Tobias Fischer

Veyron Swift und der Schattenkönig


Скачать книгу

er die Staaten geschwächt, die den Piraten unmittelbar gefährlich werden könnten, wohl wissend, dass der Einfluss des Imperiums auf sie zu gering war, als dass es etwas dagegen hätte unternehmen können. Und nun braucht er das Horn des Triton, um die Gefahr, die Talassair für seine Pläne darstellt, auszuschalten. Das ist der Grund, warum er gerade jetzt danach suchen lässt.«

      Farin nickte ernst. »Absolut möglich. Mit dem Horn des Triton könnte der Schattenkönig die Gezeiten kontrollieren, Stürme heraufbeschwören oder Küstenregionen mit riesigen Flutwellen vernichten. Er könnte jedes nicht unter seiner Kontrolle stehende Schiff versenken, während er für seine Schiffe beste Bedingungen schafft.«

      Ein paar Augenblicke herrschte ratloses Schweigen im Balkonzimmer. Schließlich war es Danny, der aufsprang und mit der Faust in die offene Hand schlug. »Dann legen wir besser gleich los! Ich würde sagen, wir gehen sofort zu Ihrem schwimmenden Palast und machen uns auf die Socken. Je eher wir diesem schattenhaften Strauchdieb das Handwerk legen, umso besser«, entschied er.

      Farin wirkte ob der Einsatzfreude seines Besuchers hoch erfreut. »Aber natürlich«, sagte er. »Sehen wir uns den Palast einmal an. Sowie der König eintrifft, legen wir ab und sind auf Mission. Ihr, Meister Swift, und Eure tapferen Begleiter seid allesamt eingeladen.«

      Dann nahm der Schatzkanzler ein kleines Glöckchen und bimmelte ein paar Mal. Die Türen zum Balkonzimmer wurden geöffnet, und zwei menschliche Diener erschienen und verbeugten sich kurz.

      »Lasst den Rolls Royce vorfahren. Wir statten Palast Nr. 4 einen Besuch ab«, verkündete Farin, worauf sich die beiden Diener sofort wieder zurückzogen.

      Tom rieb sich unwillkürlich die Hände. Sie waren mittendrin in einem neuen Abenteuer! Und sie hatten mit Talassair den mächtigsten Verbündeten an der Seite, den sie in Elderwelt finden konnten.

      Mit zwei großen, fabrikneuen Rolls Royce Phantom ging es hinunter zum Hafengelände. Schließlich kamen sie bei Dock Nr. 4 an, dem größten auf ganz Talassair. Dort herrschte reger Betrieb. Von den Ladeflächen altertümlicher Laster wurden Fässer und Kisten gehievt; Menschen und Zwerge transportierten diese mittels Kränen und Förderbändern weiter. Eine Menge an Schaulustigen hatte sich hinter einem weißen Absperrzaun versammelt. Sie schossen Erinnerungsfotos oder starrten fasziniert auf Palast Nr. 4. Tom erging es nicht anders. Schon auf der Fahrt hatte er hin und wieder einen Blick erhaschen und kaum fassen können, was sich seinen Augen bot. Danny und Hunter erging es nicht anders, nur Veyron blieb völlig unbewegt.

      An der Hafenmauer lag ein riesiges Schiff. Sein Rumpf mochte von Bug bis Heck um die 300 Meter messen. Der steile, schmale Bug ragte fast senkrecht aus dem Wasser und machte den Eindruck, als könnte er die Wogen regelrecht zerschneiden. Das Heck lief dagegen flach aus und besaß einen großen, abgerundeten Überhang, der ihm ein fast balkonartiges Aussehen verlieh. An Bug und Heck ragten hölzerne, getakelte Masten schräg in den Himmel, als hätten sie sich der Gewalt des Fahrtwinds gebeugt. Die schneeweiß gestrichenen Deckaufbauten wurden von vier beigefarbenen Kaminen gekrönt, von denen die vorderen drei Dampf ausstießen. Der Rumpf war komplett in Schwarz gehalten, mit einem schmalen, goldfarbenen Band als oberem Abschluss.

      »Das … das … das ist die Titanic«, entfuhr es Tom. »Floyd hat die Titanic nachbauen lassen?«

      Hunter neben ihm stieß ein lautes Kichern aus. Danny pfiff leise durch die Zähne. »Da können unsere Multimilliardäre und Ölscheichs mit ihren Nussschalen nicht mithalten. Das nenn ich mal ’ne Luxusjacht! Die Titanic, das ist ja stark, echt stark! Nein, wirklich: absoluter Wahnsinn!«, rief er.

      Veyron schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ich muss eure Euphorie etwas bremsen. Werft einen Blick auf den Bug. Da steht ganz deutlich Olympic drauf. Das ist nicht die Titanic, sondern ihr Schwesterschiff«, widersprach er vollkommen ungerührt von dem Anblick.

      Falls diese Korrektur sie auf den Teppich zurückbringen sollte, so erwies sich das als Fehlschlag. Tom staunte nur noch mehr. »Sie meinen, das ist gar kein Nachbau, sondern das Original. Das echte, wirkliche Schwesterschiff der Titanic

      Veyron blickte so irritiert drein, als vermutete er irgendeine Falle hinter Toms Frage. »Das habe ich doch eben gesagt, nicht wahr? Du weißt doch, dass die Ramer-Könige seit jeher Schiffe, Panzer und Flugzeuge aus unserer Welt kaufen, die eigentlich verschrottet werden sollen«, erklärte er halblaut.

      Farin neben ihm gluckste. »Genau so ist es. Das ist die echte RMS Olympic. Als sie 1939 in Inverkeithing abgewrackt worden ist, hat König Spencer die Einzelteile gekauft und hier auf Talassair wieder zusammensetzen lassen. Das hat ganze drei Jahre gedauert, und seitdem dient sie den Königen als Sommerpalast. Heute werden die Kessel zum ersten Mal seit siebzig Jahren wieder befeuert. Und sie laufen hervorragend. Kommt, wir gehen an Bord!«, sagte er und führte seine Besucher durch die Menschenmenge.

      Man ließ sie durch die hölzerne Absperrung und wies sie an, zu einem hohen, gemauerten Turm zu gehen. Er reichte bis zur Hauptschleuse des D-Decks auf der Steuerbordflanke der Olympic, wo eine ausfahrbare Rampe Turm und Schiff miteinander verband. Im Gewusel des Docks fielen Tom bisweilen Zwerge und Menschen in vornehmen Gewändern auf. Ob die wohl ebenfalls an Bord des schwimmenden Palastes gehen wollten? »Wer sind die?«, fragte er Farin und deutete auf einen Zwerg in schillerndem Samtrock.

      »Die Elite von Talassair, mein Junge. Die reichsten Menschen und Zwerge der ganzen Insel: Stahlmagnaten, Industrielle und Kaufleute. Dazu kommen berühmte Künstler und Millionäre, die sich des Königs Freunde nennen und zum erlesenen Kreis seines Hofstaats gehören. Alles in allem zwanzig Personen, bei Weitem weniger als sonst«, erklärte er.

      Sie waren beim Turm angelangt, und Tom trat hinter Hunter durch die Tür. Innen befand sich nichts als eine Wendeltreppe, die bis zur Rampe führte. Tom erklomm Stufe um Stufe, bis ihm leicht schwindlig wurde.

      Oben standen zwei mit Musketen bewaffnete Zwerge, die sie grimmig anschauten. »Die da«, brummte der eine und zeigte auf Tom, Hunter und Danny, »gehören weder zum Dienstpersonal noch zur Besatzung. Wer sind diese Personen, und was wünschen sie an Bord von Palast Nr. 4?«

      Farin stemmte empört die Fäuste in die Hüften. »Freunde des Königs, du Maulwurf! Glaubst du etwa, der Schatzkanzler bringt irgendwelche unerwünschten Personen mit? Nun tretet zur Seite und lasst uns an Bord gehen!«, blaffte er die Wachen an.

      Die beiden salutierten und traten dann zur Seite – sichtlich widerwillig. »Wir dienen allein dem König und nicht seinen Hofschranzen«, brummte der eine, worauf ihm Farin einen giftigen Blick zuwarf.

      Als sie an den Wachen vorbeimarschiert waren und die Rampe betraten, erklärte Farin mit hörbarer Verlegenheit: »Ihr müsst die beiden entschuldigen. Sie gehören zur Leibwache des Königs, und die nimmt ihre Aufgabe sehr ernst. Die Männer fühlen sich niemand anderem verpflichtet als den Königen der Ramer-Dynastie.«

      »Eine gute Wahl. Ein Zwerg kann weder bestochen noch durch Gewalt oder Drogen korrumpiert werden«, erkannte Veyron und wandte sich an Hunter und Danny. »Darum bildet das Volk der Zwerge auch das Gros der Ingenieure und Wachen auf der Insel. Sie sind die Geheimnisbewahrer, die dafür sorgen, dass Talassairs Technologie auf Elderwelt keine Verbreitung erfährt.«

      Doch Hunter hörte ihm offenbar gar nicht zu. Zögerlich, Schritt für Schritt, näherte sie sich der Reling der Olympic, ungläubig staunend.

      Danny, der neben ihr ging, begann breit zu grinsen. »Ja, da werden Mädchenträume wieder lebendig, was? Und ich dachte schon, man hätte dich aus einem Block Eis herausgemeißelt«, meinte er mit einer deutlichen Spur Sarkasmus in der Stimme.

      Hunters Miene verschloss sich augenblicklich. Ohne Kommentar boxte sie sich an Danny vorbei und beeilte sich, an Bord zu gelangen.

      Danny biss sich verärgert auf die Lippe. »Ach Mist«, grummelte er. »Das war wohl ein Wort zu viel.«

      Im Empfangsraum der Olympic glaubte Tom, dass er heute aus dem Staunen nicht mehr herauskommen würde. Sämtliche Wände und die Decken waren mit edlem Holz vertäfelt. Von hinten angestrahlte Milchglasornamente spendeten weiches Licht. Glitzernde Lüster