Bernd Oei

Franz Kafka


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schon alles über den Zwang gesagt. Die Kreisbewegung (hermeneutischer Zirkel) führt zu seiner Beschäftigung mit Erkenntnissystemen, die redlichen Willen zur objektiven Wahrheitsfindung mit mathematischer Präzision bekunden.

      Einer seiner Aphorismen ironisiert den Anspruch auf objektives Erkennen aus der Subjektivität heraus: „Ein Philosoph … glaubte nämlich, die Erkenntnis jeder Kleinigkeit, also z. B. auch die eines sich drehenden Kreisel genüge zur Erkenntnis des Allgemeinen … war die kleines Kleinigkeit wirklich erkannt, dann war alles erkannt, deshalb beschäftigte er sich nur mit dem sich drehenden Kreisel.“28

      Er meint, das Leben der anderen zu leben und sich selbst dabei zu entfremden, so, als würde man sich als Erwachsener immer mehr vom eigenen Kern entfernen. Atemzüge eines Sommertages später sind wir in die unförmige Masse der anderen aufgegangen. „Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst: das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht … Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht „bei der Sache“: wir haben eben unser Herz nicht dort — und nicht einmal unser Ohr! …: wer sind wir eigentlich? … Wir bleiben uns eben notwendig fremd, wir verstehen uns nicht, wir müssen uns verwechseln…“29

      1 I. 5. Die Frauen Kafkas

      Felice Bauer

      Kafka lernt die vier Jahre jüngere Berlinerin Felice Bauer (ihr Vater ist wie Kafka Versicherungsvertreter) August 1912 in Prag kennen. Seine erste Bemerkung über sie notiert er am 13. August, wo er sie als unscheinbar, „knochiges leeres Gesicht, das seine Leere offen trug“ wenig vorteilhaft beschreibt. Sie arbeitet als Prokuristin und Messerepräsentantin für eine Firma, die Diktiergeräte vertreibt, „Lärmtrompeten des Nichts“. Er empfindet sich als zu schwächlich, ungebildet und unrein für einen Flirt. Seinem Tagebuch vertraut er an, er müsse sich sein Glück erst durch Leid erarbeiten. Insgesamt fünf Jahre währt ihre physische Beziehung, wenn man die wenigen Treffen zwischen zwei Ver- und zwei Entlobungen so nennen will. Die letzte Zusammenkunft ereignet sich Weihnachten 1917.

      Möglich, dass er sich zu einer Ehe zwingen will und vergeblich auf das Verliebtsein wartet. Möglich ist auch Versagens-angst und Impotenz, erfahren ist der junge Mann nicht. Angst erweist sich mit Scham als zentrales Lebensgefühl Kafkas, bei-des bleibt mit Schuld verbunden. Die biblische Verleugnung der Frau erwähnt Kafka als Mythos mehrfach in seinen Tage-büchern, als ob er seine Schwäche durch das Alte Testament zu rechtfertigen suchen würde. Dafür spricht auch seine in Briefen wie Tagebüchern anklingende Reue, seine Selbstverurteilung, in „Das Urteil“ und „Der Prozess“, die Kafka nach der Auflösung der ersten Verlobung 1912 niederschreibt aus dem Gefühl der Sünde heraus (wie er selbst sagt). Nach der zweiten Entlobung 1917 entstehen die Erzählungen „Ein Landarzt“ und „In der Strafkolonie“, die thematisch mit ihnen konvergieren.

      Kafka wird während seiner Verlobung von Gewaltfantasien in seinen Träumen heimgesucht, wie aus Tagebüchern als auch Briefen an Felice hervorgeht. Als Beispiel dafür dient die nicht veröffentlichte und Fragment gebliebene Erzählung vom 22. Juli 1916. Sie beginnt mit den Worten: „Sonderbarer Gerichtsgebrauch. Der Verurteilte wird in seiner Zelle vom Scharfrichter erstochen, ohne daß andere Personen zugegen sein dürfen.“30

      Die Erlaubnis zum geheimen Töten kommt auch in anderen Geschichten vor, ebenso wie die der Dialog von Henker und Opfer, die in bestem Einvernehmen zur Hinrichtung schreiten, solange dabei nur die Form gewahrt bleibt. So sagt der Verurteilte: „Gerade weil es unmöglich ist, ist dieser sonderbare Gerichtsgebrauch eingeführt worden.“ Gebiss, Geräusche und Gerüche verraten ihm mehr als ihr lockendes Versprechen.

      In allen genannten Erzählungen kommt der Verurteilte gegen ein übermächtiges Naturgesetz nicht an, sein Urteil steht fest und eine Rebellion ist zwecklos. Zwei Aussagen belegen, dass der Zusammenhang von schuldhafter Geburt und schuldhaftem Leben ein kafkaeskes Leitmotiv ist, das auf Bindungs-angst beruht. „Der Anblick des Ehebettes zu Hause … kann mich bis zum Erbrechen reizen, kann mein Inneres nach außen kehren, es ist, als wäre ich nicht endgültig geboren, käme immer wieder aus diesem dumpfen Leben in diese dumpfe Stube zur Welt, müsse mir dort immer wieder Bestätigung holen … noch an meinen Laufen wollenden Füßen hängt es wenigstens, sie stecken noch im ersten formlosen Brei… und kann doch ohne verrückt zu werden gegen das Naturgesetz nicht revoltieren, also wieder Haß und nichts als Haß. Du gehörst zu mir, …ich kann nicht glauben, daß um irgendeine Frau mehr und verzweifelter gekämpft worden ist als um Dich in mir.“31

      Elias Canetti behandelt das Beziehungsdrama in „Der andere Prozess. Kafkas Briefe an Felice“ (1984) als eine „Geschichte des fünfjährigen Sich Entziehens“. Er sieht sich zugleich als ein Opfer und Verurteilter, aber auch als Täter. Sein Zögern stellt bei den strengen jüdischen Konventionen Felice und ihre Familie auf eine harte Geduldsprobe: „Wesentlich durch meine Schuld trägt sie ein Äußerstes an Unglück … In Kleinigkeiten hat sie Unrecht… im Ganzen aber ist sie eine unschuldig zu schwerer Folter Verurteilte.“ Ihre Beziehung bleibt Stückwerk, ein Anfang ohne wirklich „vorwärts zu kommen“.32

      Kafka fühlt sich doppelt verurteilt: zur Krankheit und zu-gleich zum Leidensstifter für seine Familie, deren Hoffnungen er nicht erfüllt. Zweifellos reagiert sein Körper somatisch auf die Beziehungsproblematik; er ist häufig nach einem Treffen mit ihr krank oder erkrankt bei ihrem bevorstehenden Besuch, den er damit vertagen kann. Über allem steht die Unmöglichkeit, sich fest zu binden oder eine endgültige Entscheidung zu treffen.

      Inspiriert von Kierkegaard schreibt er mehrfach Pro und Contra Positionen ihrer Beziehung auf, spricht vom notwendig-gen „Sprung“ in eine ungewisse Zukunft, die am Ende aus-bleibt. Ihre Entlobung erscheint ihm in einem Traum in Gestalt zweier vor einem Wagen gespannten und von gepeitschten Pferde; dieser Traum erinnert an die wilden Rosse in „Ein Landarzt“ (1917), der unmittelbar nach der zweiten Entlobung entsteht. Kafka stellt sich auch hier vor ein fiktives Gericht, klagt an, verteidigt und anerkennt seine Schuld, der Protagonist stirbt. Er diagnostiziert sein „glattes Unvermögen zum Leben“. Vor diesem Hintergrund erscheint auch seine Lektüre Strindberg und Kierkegaard bedeutsam, da beide die Ehe als Tragödie auffassen. Wie sie fasst Kafka das missglückte Verhältnis von Mann und Frau als Erbsünde auf, den auch „Der Prozeß“ vergegenwärtigt. Kafka steht vor dem Dilemma zwischen der Pflicht, eine Familie zu gründen und Künstler zu sein.

      Schon bald gerät der Dreißigjährige in einen Gewissenskonflikt: soll er mit ihr seine bürgerliche Existenz zementieren oder als freier Schriftsteller nach Berlin ziehen? „Ich konnte damals nicht heiraten, alles in mir hat dagegen revoltiert, sosehr ich F. immer liebte. Es war hauptsächlich die Rücksicht auf meine schriftstellerische Arbeit, die mich abhielt, denn ich glaubte die Arbeit durch die Ehe gefährdet.“

      Die Frage der Ehe bedeutet zugleich eine Entscheidung gegen die künstlerische Existenz. Kafka erkennt in der Beziehung zu Felice ein großes Unglück für beide: „Ich bin an F. verloren … Ich würde mich auf der Gehaltsleiter fortschleppen und immer trauriger und einsamer werden, solange ich es eben überhaupt aushielte.“ Indes, er möchte sich ihr nicht zumuten oder auslie-fern und tut es dennoch. Die erste Verlobung findet am 1. Juni 1914 statt, auf der bereits am 12. Juli die Entlobung folgt. Hin-tergrund bilden Indiskretionen und Vorwürfe der gemein-samen Freundin Grete Bloch im Berliner Hotel „Askanischer Hof“ ihr vorläufiges Ende. Die Frauen werfen ihm vor, er sei unschlüssig, untreu und unzuverlässig. Diese Inquisition löst ein Trauma in ihm aus, da sie die bereits vorhandenen Selbstvor-würfe intensiviert. Kafka unterliegt fortan einem starken Gewohnheitszwang. Er müsste ihr zuliebe „ein anderer Mensch werden“ und ahnt oder befürchtet, sie könnte ihn nicht genug lieben: „Ich hatte … selbst in der Zeit unseres herzlichsten Verhältnisses oft Ahnungen und durch Kleinigkeiten begründete Befürchtungen, daß F. mich nicht so sehr lieb hat …“

      Über Briefkontakt nähert sich das Paar Mai 1916 wieder an. Unter anderem unternimmt es eine Reise nach Budapest; die glücklichste Zeit ereignet sich wohl kurz darauf in Bad Kar-stadt, sehr wahrscheinlich kommt es dort wohl auch zum ersten Intimverkehr. Die zweite Verlobung erfolgt im Juli 1917, wird aber bereits im Dezember erneut aufgelöst. Ein von Kafka er-wähnter Grund dafür ist, dass er in der glücklichen Zeit mit