Michael Kothe

Siebenreich - Die letzten Scherben


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sie die Augen auf. Ihren Schrei unterdrückte sie gerade noch. Tröstlich wurde ihr bewusst, dass Sturz und Erstickungstod der Geschichte angehörten. Vorsichtig stemmte sie ihren Oberkörper hoch, bis er auf ihren aufgestützten Ellbogen ruhte. Mit Tränen in den Augen sah sie Mike lange an.

      Er hatte sich in die Astkuhle gesetzt, den Rücken an den Stamm gelehnt. Julia saß ausgestreckt zwischen seinen Beinen, Kopf und Rücken fest an seine Brust gedrückt. Sein Streicheln fing an, sie zu entspannen. Sie hatten die Blicke auf die Ebene vor dem Wald gerichtet, nahmen ihre Umgebung aber gar nicht wahr. Beide mussten das Erlebnis verarbeiten. Eine Ewigkeit lang sprachen sie kein Wort.

      Was passiert mir noch alles mit ihm? Schon wieder hat er mich gerettet. Ohne ihn wäre ich zu Tode gestürzt oder hätte mich erhängt. Aber ohne ihn wäre ich nie auf den Baum geklettert.

      Julia schüttelte sich, das Unglück zog noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüber. Dann sprangen ihre Gedanken weiter zurück.

      Was habe ich von ihm? Bringt er mich wirklich zum magischen Tor, meinem einzigen Weg nach Hause? Und was will er von mir? Er ist fürsorglich, aber er fordert viel. Der Mittag am Teich war prickelnd, viel zu lange hatte ich keinen Mann mehr gehabt. Er sieht gut aus, er war feinfühlig, behutsam und schließlich impulsiv. Trotzdem will er mich loswerden. Ich verstehe, dass Sex kein Grund für eine Bindung auf Gedeih und Verderb ist. Und sein Geheimnis! Warum hat er so wenig Vertrauen zu mir? Wie kann ich mich dann auf ihn verlassen? So schön es auch mit ihm sein mag, heimzukommen ist mir noch wichtiger.

      Trotz ihrer Zweifel zog sie seinen Arm fester um ihre Brust.

      Seine Schulter schmerzte. Mike drehte sich ein wenig, um den Druck auf die andere Seite zu verlagern. Julia schaute schräg zu ihm auf. In ihrem Blick lagen Fragen, die er nicht deuten konnte. Er schüttelte den Kopf.

      Ist wirklich alles gutgegangen? Wie würdest du dich fühlen, wenn sie umgekommen wäre? Wäre es bloß ein verpfuschter Auftrag wie vor vier Wochen, als du nicht ahnen konntest, dass der Mörder deines Auftraggebers in seinem eigenen Gefolge lauerte, oder ginge es dir nahe? Schließlich hat sie ein hübsches Gesicht und einen perfekten Körper. Das Vorspiel hätte länger dauern können, aber uns beiden hat das Abenteuer Spaß gemacht. Mir viel mehr als die Spielereien mit den Mägden und auch den Bürgersfrauen aus der Stadt! Julia ist feiner, sauber, sie achtet auf sich. Sie hat einfach Stil.

      Ein seltsames Gefühl durchzuckte ihn. Da war er wieder, der innere Konflikt! Dieses Hin- und Hergerissensein zwischen der Sehnsucht nach einem Heim, nach Ruhe und Geborgenheit auf der einen und der selbstgewählten Aufgabe auf der anderen Seite. Einer Mission, von der er nicht wusste, ob er sie erfüllen konnte und ob er sie überleben würde. Beim Gedanken an Julia schmunzelte er unwillkürlich.

      Seltsam, wie der Umgang mit ihr meine Art zu sprechen und zu denken ändert. Tatsächlich bin ich in meine alte Sprache zurückgefallen. Keine der hier üblichen Formulierungen mehr! Julia verbindet mich sehr mit unserer alten Welt. Auch vom Alter her passen wir zusammen.

      Er seufzte, als er sich ein harmonisches Zusammensein vorstellte, das nicht sein durfte.

      Werde ich sie wiedersehen, wenn ich sie in Königstein absetze und irgendwann zurückkommen sollte? Wird sie auf mich warten oder ist sie auf und davon?

      Sicher war er sich nicht, ob er auf diese Frage überhaupt eine Antwort wollte.

      Viel später lag das Essen zu ihren Füßen ausgebreitet. Das Brot wurde langsam trocken, das Kauen dauerte länger als am Mittag. Braten und Käse hatten sie noch reichlich, vom Apfelwein war noch genug übrig. Sie schafften es, ihre Erinnerung an den Sturz zu verdrängen und ihre Mahlzeit zu genießen. Das Abendessen mutete wie ein Picknick an. Von ihrer Höhe aus war der Blick auf den Sonnenuntergang atemberaubend. Die Zinnen der Abendberge zogen sich am Horizont gegen das Licht hin wie die Mauer am Wehrgang einer Ritterburg.

      Sie unterhielten sich gedämpft, obwohl sie von ihrem Hochsitz aus jede Annäherung schon von weitem bemerken würden und obwohl Mike behauptete, er könne Böses schon auf achtzig Schritt sehen. Das war eine Entfernung, auf die man sie nicht entdecken konnte. Hier oben fühlten sie sich sicher.

      Morgen würden sie Königstein erreichen. Dort würde sich einiges für sie ändern, meinte er. Er fände einen Weg weiter nach Süden, sie würde in der Stadt bleiben, für sie die beste Lösung. Julia behielt ihre Meinung für sich.

      Ihre Vorsichtsmaßnahmen bescherten ihnen einen nur kurz währenden ruhigen Schlaf. Sie hatten es sich in den Mulden ihrer Äste bequem gemacht. Julia war angebunden geblieben, Mike hatte auf eine Sicherung verzichtet. Er war diese Form der Übernachtung gewohnt, er wäre nie aus einer Kuhle wie dieser heraus gerollt.

      Etwas Hartes bohrte sich in Julias Rücken, als sie sich ein Stück weit auf die Seite rollte. Im Nu saß sie senkrecht, war hellwach. Sie wollte sich umdrehen, wollte den Angreifer erkennen, aber sie wurde festgehalten. Sie schluckte, drehte verzweifelt den Kopf soweit zur Seite, dass sie hinter sich schauen konnte. Da war niemand. Erst langsam verstand sie ihre Situation. Im halbfinsteren Wald musste sich anstrengen, überhaupt etwas zu erkennen.

      »Puh!« Erleichtert atmete sie auf. Sie sah niemanden, der sie überfallen wollte, und hatte inzwischen auch die Kastanie ertastet, die bei ihrem Aufprall auf dem Ast aus der Schale gesprungen und unter ihren Rücken gerollt war. Ein neuer Schreck durchfuhr sie, als sie sich ihre Lage wieder ins Gedächtnis rief. Sie schüttelte den Kopf. Nicht mehr, um einen unangenehmen Traum abzuwerfen, sondern vor Verwunderung. Verwunderung darüber, dass sie Dinge und Zustände nur nacheinander zu erkennen schien. Denn erst als sie sich im Klaren darüber war, auf einem Ast in einer Angst einflößenden Höhe über dem Waldboden geschlafen zu haben, und dass der Angreifer, der sie erst aufgescheucht und dann festgehalten hatte, sich als eine Kastanie und ihr Sicherungsgeschirr entpuppt hatte, nahm sie etwas anderes wahr. Etwas, das ihre Furcht nährte und sie bis in die frühen Morgenstunden wach halten sollte.

      Mike hatte Recht gehabt, als seine Warnung ihr die nächtlichen Gefahren des Waldes nahegebracht hatte. Alle Sekunde drehte sie sich um, wollte feststellen, woher das Knurren, Heulen und Bellen kam, das sich zahlreichen heiseren Kehlen entwand. Aber weder konnte sie die Richtung ausmachen, in der die Bestien lauerten, noch konnte sie feststellen, ob das Rudel ihrem Baum näher kam.

      Wenn sie die Augen schloss, sah sie sich von riesigen Wölfen umzingelt, die Schritt für Schritt mit gefletschten Zähnen den Kreis um sie enger zogen. Stocksteif und ohne einen Laut von sich zu geben lag sie für Stunden wach. Bei jedem neuen Geräusch rollte sie die Augen, bis sich endlich der Schlaf ihrer erbarmte. Über dem Blätterdach stieg der Morgennebel schon den ersten schüchternen Sonnenstrahlen entgegen.

      8.

      Nach dem Aufwachen sah sich Mike als erstes um und horchte in den Wald. Verdächtiges bemerkte er nicht. Es gab auch keine Spuren unter ihrem Schlafbaum.

      In der Nacht waren ihre Kleidung und ihre Ausrüstung klamm geworden. Julia war überrascht, als er ihr zeigte, dass die Feuchtigkeit auch Vorteile hatte. Tau war m Stamm hinunter und in den Mulden zusammengelaufen. Es reichte für mehr als einen Becher frisches Wasser zu ihrem Frühstück. Nachdem sie sich satt gegessen hatten, sammelten sie genügend Wasser für eine Katzenwäsche. Keiner hatte mehr Scham vor dem anderen.

      Kaum standen sie wieder auf festem Boden, schlich Julia in gebückter Haltung um den Stamm. Ihren Blick hatte sie auf den Waldboden geheftet und erweiterte ständig den Radius ihrer Kreise. Mike hatte inzwischen ihre Siebensachen vom Baum abgeseilt und auf dem Schlitten verzurrt.

      »Hast du etwas verloren, ist dir etwas heruntergefallen?«

      »Ich habe die halbe Nacht nicht geschlafen, da muss ein Rudel riesiger Wölfe den Baum stundenlang umkreist haben. Das Heulen hat mir sogar oben im Baum Angst gemacht.«

      »Also war mein Vorschlag mit dem Schlafplatz da oben doch nicht so verkehrt.«

      Er zuckte die Schultern, als wäre das die normalste Sache der Welt. Konnte er sie so beruhigen?

      »Mich