Iris Antonia Kogler

Von Menschen


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heute für das Foyer, den „Ankunftsraum“ eingeteilt, der Bar, hinter der sie gerne arbeitete. Hier kam das Partyvolk an, purzelte aus dem Aufzug heraus, nachdem es mit irrsinniger Geschwindigkeit und bei lauter Musik die zweihundertelf Stockwerke herunter gerast war. Auf fünf Stockwerken befand sich der Club, das „Falling down“, darüber waren Restaurants und Einkaufspassagen und, je höher das Stockwerk lag, die exklusiven Immobilienbüros, Rechtsanwaltskanzleien und Privatärzte. Ganz oben, vom zweihundertneunten bis zweihundertelften Stock, hatte das „Falling Down“ fünf Tanzebenen, drei ruhigere Bars, ein Restaurant und den VIP-Bereich.

      Lina war eigen. Ihre Kolleginnen nannten sie „unsere Naturschönheit“, und sie meinten es ernst. Lina war nicht sonderlich groß und auch nicht richtig dünn. Ihr Gesicht sah jung aus, unverbraucht und, da sie sich nicht schminkte, natürlich. Sie zog enge Kleider an, denn es brachte Trinkgeld. Auf Angebote ging sie nicht ein. Fast fünf Jahre lang war sie liiert gewesen, aber das war seit einigen Wochen vorbei. Wie immer wies sie die Einladungen ab, freundlich, aber bestimmt. Der Aufzug kam an, die vor Geschwindigkeit, Adrenalin und Alkohol trunkene Menge strömte lärmend heraus. Aber Lina hörte sie nicht. Sie hörte Santos und sie hörte die Stimmen, die von dem Bildschirm zu ihr gesprochen hatten.

      Erst als jemand ihren Namen rief, sah sie das Blut in ihrer Hand, das aus einem Schnitt in der Handfläche herauslief. Beim Spülen der Gläser musste sie ein Glas zerschlagen haben. Sie wickelte ein Handtuch darum und setzte sich etwas abseits hin, beobachtete den Aufzug und die tobende Menge, die lange Schlange vor dem Gebäude und den Regen. Als sie an das Fenster ging, versuchte sie, in den Himmel zu blicken, aber da war kein Platz für Himmel.

      „Kann ich Ihnen helfen?“ Neben Lina war ein Mann aufgetaucht. Eine Stimme wie rauchiges Holz, die fragte: „Sind Sie verletzt?“

      Lina war nie die Frau für eine Nacht gewesen. Sie war beständig, stetig, geradeaus. Der Mann holte ein frisches Tuch und umwickelte ihre Hand damit. Dann bestellte er etwas Starkes, dessen Schwere wärmte, und Lina beantwortete alle Fragen, die er ihr stellte, mit „Ja“. Als er sie nach Hause fuhr, stieg er mit aus dem Wagen, legte ihr sein Jackett um die Schultern, brachte sie durch den Innenhof des Appartementkomplexes zu ihrer Haustür, legte die Hände an die Mauer und umschloss Lina, ohne sie zu berühren.

      Sie sagte „Ja“.

      In ihrer Wohnung zog er sie aus, nicht langsam, nicht schnell, sondern effizient, ruhig, gekonnt. Es gab weder einen Grund zu einer überhitzten Eile noch zu romantisierenden, an Langweile grenzenden Zärtlichkeit. Es wurde kein neues Land entdeckt, sondern gegeben und genommen, so, wie es gut war. Als er ihr das Tuch von der Hand nahm und ihre Wunde wusch, fragte er nicht nach ihren Narben. Er hatte es nicht am Anfang getan und er tat er jetzt nicht.

      Den nächsten Tag in der Universität erlebte Lina wie durch eine Glaswand. Keine Stimme, kein Geruch, keine Information erreichte sie direkt. Das Einzige, das sie sah, waren die beiden Menschen in dem Film. Am Abend ging sie ins „Falling Down“, zog sich ein enges Kleid an und fuhr hinauf in die VIP-Bar, wo sie heute eingeteilt war. Direkt nach dem Ende ihrer Schicht nahm sie das erste Angebot an, weil er ein netter Kerl war, und ging mit ihm in seine Wohnung. Er erschrak, als er ihre Narben sah. Mitleid breitete sich über das Laken und sie verschwand in die Nacht, kehrte zurück zum „Falling Down“, tanzte und trank, fuhr im Aufzug und ging gleich mit dem nächsten mit. Es war schnell, in einer dunklen Ecke und sie behielt die Kleider an. Als der nächste Mann sie fragte, zog sie ihr Shirt am Hals herunter. „Willst du immer noch?“

      Bald fand sie heraus, dass es Männer gab, die es wegen der Narben taten. Das war es, was sie in sich selber sah. Eine riesige Wunde. Sie rief Santos an. „Ich will die anderen sehen.“

      Tage später meldete sich eine leise Stimme bei ihr. Sein Name sei Aaron, er sei wie sie. Sie trafen sich in einem Park, es war kühl und sie trug einen Schal. Aaron kam durch die Allee gelaufen, einen kleinen Hund bei sich. „Der findet mich normal“, sagte er.

      „Findest du dich normal?“

      Aaron sah auf den Boden, die Hände in den Taschen, kurz auflachend, aber ohne Bitterkeit. „Wir sind nicht normal, Lina. Wir sind wiederbelebte Tote, medizinische Experimente.“ Er ließ seinen Blick durch den Park schweifen. „Aber ich versuche mich als Mensch.“

      „Und? Gelingt es dir?“

      „Ich finde, es gelingt mir ganz gut.“ Wieder wanderte sein Blick in die Weite. „Viele andere haben es nicht geschafft. Sie leben mit den Erinnerungen an ihr früheres Leben, aber davon gibt es nichts und niemanden mehr.“

      Lina zog den Schal herunter. „Was sagen die anderen zu dir, wenn sie das hier sehen?“

      Aaron sah sie an. „Warum hast du die am Hals?"

      Lina ließ den Schal wieder los. „Ich bin ein besonderes Experiment. Sie haben mir den Kopf halb abgeschnitten, um einen Tumor zu entfernen. Ich bin ein Wunder!“

      Aaron sah Lina offen an. „Ich habe sie nur an den Oberschenkeln, wie wir alle. Lina, es liegt an dir. Wer von uns überlebt hat, der wollte es so. Du hast Glück, denn du hast keine Erinnerungen an dein früheres Leben, weil du so jung warst.“

      Santos erschrak, als er Lina sah. Dünnhäutig, angegriffen und verletzt. „Danke, dass du gekommen bist.“

      „Wie wird es gemacht? Ich will es wissen.“

      Santos wusste, er konnte nicht ausweichen, also erklärte er ihr Schritt für Schritt, was die Kryoniker mit ihr getan hatten. Er erzählte alles von Anfang an. Dass sie am siebten Mai zwanzigzwölf geboren wurde und sich ein Tumor an ihrer Halswirbelsäule gebildet hatte. Dass es keine Überlebenschance für sie gegeben hatte. In der Hoffnung auf eine winzige Chance hatten ihre Eltern sie deshalb der Kryonik übergeben. Zwanzigfünfzehn ließen sie sie sterben, sie gaben ihr Medikamente, so dass sie einfach einschlief. Als der Arzt sie für tot erklärte, warteten sie genau dreißig Sekunden, dann legten sie sie in ein Bett aus Eis und setzten einen Luftröhrenschnitt, um Sauerstoff in die Lunge zu pumpen. Dann schnitten sie ihr beide Oberschenkel auf, verbanden die freiliegenden Arterien mit Schläuchen und ließen ihr Blut ab. Millimeter für Millimeter ersetzten sie es durch Frostschutzmittel, kühlten ihren Körper herunter und legten ihn bei einer Temperatur von minus hundertsechsundneunzig Grad in einen Tank, gefüllt mit flüssigem Stickstoff. „Man nennt das Verglasung“, sagte Santos. „Durch das Frostschutzmittel bilden sich keine Eiskristalle, denn die würden den Körper irreparabel schädigen. Du warst die Erste damals, bei der ein neues Mittel getestet wurde. Alle, die vor dir in den Kälteschlaf versetzt wurden, hatten keine Chance. Es funktionierte nicht.“

      Dreiundsechzig Jahre hatte die Wissenschaft gewartet, es hatte Kriege gegeben und eine riesige Völkerwanderung. Dann, 2078, hatte man begonnen, die ersten Menschen aufzutauen. „Ab hier kennst du die Geschichte, Lina. Ich habe dich aus dem Schlaf geholt, dir den Tumor von deiner oberen Wirbelsäule entfernt und dich bei mir aufgenommen. Ich habe dir erzählt, deine Eltern hätten dich weggegeben. Du bist aufgewachsen wie ein völlig normales Kind, und so begannen wir nach fünfzehn Jahren, weitere sechsundfünfzig Menschen aus dem Schlaf zu holen.“

      Lina sah an eine Pinnwand, an der unzählige Zeitungsartikel hingen. Sie erklärten, dass das Auftauen von Menschen ab sofort verboten sei, da es nur in wenigen Fällen funktionierte. Sie las über die Wiederbelebten, die doch oft innerlich tot waren, die nicht zurechtkamen. Die Kryonik passte nicht mehr zu den ethischen Überzeugungen der Gesellschaft, sie war nun ein verbotenes Experiment an Menschen.

      „Die Raumstation ist Niemandsland. Sie ist rein für die Wissenschaft da. Wir könnten sie alle dorthin bringen.“

      Santos sah ihr nicht nach, als Lina den Raum verließ.

      Er stand vor ihr am Tresen und wollte wissen, wie es ihrer Hand ginge. Sie nahm ihn mit nach Hause und dieses Mal war es etwas Ernstes. „Du hast dich verändert“, sagte er. Als er eingeschlafen war, ging sie in die Küche, setzte sich in eine Decke gewickelt an den Tisch und sah sich noch einmal den Film an. Ein Mann und eine Frau saßen auf einer Veranda im Sonnenschein, sie trugen dicke Pullover und sie hatte einen Schal um den Hals. Es musste Herbst sein, die Frau hatte ein Bündel aus bunten Blättern