Iris Antonia Kogler

Von Menschen


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und es wird gut sein, weil er heute einen klaren Tag hatte.

      Bald werden sie für die Kleine eine Schaukel aufhängen und Andrea und Kate werden ihr zusehen, während sie auf der Bank sitzen und die Kastanien fallen.

       Glaskörper

      Er hatte gewartet, Jahr um Jahr. Es gab immer einen Grund für jede Entscheidung, die er traf, und für jede, die er nicht traf. Erst war es die Wissenschaft, die es ihm nicht ermöglichte, später das Gesetz, das es ihm nicht erlaubte, und dann, als er es tat, weil es das Gesetz und die Wissenschaft endlich zuließen, da hörte die Welt nicht zu. Sie hörte nicht zu, weil seine Tat geheim war, und er sprach nie darüber, weil er das Geheimnis schützen wollte vor eben jener Welt, die von nichts wusste. Dann, nach fünfzehn Jahren, gab es eine Änderung.

      „Ist das überhaupt erlaubt?“, fragte Lina, drehte sich auf dem Drehstuhl hin und her und betrachtete die Kamera, den großen Bildschirm und den Schreibtisch, an dem Dr. Santos saß. „Immerhin bin ich deine Tochter. Darf man die eigene Tochter als Versuchskaninchen benutzen? Ich könnte davon einen ernsthaften Schaden bekommen. Also, worum geht es?“

      „Danke, Thomas“, sagte Dr. Santos zu seinem Mitarbeiter, der die Kamera richtig eingestellt hatte und nun den Raum verließ. Santos setzte sich vor Lina. „Sehen wir es als ein kleines Experiment. Ich möchte, dass du mir dein bisheriges Leben schilderst.“

      „Wozu? Du kennst mein Leben, Diego, du hast mich adoptiert.“

      „Trotzdem.“

      „Also gut. Soll ich in die Kamera schauen? Also: Ich wurde geboren am siebzehnten Mai achtundsiebzig. Ich hatte einen Tumor an der Wirbelsäule, der erst nach mehreren Jahren durch eine bis heute sensationelle Operation entfernt werden konnte, nämlich von einem gewissen Dr. Diego Santos, der mich später bei sich aufnahm und adoptierte. Ich bin Studentin der Astrophysik, bin seit ein paar Wochen fröhlicher Single und spiele richtig gut Volleyball. Ich habe Freunde und ich habe das Glück, von einem Mann und seiner Frau adoptiert worden zu sein, die mir ein unglaublich gutes Leben ermöglichen konnten.“ Lina sah Santos an. „Gut so?“

      „Kannst du dich an dein Leben vor der Operation erinnern?“

      „Nein. Wie alt war ich da? Drei? Nein, daran kann ich mich nicht erinnern. Ich kann mich auch nicht an meine Eltern erinnern. Ich sehe noch das Krankenhaus, in dem ich damals nach der Operation lange bleiben musste, und ich kann mich erinnern, wie ich das erste Mal mein Zimmer bei euch gesehen habe.“

      Santos sah Lina an. Sie kannte ihn nun schon seit so vielen Jahren und hatte immer eine Vaterfigur in ihm gesehen. Nun war er dreiundachtzig Jahre, ein alter Mann, ein Spezialist der Kardiologie, der immer noch weiter forschte in seinem eigenen Institut, von der Fachwelt vergessen, seit fünf Jahren verwitwet und verschlossen. Denn niemand schien sich für das zu interessieren, was er erforschte. Irgendeine Grundlagenforschung, die ins Leere lief, eine Idee, die nur in seinem Kopf Fuß gefasst hatte und vielleicht noch in den Köpfen von seinem Assistenten Thomas und zweier weiterer Mitarbeiter.

      „Diego, was tust du eigentlich den ganzen Tag hier in deinem Institut? Es sieht aus wie ein Gefängnis, eine geheime Militärbasis oder sonst was. Du warst einmal der talentierteste Kardiologe der Welt. Warum hast du das aufgegeben?“

      Diego stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Er tippte etwas auf dem Tablet, verharrte und sah Lina an. Dann ließ er die Jalousien herunterfahren und setzte sich in seinen Stuhl.

      „Du weißt, dass mein Spezialgebiet die Kryonik ist, und dass sich hier in meinem Institut sechshundertdreiundvierzig Patienten befinden, alle im Kälteschlaf.“

      „Ja, ich weiß.“ Lina drehte sich auf dem Stuhl hin und her.

      „Aber du weißt nicht, dass wir in den letzten Jahren sechsundfünfzig Menschen aus ihrem Kälteschlaf aufgeweckt haben.“

      Lina starrte Diego an und wusste nicht, wen sie vor sich sehen sollte. Die Vaterfigur oder den Wissenschaftler. „Sechsundfünfzig Menschen? Aber wie? Ist es denn möglich? Habt ihr einen Durchbruch geschafft? Was ist mit dem Gesetz? Das Gesetz verbietet es, Menschen aufzuwecken.“

      Santos schaute auf seine Hände. „Die Regierung hat vor zehn Jahren unserem Antrag stattgegeben und uns erlaubt, Patienten aus dem Kälteschlaf zu holen. Aber es hat nicht so funktioniert, wie wir es uns erhofft hatten. Von den sechsundfünfzig Patienten konnten wir vierunddreißig wiederbeleben, aber ein Großteil von ihnen starb schon in den ersten Stunden oder Tagen. Die, die länger lebten, kamen nicht mit dem zurecht, was mit ihnen geschehen war. Sie erwachten viele Jahre oder Jahrzehnte, nachdem man sie in den Kälteschlaf gebracht hatte, und sie wussten nicht, wer sie waren. Denn das, was sie einmal gewesen waren, war gestorben, bevor sie in den Schlaf gingen. Sie lebten und waren doch vor Jahrzehnten gestorben. Die Regierung hat nach zehn Jahren das gesamte Kryonikprogramm gestoppt. Wir dürfen keine weiteren Menschen mehr aus dem Kälteschlaf holen.“

      Lina atmete tief durch. „Was heißt das, ihr dürft keine Menschen mehr aufwecken? Was passiert mit denen, die noch hier sind?“

      „Es gibt noch eine einzige Möglichkeit. Die Raumstation. Aber dafür muss ich die Ethikkommission überzeugen, dass es doch möglich ist.“ Santos stand auf, nahm das Tablet und reichte es Lina. Dann ging er hinaus. Lina sah auf den Bildschirm, auf dem ein Film ablief, den Santos für sie gestartet hatte.

      Lina ging hinaus auf das Dach. Auf einem der großen Abluftrohre saß Thomas mit einer Bierflasche in der Hand neben einem ganzen Kasten Bier. Er sah sie an und nickte ihr zu. Nah an der Dachkante saß Santos auf einem alten Stuhl und sah über die Wüste. Lina wusste nicht, wohin mit sich, sie wollte wieder gehen, aber sie wollte auch hier im Licht des Sonnenuntergangs bleiben. Sie wollte allein sein und hatte gleichzeitig Angst davor, zu verschwinden, wenn sie gehen würde. Sie setzte sich an die Dachkante, ließ die Beine hinunter hängen und war still. Sie hörte, wie Thomas eine Bierflasche öffnete und sah zu ihm hinüber. Er hielt ihr die Flasche entgegen und brachte sie ihr, als sie die Hand ausstreckte. Sie trank das kühle Bier, blickte über die Wüste und in den Himmel hinauf. Um diese Uhrzeit konnte man die Raumstation gut sehen, wie sie da oben schwebte, groß und ruhig.

      „Ich habe über all die Jahre hinweg nie den richtigen Moment gefunden, mit dir darüber zu sprechen. Und auch jetzt wusste ich nicht, wie ich es dir sagen soll, deshalb habe ich dir den Film gezeigt“, sagte Santos.

      „Ich bin also ein Experiment?“, fragte sie. „Ich bin nicht die Einzige?“

      „Du bist die Erste. Du warst nach all den Jahren die Patientin von allen, bei der es am ehesten möglich schien. Viele andere Patienten mussten wir aufgeben, bevor wir sie überhaupt wiederbeleben konnten. Die ersten vier Patienten konnten wir nicht wiederbeleben, aber du, du hast angefangen zu atmen. Weil wir nicht wussten, was mit dir geschehen würde, wie du dich entwickeln würdest, haben wir fünfzehn Jahre lang gewartet und dich beobachtet. Danach hat uns die Regierung erlaubt, weitere Patienten aus dem Schlaf zu holen. Es waren die sechsundfünfzig.“

      „Und was willst du nun von mir? Dass ich als Vorzeigepatientin deine Forschung unterstütze? Seht her, sie lebt, sie ist normal, sie studiert sogar? Wie viele gibt es?“

      „Es haben neun Menschen bis heute überlebt. Sie leben unter ständiger Beobachtung. Manche von ihnen leben ein einigermaßen normales Leben, aber es ist schwierig.“

      Lina stand auf und ging zu Santos herüber. „Wenn du wusstest, dass die Menschen damit nicht umgehen können, warum hast du es mir jetzt gesagt?“

      Santos sah zu ihr hinauf, mit einem Schmerz in seinen Augen. „Ich will sie retten. Die restlichen von ihnen. Ich will sie auf die Raumstation bringen. Ich bin nicht bereit, sie aufzugeben, ich will sie aus dem Schlaf befreien. Du bist der Beweis, dass es möglich ist.“

      Das „Falling down“ hatte schon vor zwei Stunden den Einlass gestoppt. Lina ging an der Schlange am Eingang entlang und stellte sich auf die andere Straßenseite. Bei einem Chinesen kaufte sie einen Fleischspieß, den sie aß, während der Regen an den zweihundertelf Stockwerken