe zur Folge haben. Vielleicht lag seine Panikreaktion auch daran, dass in den Nachtschulen und auch später im Schulunterricht nie die Möglichkeit erwähnt wurde, seine Kaste zu wechseln. Doch der Schulbezirksleiter war nicht böse, er lachte sogar freundlich.

      „Nein, oh nein, mein lieber Arnold, du wirst doch kein Dreier. Musterschüler, der du bist. Du wirst hochkastiert.“

      Arnold war erleichtert, er konnte sein Glück kaum fassen und das, obwohl alle Menschen so geprägt waren, dass sie mit ihrer Kaste oder der eines anderen keinerlei Statusstreben verbanden. Er würde ein Zweier werden oder womöglich ein Zweier-Plus.

      „Wie ich schon sagte, kommt es nur bei null Komma drei Prozent unserer Bürger dazu, dass er in einer anderen Kaste weiterleben muss, als in der, für die er entsiegelt wurde. Du bist einer der ganz seltenen Fälle, der hochkastiert wird. Das passiert außerordentlich selten, denn meistens geht es für die Betroffenen bergab.“ Das letzte Wort betonte er etwas verächtlich, aber der Schulbezirksleiter strahlte ihn an und Arnold stellte sich schon vor, als Zweier oder Zweier-Plus aufzuwachsen.

      Sein Gegenüber wurde aber erneut verlegen „Nun, wir sind nicht ganz sicher, wie wir dein Testergebnis deuten sollen. Dein Intelligenzquotient ist in den letzten drei Jahren enorm angestiegen, zu hoch eigentlich für einen Zweier. Aber noch irritierender sind für uns die Ergebnisse beim Assoziieren: Sie liegen so ungewöhnlich hoch, dass wir sie nicht auswerten können. Jeder Einser-Plus wäre froh über eine so ausgeprägte Assoziationsfähigkeit. Aber die wenigen Führungspositionen für die seltenen Einser-Plusse sind für die nächsten zwanzig Jahre verplant, so dass wir dich, auch wenn die Ergebnisse auf Höheres hindeuten, offiziell nur zum Einser machen können. Du gehst ab morgen auf die Einser-Oberschule deines Stadtteils.“ Damit war die peinliche und wahrscheinlich einmalige Rede des Schulbezirksleiters beendet.

      Völlig verwirrt fuhr Arnold mit dem Zug nach Frankfurt zurück. Vor seinem Zimmer im Schülerwohnheim war inzwischen ein großes Paket abgestellt worden, das ein vollständiges Bekleidungssortiment in Einser-Grau enthielt. Seine Zweier-Kleidung durfte er ab sofort nicht mehr tragen und warf sie in den Entsorgungs-Schacht des Schülerwohnheims. Aus seinem Dreizehn-Quadratmeter-Apartment für Zweier-Schüler musste er noch am gleichen Tag in einundzwanzig Quadratmeter großes Apartment für Einser-Schüler umziehen. In der neuen Wohnung fand er ein dünnes Heft, das mit „Lebenslauf-Korrektur“ beschriftet war und das er vernichten sollte, nachdem er es gelesen und auswendig gelernt hatte. Am nächsten Tag konnte er noch nicht in die Schule, weil er den Schock seines Kasten-Wechsels mit zwei Gramm Isodol-Drei behandeln musste, dem Isodol, das häufig Schwerkranke und Sterbende zur Unterdrückung der Symptome bekamen.

       BILD: Isodol-3-b490.jpg

      An seinem dritten Tag als Einser konnte er dann dem Schulunterricht der Einser problemlos folgen. Sein neuer Lehrer, ein Einser-Minus, stellte ihn der Klasse vor, indem er seinen neuen Lebenslauf zitierte.

      „Arnold hat schon früh seine Bestimmung als Universitätsprofessor für Einser und Zweier in die Gene gelegt bekommen. Wir sehen ihn hier heute zum ersten Mal, weil er für einen kastengerechten Umgang mit den Zweiern für längere Zeit den Unterricht in einer Zweier-Schule verfolgen durfte. Herzlich willkommen, Arnold!“ Ein kurzer Applaus seiner Mitschüler, aber keine weiteren Fragen, obwohl er von einer Einser-Klasse mehr Neugier erwartet hätte.

      Die Lüge des Schulwechsels wegen seiner „speziellen“ Ausbildung wurde ohne weitere Fragen als große Wahrheit von seinen Mitschülern akzeptiert. Einem Einser-Minus-Mitschüler war Arnold sogar schon einmal begegnet. Nicht in der Schule natürlich, aber er hatte ihn häufiger im Osten Frankfurts beim Dauerlaufen am Flussufer des Mains gesehen und er musste dabei Arnolds Zweier-Trikot erkannt haben. Als er ihm jetzt unsicher zunickte, schien er ihn tatsächlich wiederzuerkennen. Er hielt sein damaliges Kastenzeichen sicher für einen Teil seiner Tarnung als Zweier. Man konnte offenbar auch Einser fast alles auftischen, wenn es nur gut garniert war. In einer gewissen, für Arnold noch nicht erfassbaren Weise hielt er sich schon jetzt seinen Einser-Klassenkameraden für überlegen. Warum durften sie nicht noch mehr über ihn wissen? Arnolds neuer Lebenslauf bot ihnen eine interessante Geschichte, vielleicht sogar ein Rätsel, dem auch Arnold auf keinen Fall selbst hätte widerstehen können, wenn ihm ein neuer Mitschüler auf diese Weise vorgestellt worden wäre. All das verwirrte ihn sehr und er musste noch über viele Wochen immer wieder seine Zweifel mit einem Gramm Isodol-Drei ersticken.

      Als Einser-Professor hatte Arnold das Recht seine persönliche Akte fast vollständig zu lesen und heute hatte er spontan die Idee das zu tun. Im Datenverwaltungsgebäude seines Stadtteils nannte ihm die Mitarbeiterin am Empfang die Zimmernummer des Datenverwalters, der ihm seine Akte zeigen würde. Er wollte seine Akte aus reiner Neugier sehen, einen besonderen Anlass hatte er nicht. Vielleicht würde er endlich einen Hinweis finden, warum er seine Bürgerpunkte nicht erhöhen konnte.

      Die Tür des Zimmers war angelehnt. „Hallo“, machte sich Arnold vorsichtig bemerkbar und schob sachte die Tür ganz auf.

      „Kommen Sie herein, Herr Lehman ist gleich zurück, das heißt, wenn es ihm besser geht“, klang eine Stimme, etwas erstickt, aus dem Raum.

      Arnold trat ein, sah aber niemanden im Zimmer.

      „Hier unten!“, kam eine Stimme ganz hinten aus einer Ecke des Raumes. Dort war eine Wandverkleidung entfernt worden und er sah einen grün gekleideten Dreier-Techniker auf dem Rücken liegen, der mit dem Kopf hinter einer noch montierten Verkleidung mit Kabeln hantierte. „Er hat gestern im Park Obst gepflückt und gegessen. Vom Zierobst bekommt man üblen Durchfall, das bringen sie sogar uns Dreiern bei. Er muss bald zurück kommen...“

      Es rumpelte hinter der Verkleidung. „So, fertig, jetzt wird der Monitor keinen Stromausfall mehr haben. Der Stecker war korrodiert - war sicher schon fünfzig Jahre alt.“ Arnold fand es faszinierend, wie sicher dieser Dreier sprach. Und das sogar, obwohl den Dreiern in den Brutflaschen einige Bereiche des Gehirns degeneriert werden.

      Der Dreier drehte seinen Kopf nach oben zu Arnold. Er schaute in ein freundliches Gesicht und sah auch das Plus an seinem Overall, das ihn als Dreier-Plus kennzeichnete. Der Dreier strahlte Arnold fröhlich an. Er hatte Sommersprossen und krause rötliche Haare, was sehr selten war und Arnold zum ersten Mal an einem echten Mensch sah.

      „Jetzt muss ich das nur noch kurz überprüfen.“ Der Dreier drückte einen Knopf am Monitor und einen weiteren am der Datenverarbeitungskonsole.

      „Ach, der Zweier-Kollege von der Datenverarbeitung hat seine Konsole abgemeldet, ich brauche seinen Zugangscode, so sehe ich nur schwarz...“

      Der Dreier wartete nicht ab, bis der Datenverarbeiter von der Toilette kam, sondern griff gleich zum Telefonhörer. „Hier ist Max Jung, ich repariere die Datenverarbeitung im Raum elf-vierundvierzig. Würden Sie mir bitte das Pult freischalten, damit ich meine Arbeit beenden kann? - Was? Ach so, das kann nur Herr Lehman selbst tun. Und der hat sich eben bei Ihnen abgemeldet und ist auf dem Weg nach Hause! Ganz toll und was nun? Ich habe noch zwei Termine im Zentrum und möchte morgen nicht wieder hier herkommen. Oder soll Herr Lehman das morgen selbst machen? - Aha, so, es ist meine Aufgabe - Na gut, danke – kein Problem.“ Der Techniker schien etwas verärgert über so wenig Kooperation zu sein.

      Doch plötzlich grinste der Dreier Arnold verschmitzt an, „Na gut, dann eben auf meine Weise“, sagte er aber mehr zu sich selbst, als er sich wieder der Tastenkonsole zuwandte, einen Daten-Stick aus seiner Brusttasche hervorzog und ihn seitlich in die Konsole steckte.

      Arnold setzte an: „Ohne Herrn Lehman werde ich dann wohl wieder...“

      Max Jung hielt eine Hand in die Luft, um Arnold zu unterbrechen und ihn gleichzeitig zum Warten aufzufordern.

      „Sehen Sie, er fährt hoch und... Ja, voller Zugriff. Wie kann ich Ihnen helfen? Geht es um eine Datenabfrage?“ In den Augen des Dreiers glänzte so etwas wie Triumph.

      „Ja, aber dürfen Sie das?“

      „Das weiß ich nicht, aber ich kenne keine