Michael Kothe

Siebenreich - Die letzten Scherben


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Mehrmals mussten sie anhalten, weil ihr Seitenstechen unerträglich war. Ihr Gespräch war einsilbig. Sie war darauf konzentriert, Schritt zu halten, er gab sich in sich gekehrt. Ab und zu hatte sie ihm eine Beobachtung mitgeteilt, und er hatte sie kommentiert. Das Beobachtete war auch ihm nicht entgangen, er lebte schließlich hier. Regelmäßig handelte es sich um irgendwelche Pflanzen, die sie nicht kannte, und um Tiere, die sie weiter entfernt ausgemacht oder deren Spuren sie entdeckt hatte.

      Einmal hatte er angehalten, sich zu ihr umgedreht und sie in die Hocke gedrückt. Er bewegte sich gebückt schräg nach links von ihrer Marschrichtung, von Busch zu Busch huschend. Die Zeit, die er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, nutzte sie für eine Verschnaufpause.

      »Ein Rudel Hochwild war zwischen zwei Baumgruppen gewechselt«, erklärte er zur Entwarnung. Eine Staubwolke hatte ihn zur Erkundung veranlasst.

      Das Gelände eignete sich hervorragend für den Marsch. Eine weitläufige Hügellandschaft mit wenigen Waldstücken weit von ihnen entfernt. Am östlichen Horizont konnten sie die bei klarem Wetter allgegenwärtigen Morgenberge ausmachen. Dunst verwischte die Zinnen der Berge mit dem Himmel. Im Westen sahen sie gegen die tief stehende Herbstsonne hingegen nur die Konturen der nächstgelegenen Hügel. Der Bewuchs war spärlich, Gras und Büsche waren dürr. Der Jahreszeit angemessen hatten sich in Hellbraun gekleidet. Es roch nach Herbst.

      6.

      Als sich Julia während ihrer nächsten Rast erholte und nach einigen Schlucken Kräutertee wieder aufnahmefähig war, nutzte Mike die Pause, um ihr Siebenreich zu beschreiben.

      »Nachher im Wald sind wir zu beschäftigt mit der Suche nach einer Schlafgelegenheit. Außerdem habe ich dort keine Tafel zum Malen.«

      Er lachte und räumte loses Gras und kleine Steine beiseite, bis er eine freie Fläche von etwa einem Schritt Durchmesser geschaffen hatte. Er hatte einen geraden Zweig gefunden und brach ein ellenlanges Stück davon ab. Nun begann er, auf der trockenen Erde zu zeichnen. Den gesamten Teil des Kontinents stellte er ihr vor, den die Menschen kannten. Ab und zu unterstrich er seine Beschreibung mit erklärenden Gesten in die jeweilige Richtung.

      »In der Mitte liegt Siebenreich. Es erstreckt sich zweihundert Meilen weit von Norden nach Süden. In der Mitte beträgt die Breite siebzig bis achtzig.«

      Die bauchigen Konturen des Landes hatte sie besonders gut behalten.

      »Wie die runden Klammern auf der Schreibmaschine«, hatte er verglichen.

      »Im Osten erheben sich über die gesamte Länge die Morgenberge mit dem Langewald davor. Der hat eine Tiefe von zwanzig Meilen, man kann sich also schon darin verlaufen. Zu den Gefahren, die er birgt, gehören nicht nur die Wölfe, Braunbären und Wildschweine. Neuerdings sickern auch die Orks ein. Und seit langem sind die Elben dort gefährlich. Die leben in einer Enklave, in die keinem Menschen einzudringen erlaubt ist. Selten genug verirrt sich auch einer dorthin. Und erst recht hat noch keiner von dort berichtet.«

      Er holte Luft, schaute zu ihr, ob sie Fragen hätte. Sie schüttelte den Kopf, er setzte seine Ausführungen fort.

      »Elben leben eigentlich westlich der Abendberge hinter Siebenreichs Westgrenze, dem Lafer. Abendberge heißen sie, weil die Abendsonne sich darauf zur Ruhe begibt. Der alte Aberglaube ist, sie habe auf den zerklüfteten Gipfeln einen Horst, genau wie die Adler, die dort kreisen. Im Gegensatz dazu sind die Morgenberge angesichts ihrer Nähe zum Orkland dahinter wohl ohne jedes Leben.

      Der Lafer entspringt irgendwo im Norden und zieht fließt gemächlich bis nach Seeland, dem südlichen Nachbarland, und dort ins Meer. Dabei schmiegt er sich im Norden streckenweise unmittelbar an die steilen Hänge der Abendberge, von deren Gebirgsbächen er sich nährt. Manche stürzen als Wasserfälle senkrecht in sein Bett. Oft genug stößt er sich jedoch wieder von den Abendbergen ab und erlaubt auf einem grünen Streifen ein paar Fichten und Latschenkiefern ungestörtes Wachstum. Auf halber Höhe Siebenreichs treten die Berge zurück und der Lafer weitet seine Kurven. In einer davon liegt Königstein, die Hauptstadt. Ab hier ist der Lafer schiffbar. Die Lastkähne haben einen bauchigen Rumpf, ihr Kiel besteht nur aus dem behauenen Stamm, der aus den Planken hervortritt und ihnen die wiegenartige Form gibt. Flussaufwärts werden sie getreidelt. Der Lafer hat seinen Namen wohl von Läufer abgeleitet, entweder in Bezug auf das Treideln oder, weil er am Gebirge entlang läuft. Aber genau weiß das heute niemand mehr.«

      Er schaute von seiner Zeichnung auf und schmunzelte. So vertieft fand er Julia in die Linien, die der Stock in die Erde geritzt hatte.

      »Nördlich von Siebenreich leben die Zwerge. Ein robustes Volk, tapfere Krieger, zufrieden in den kalten, uns unwirtlich scheinenden Ebenen, die geprägt sind von kargen Weideflächen und Geröll. Seit Lebensspannen hat kein Mensch mehr die Berge dahinter betreten. Im Allgemeinen vertragen sich Menschen und Zwerge. Vor langer Zeit aber haben sie sich so weit auseinandergelebt, dass nicht einmal mehr Handelsbeziehungen gepflegt werden. Quer zwischen dem Zwergenland und Siebenreich liegt eine steinige Hochebene in der Form eines langen Dreiecks. Die Menschen sichern davor ihre Nordgrenze mit dem Nordwall ab, der die gesamte Breite zwischen den Morgen- und den Abendbergen einnimmt. Der Wall besteht aus zahlreichen Befestigungsanlagen wie steinernen Wehrtürmen, Lagern oder Beobachtungspunkten mit Holzpalisaden und Mauern dazwischen. Lücken gibt es überall, sie wurden durch Patrouillen teilweise wettgemacht. Hier tobt seit Jahren der Krieg, und immer mehr Orks und Goblins fallen durch die nördlichen Ausläufer der Morgenberge ein. Früher waren die wenigen dort stationierten Schwadronen des Königs immer überlegen gewesen, aber heute bindet die Nordgrenze nahezu jeden wehrfähigen Mann aus Siebenreich.«

      Julia hörte gebannt zu. Dass sie von Mikes Wissen über das Land und seine Nachbarn beeindruckt war, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Durch Nicken forderte sie ihn auf weiter zu beschreiben.

      »Im Süden liegt Seeland. Die Grenze ist markant: Die fruchtbare Ebene fällt auf der ganzen Breite um ein paarhundert Höhenmeter steil ab und setzt sich danach in Seeland fort. Der Abhang ist bergab wie bergan zu Fuß oder mit Reit- und Packtieren unbequem, ist aber zu bewältigen. Für die Fuhrwerke der fahrenden Händler gibt es nutzbare Passagen, hier windet sich der Weg in Serpentinen auf sanfteren Ausläufern der Hochebene.

      Das Königreich Seeland selbst ist breit und zieht sich im Westen am Lafer hoch, etwas weiter als bis gegenüber von Königstein, wo die Abendberge zurücktreten. Die Morgenberge auf der anderen Seite reichen über Siebenreich hinaus bis zum Meer selbst. Das Meer setzt sich von ganz Seeland mit hohen, nahezu senkrechten Klippen ab, nur unterbrochen durch wenige Naturhäfen und die Anlagen der zwei Hafenstädte Konigshaven und Wasserstad. Gelegentlich sind die Städte den Angriffen von Piraten ausgesetzt, die sie bisher aber immer abwehren konnten. Am Südzipfel, wo die Morgenberge ins Meer fallen, soll es einen Durchgang nach Osten geben. An dieser Passage haben Piraten ihre Städte und ihre Verstecke.«

      Unwillkürlich versteifte er sich. Die folgenden Worte sprach er nachdenklich und mit gedämpfter Stimme.

      »Hier muss ich durch und hinein ins Orkland.«

      Sie spürte, dass er das gar nicht hatte sagen wollen. Aber es war eine Andeutung über seine Absicht, vielleicht sogar über sein Schicksal. Jetzt musste er ihr alles offenbaren! Während sie bisher mit angewinkelten Beinen dagesessen und die Arme um ihre Knie geschlungen hatte, zog sie nun die Beine unter ihren Körper. Sie setzte sich auf ihre Fersen und beugte sich nach vorn. Ihre Neugier machte ihr weis, ihn so noch besser verstehen zu können. Endlich fühlte sie sich seinem Geheimnis auf der Spur!

      »Was willst du dort? Du erzählst doch immer, wie gefährlich das ist!«

      »Es ist besser, wenn du nichts darüber weißt. Für uns beide«, wiegelte er ab.

      »Noch ein Thema, über das er nicht reden will«, murmelte sie unhörbar, »was für Heimlichkeiten hat er denn noch?«

      Doch bevor sie weiterfragen konnte, hatte er seine Beschreibung fortgesetzt. Sie schwieg, um nichts zu verpassen.

      »Wie viele Menschen in Siebenreich leben, vermag niemand auch nur annähernd zu sagen. Neben Königstein gibt es einige