verkrampften sich. Wirklicher Schmerz oder Einbildung? Sie hätte es nicht sagen können. Mit angewinkelten Unterarmen und mit steifen Fingern hielt sie das Seil vor ihrer Brust auf Abstand und versuchte, die Schlaufe, in der sie hing, möglichst weit offenzuhalten.
Sie bebte, als sie kurz darauf in der Mulde der Astgabel kniete. Sie schaute über den Rand nach unten, kam nicht dagegen an, genau das zu tun, wovor alle warnten. Die Strafe folgte auf dem Fuße, die Tiefe zog sie magisch an. Er legte ihr gerade noch von hinten den Arm um Brust und Schulter, als sie schon das Gleichgewicht verloren hatte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, ihr Puls raste. Er drückte sie auf die Knie zurück und hielt sie unten, bis sie sich beruhigt hatte und wieder ruhig atmen konnte.
Er hatte das Seil gelöst und heraufgezogen. Nun machte er sich daran, die Prozedur zu wiederholen. Nach der dritten Wiederholung standen sie, jeder in einer Astgabel, so hoch, dass Julia allein der Gedanke daran schwindeln ließ. Sie versuchte vergeblich, sich an den viel zu dicken Stamm zu klammern. Mike hatte ihr aus kürzeren Leinen ein Geschirr geknotet, ähnlich dem Sicherungsgeschirr der Bauarbeiter, die in großer Höhe arbeiten mussten. Das lose Ende hatte er über ihr an einem Seitenast festgebunden, der ihr Gewicht mit Leichtigkeit auffangen könnte, sollte sie stürzen.
Nach ein paar Versuchen, bei denen sie auf allen Vieren vom Stamm fort und wieder zurück gekrabbelt war, fühlte sie sich sicherer. Sie zog sich am Stamm hoch, begann, einen Fuß vor den anderen zu setzen und balancierte mit ausgestreckten Armen. Nach einer Weile traute sie sich, auf der Stelle zu hüpfen, vor und zurück zu laufen, die lange Astmulde in drei oder gar nur zwei Sprüngen zu überwinden. Sie strahlte. Ihre Selbstsicherheit wuchs, Euphorie stieg in ihr auf. Sie rief ihm zu, er solle sehen, was sie alles könne.
Auch ohne ihre Aufforderung hatte er sie schon die ganze Zeit beobachtet. Ihre geschmeidigen Bewegungen fügten ihren körperlichen Reizen eine gehörige Portion Anmut hinzu. Trotz des ungeeigneten Ortes fühlte er, wie er sie begehrte und rief sich ihr Liebesspiel am Teich in Erinnerung.
Beide sollten sich getäuscht haben! Julia traute sich zu viel zu, und Mike verließ sich zu sehr auf ihre Geschicklichkeit. Gerade hüpfte sie zum Stamm zurück und setzte dabei den linken Fuß zu nah am Rand auf. Mit der Behändigkeit, die sie inzwischen erlangt hatte, sollte dieser Fehltritt allein kein Problem gewesen sein. Den nächsten Schritt einfach weiter rechts getan, und sie hätte ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Hier aber wurden ihr die glatte Rinde und das Moos zum Verhängnis. Geistesgegenwärtig warf sie sich zur Astmitte und verhinderte, dass sie abkippte.
Obwohl ihr langsames Abrutschen und der Aufprall auf dem Hosenboden nicht einer gewissen Komik entbehrten, blieb Mike das Lachen im Halse stecken. Er wusste, von seinem Platz auf dem nächsten Ast konnte er nicht schnell genug bei ihr sein, um sie aufzufangen. Aber ihr hochhelfen und sie festhalten konnte er. Wenigstens stand er! Hätte er gesessen, wäre alles zu spät, wäre wirklich jeder Versuch zwecklos gewesen. So aber sprang er bereits in ihre Astmulde, als sie noch nicht ganz saß. Hastig griff er zu. Zu schnell jedoch rutschte sie zur Seite, weder ihre Hand noch ihre Kleidung konnte er greifen.
Auf der Suche nach Halt hatte sie sich zum Ast gedreht, tastete im Rutschen nach Kerben oder Auswüchsen in der Rinde. Unweigerlich zog sie ihr Körpergewicht über den Rand in die Tiefe. Endlich fand sie eine Furche in der Rinde, sie krallte ihre Fingerspitzen hinein, und ihr Rutschen wurde langsamer. Ihre Fingerkuppen brannten. Es gab aber keinen Ast oder Zweig, der ihr zum sicheren Festhalten gedient hätte. Sie schaute am Baum nach unten, verzweifelt hoffend, etwas zu entdecken, das ihren Sturz aufhielte oder an dem sie sich festhalten könnte. Aber die Abstände waren einfach zu groß. Dann sah sie den Aststummel! Direkt neben ihrer Fallrichtung, aber sie müsste sich herumdrehen, die Rettung lag in ihrem Rücken. Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich zu bewegen hatte. Sie musste präzise sein, um nicht mit dem Gesicht auf die gesplitterte Bruchstelle zu fallen oder sich ganz aufzuspießen. Panisch spürte sie, wie ihre Finger zu früh den Halt verloren. Die Kerbe war einfach nicht tief genug! Sie ruderte mit den Armen, als ob sie dadurch Auftrieb erhalten könnte. Schon vermeinte sie zu fühlen, wie sie auf dem Waldboden aufschlug und mit verdrehten Gliedmaßen ihr Leben aushauchte. Die dicken, harten Wurzelstränge würden ihr die Wirbelsäule brechen. Einen letzten Blick warf sie ihrem Gefährten zu. Der Glanz, den ihr die Freude über ihr Zutrauen in die Augen getrieben hatte, war längst dem Entsetzen gewichen, sich geirrt zu haben. Mit vor Angst und Verzweiflung aufgerissenen Augen stürzte Julia der Erde entgegen.
Mike hatte sich quer auf den Ast geworfen und die Fußspitzen in die Mulde gestemmt. Tatsächlich ertastete er eine Kante, die ihm Halt gab. Er streckte ihr seinen Arm nach ihr aus und griff zu. Den Bruchteil einer Sekunde zu spät!
Julia glaubte, ihr Rückgrat brechen zu spüren. Der Ruck war schmerzhaft und drohte, sie zu zerreißen. So plötzlich schnitt ihr Haltegurt ein. An die Sicherungsleine hatte sie nicht mehr gedacht! Nun hing sie fest. Fest und sicher. In ihrem Innersten jubelte sie. Sie war gerettet! Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen, aber ihre Lungen füllten sich nicht. Ihre Brust hob und senkte sich vor Aufregung viel zu schnell. Luft bekam sie trotzdem nicht. Panik erfasste sie, weil sie den Widerspruch in ihrer Situation nicht verstand. Das Begreifen danach machte ihr die Hoffnungslosigkeit umso deutlicher und raubte ihr fast die Sinne. Im Sturz hatte sie die Kletterleine gestreift, ihr rutschender Körper hatte ihren Hals in die Leine hineingedreht. Hätte das Ende an ihrer Seite lose heruntergehangen, wäre nichts passiert. Noch aber war der Tornister ans andere Ende gebunden. Eine Schlaufe legte sich um Julias Hals, das Seil zog ihr den Rucksack so weit nach, bis er sich irgendwo über ihr verklemmte. Hatte sie Glück gehabt, von ihrer Sicherungsleine zuerst aufgefangen worden zu sein? Andernfalls hätte die Schlinge ihr wohl das Genick gebrochen, doch nun drohte sie qualvoll zu ersticken.
Nachdem Mike ins Leere gegriffen hatte, hatte ihn der Rucksack gestreift. Die Gefahr erkannte er dadurch einen Lidschlag eher. Er warf sich seitlich herum, wollte den eingeklemmten Tornister lösen, um Julias Hals freizuwickeln. Eine ausreichende Hebelkraft konnte er aber in seiner Körperlage nicht bewirken. Auch ihr Zappeln erschwerte seine Bemühung. Endlich hatte er eine stabile Lage eingenommen. Sich selbst sicherte er mit einer Leine, die er an irgendeinem Stummel festknotete, der aus dem Stamm herauswuchs. Sein Fuß ertastete eine Furche, die es ihm erlaubte, sich fast senkrecht nach unten zu recken.
Julia hatte mit sich selbst genug zu tun, hatte ihn aus ihren Gedanken und aus ihrem Blick verloren. Seine rettende Hand hätte sie mit Leichtigkeit ergreifen können, hätte sie sie nur bemerkt!
»Julia!«
Er rief sie, schrie sie an, bis sie endlich reagierte. Anstatt weiterhin zu versuchen, ihre Finger zwischen Hals und Schlaufe zu zwängen und sich Luft zu verschaffen, reckte sie in einer letzten Anstrengung ihre Hand nach oben. Dann schwanden ihre Sinne.
Er hatte ihr schlaffes Handgelenk fest im Griff. Er zog sie so weit zu sich, dass er die Schlinge um ihren Hals lockern konnte. Instinktiv nahm ihr regloser Körper die Atmung wieder auf.
Unwillkürlich versteifte sich Mike. Er fühlte die Rinde abblättern und seinen Fuß aus der Kerbe rutschen. Ein letztes Ziehen, eine letzte Drehung, und er hatte Julias Hals endgültig befreit. Er senkte sie so weit hinab, wie er greifen konnte, dann ließ er los. Mit einem kurzen Ruck endete ihr Fall, sie kippte in eine Schräglage und pendelte anderthalb Armlängen außerhalb seiner Reichweite. Er warf sich auf die Knie, war jetzt selbst außer Gefahr. Sein Atem ging schwer. Die Anstrengung hatte ihren Tribut gefordert, und sie war noch nicht vorbei. Er atmete tief durch, dann rappelte er sich halb auf und kroch so weit vor, bis er genau vor Julias straff gespanntem Sicherungsseil hockte. Er griff das Seil, prüfte das Gewicht und stand auf. Vornüber gebeugt, den rechten Fuß nach vorn gestemmt, zog er Hand über Hand die Sicherungsleine ein. Als er endlich den Widerstand von Julias schlaffem Körper an der Unterseite des Astes spürte, kniete er sich wieder hin. Er bemühte sich, sie so um die Rundung zu ziehen, dass ihr Gesicht nicht am Holz schabte.
Nach Ewigkeiten lag sie in der Astkuhle. Er vergewisserte sich, dass ihr Puls und ihre Atmung wieder kräftiger wurden, dann ging er zu seinem Tornister und band den Schlauch mit dem Apfelwein ab. Er stellte die Füße schulterbreit auseinander, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und setzte den Schlauch an den Mund. Er gönnte sich einen