Ron Palmer

80 Jahre danach in der schönen neuen Welt


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Wahrheiten standen fest und waren in den Lehrplänen der Schulen und Fakultäten festgelegt, doch eingeschränkt fühlte er sich dadurch nicht. Arnold sah darin sogar mehr Freiheit, da es ihm frei stand, wie er diese Wahrheiten erklärte. Die große Kulturrevolution hatte gezeigt, dass nur Freiheit die Grundordnung sichern konnte. So wurden viele starre Regeln abgeschafft und durch die neuen Freiheiten ersetzt. Die neuen Freiheiten waren sehr genau definiert und sie erklärten so vieles in dieser perfekten Gesellschaft. Besonders in der Geschichte konnte damit Einiges deutlich leichter erklärt werden, als es davor möglich war. Die erste neue Freiheit wurde schon in der Schule erklärt.

      „Isodol ist Freiheit – ein Tag, ein Gramm“, es befreit von Schmerzen und macht glücklich. Kein Wunder, dass die wilden Völker ohne Isodol zu Grunde gingen. Mit jeder neuen Freiheit konnten viele Dutzend Zusammenhänge in Gesellschaft und Geschichte erklärt werden.

      „Beruhigungswellen machen das Emo-Kino gesund“, denn sie schützen vor den schädlichen Nebenwirkungen der Eindrücke. Das war eine der neuen Freiheiten, die jeder kennen musste.

      „Alkohol enthemmt und schafft Freundschaften.“ Das durften die Schüler schon ab dem fünften Schuljahr in der zweiten großen Pause ausprobieren, wenn kostenloser Alkohol zur Verfügung stand. Der ungiftige neue Alkohol tötete keine Körperzellen mehr ab, wirkte aber sonst genauso und wurde sogar oft unruhigen Säuglingen verabreicht.

      Es gibt viele neue Freiheiten, die unsere schöne befreite Welt perfekt machen. Dieser Sinnspruch aber, erinnerte sich Arnold, zählte zu den großen Wahrheiten, den übergeordneten, absoluten Erkenntnissen der Menschheit. Große Wahrheiten wurden niemals hinterfragt, sie waren absolut und endgültig.

      Kapitel 2 – Große und kleine Wahrheiten

      An diesem Morgen hatten es die zwei Klassenbetreuerinnen schwer. Die dreißig Kinder der zweiten Schulklasse waren viel unruhiger als sonst. Sie beratschlagten sich kurz, ob sie den Klassenausflug in die Innenstadt nicht besser abbrechen sollten. Die Lehrerin war dafür, die Erzieherin dagegen. Dann stimmte die Lehrerin dem Vorschlag zu, den Kindern ein weiteres halbes Gramm Isodol zu geben und sie vor den Bankentürmen für eine halbe Stunde abzusetzen, wo sie wahrscheinlich wie gebannt auf die gigantischen Großmonitore starren würden. Es begann gerade eine Nachrichtensendung. Einer Ansprache eines Weltratspräsideten folgten Sportmeldungen. Dann kamen Berichte aus den Betrieben. Das interessierte auch die beiden Klassenbetreuerinnen, weil sie sich ausmalten, wie ihre Zöglinge eines Tages ihren Alltag im Beruf ebenso schön schildern würden, wie es diese Krankenpflegerin gerade tat. „Wir konnten die Überlebensquote der Eingelieferten in diesem Jahr auf zweiundachtzig Prozent erhöhen. Bei der auf vier Wochen verringerten maximalen Verweildauer in den Kliniken ist das die beste Effizienz, die wir jemals erreicht haben. Ich bin stolz eine Dreierin zu sein.“

      Die Dreier-Kolleginnen sahen sich zufrieden an. „Es wird alles besser, wie schön!“, meinte die Eine.

      „Ja, darauf ist Verlass, es wird immer alles besser“, stimmte die Andere zu. Sie waren rundum zufrieden, konditioniert auf positive Nachrichten aus der Gesellschaft mit Glücksgefühlen zu reagieren.

      Das heutige Thema von Professor Wankels Vorlesung hieß, „Geschichte der Welt – für Zweier Erstsemester.“ Arnold Wankel mochte die Zweier: Sie fragten so einfach, dass er bereits vorher wusste, an welchen Stellen seiner Vorlesung sie welche Frage stellen würden. Nicht, dass es ihnen an Intelligenz mangeln würde, schließlich war ihre Intelligenz nicht negativ manipuliert, aber trotzdem war der Intelligenzquotient der Zweier-Studenten im Durchschnitt mehr als zwanzig Punkte geringer als sein eigener offizieller Intelligenzquotient. Ihre Gehirne waren, bis auf die Schulweisheiten und natürlich die der Nachtschule, noch nahezu leer und sie waren deutlich weniger wissbegierig als die Einser.

      Arnold dachte viel über Lernvorgänge nach und wie er jeden, auch manchen trägen Zweier-Minus noch fördern konnte.

      Vielleicht war seine persönliche Geschichte ausschlaggebend für diese Einstellung. Nachdem er, gemäß dem Gesetz zur Präzisierung der Kasteneinteilung, damals in der zehnten Schulklasse dem üblichen Intelligenz- und Assoziierungs-Test unterzogen wurde, musste er am nächsten Tag zum Schulbezirksleiter nach Darmstadt reisen, statt am täglichen Schulunterricht teilzunehmen. Der Schulbezirksleiter war ein erstaunlich alt aussehender Mann, augenscheinlich zwischen dreißig und sechzig. Das jugendliche Aussehen konnten nicht alle Bürger gleichermaßen behalten – etwa jeder Fünzigste sah mit den Jahren immer merkwürdiger aus. Dann sahen sie aus wie Jugendliche mit gewissen Schönheitsfehlern, was aber sonst nur bei Arbeitsunfällen in den niederen Kasten vorkam. Der Schulbezirksleiter wirkte unerwartet verlegenen, als er Arnold ansprach.

      „Ich gebe zu, lieber Arnold, dass wir ein seltenes Klassifizierungs-Problem mit dir haben.“ Dazu konnte Arnold nichts sagen, darüber wusste er nichts und es war auch nicht seine Aufgabe. Er war aber sehr gespannt, was der Schulbezirksleiter ihm nun eröffnen würde. Erst Jahre danach dämmerte ihm, dass in solchen Fällen, natürlich zum Vorteil der Gesellschaft, ziemlich oft ein humanes Todesurteil ausgesprochen wurde. Friede seinen Mineralien, wen es trifft, auf dass sie unsere Agrarprodukte wirksam düngen. Doch dazu war er damals noch zu naiv, sein Gehirn war noch leerer als das seiner heutigen Zweier-Studenten. Wie konnte es auch anders sein, denn er war damals selbst noch einer.

      „Nun, wie Sie wissen, sind Sie als Zweier-Minus entsiegelt wurden. Die üblichen Tests im siebten und zehnten Schuljahr sollen die Ressource Mensch für die Gesellschaft optimal nutzbar machen. Taylor sei gepriesen. So entwickeln wir uns, trotz hocheffizienter Normung, nur zu neunundneunzig Komma sieben Prozent in den vorgesehenen Bahnen. Auch nicht jeder entsiegelte Einser entwickelt sich wie vorgesehen. Das ist natürlich kein Mangel im System, denn es ist perfekt, es ist einfach die Umwelt. Eine Gehirnhautentzündung oder ein schwerer Schlag gegen den Kopf beim Zentrifugal-Ballspiel und schon taugt unser Einser nicht mehr zum normalen Einser, sondern nur noch zum Einser-Minus.“

      Das hatte Arnold nicht gewusst, „Wie schön!“, konnte er nur entgegnen. Er überlegte, ob er einen Einser-Minus kannte, doch es fiel ihm nur sein Lehrer ein. Und der war nur ein Zweier-Plus, also eine Drittel Kaste niedriger als ein Einser-Minus und offensichtlich sehr glücklich damit. Er wusste nicht, worauf der Schulbezirksleiter hinaus wollte.

      „Es könnte aber auch passieren, dass wir unseren Einser zum Zweier-Plus umkastieren müssen, wenn sein Gehirnschaden noch größer ist. Alles zu seinem Besten und zum Wohl der Gesellschaft. Ist der Schaden aber so groß, dass wir ihn um eine ganze Kaste herunter kastieren müssten, dann würden wir ihn lieber verwerfen, so ist es auch vorgeschrieben – auf dass er unsere Agrarprodukte wirksam dünge.

      Arnold konnte mit dem Wort umkastieren nichts anfangen und wollte auch nicht nachfragen, aber es schien die Lösung des Problems zu bedeuten, ohne dass man zu Mineraldünger verarbeitet werden musste. Langsam dämmerte Arnold, dass ihm der Schulbezirksleiter mit diesem Beispiel seine eigene Situation zu erklären versuchte. Aber was war das Problem? Er hatte doch keinen Unfall oder eine schwere Erkrankung gehabt und überhaupt keine Schwierigkeiten dem Unterricht für Zweier zu folgen, so wie es gelegentlich anderen Zweier-Minussen manchmal passierte. Im Gegenteil, die Schule fiel ihm sehr leicht und machte ihm Spaß. Konnte es sein, dass er eine ihm unbekannte Krankheit in sich trug, die sein Gehirn beeinträchtigte, so dass er nun...? Nein, das war schwer vorstellbar! Sollte er zu einem Dreier-Plus oder sogar zu einem Dreier herunterkastiert werden? Wenn dem so wäre, was hätte er jetzt noch daran ändern können? Zweier waren noch zufriedener geprägt als Einser, so dass sich Arnold den leichten Anflug von Panik, den er spürte, gar nicht erklären konnte. Solche Panikattacken gab es bei Zweiern nicht. Aber vielleicht war das sein Problem. Er versuchte sich etwas einfallen zu lassen, was seine Lage jetzt noch verbessern konnte, auch wenn es gegen jedes gute Benehmen verstoßen würde, jetzt zu widersprechen. Doch es fiel ihm nichts ein.

      „Nun, Arnold, wie soll ich es sagen...? Du wirst nicht mehr am Unterricht deiner Schulklasse teilnehmen...“

      Arnold wagte jetzt die Unverschämtheit den Schulbezirksleiter