Carsten Bohn

Touché - und andere Generationengeschichten


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jetzt gerade stehst du vor mir und lachst und all die Schwere, all die dunklen Gedanken erscheinen wie ein leises Echo aus weiter Ferne. Du lachst so laut und ehrlich. Und ich stehe daneben und kann nicht anders als mit dir zu lachen. Wie kannst du nur so lachen? So selbstbewusst und unbeschwert? Wie kann dein Grinsen nur so breit sein auf deinem kleinen Gesicht? Du grinst mich an und nimmst meine Hand. Du willst gehen. Und du willst, dass ich mit dir gehe. Wohin? Ich weiß es nicht.

       Der Spiegel

      Renate Londer

      Ihre Augen glänzen feucht. Inmitten der Schokotorte leuchtet eine einzelne Kerze. Daneben steht ein Glas Rotwein, noch unberührt. Ihr Blick verliert sich im flackernden Schein des zarten Lichtes. Eingetaucht in eine andere Welt, scheint sie damit zu verschmelzen. Ihre Lippen bewegen sich und sie beginnt zu sprechen:

      Es war heiß. Die schwarze Schürze nahm den Schweiß auf, der mir auch in die Augen rann. Niemand fragte mich, wie es mir ging. Die Feldarbeit musste eben getan werden. Ihre Mädchen, zwei und drei Jahre alt, folgten mir auf Schritt und Tritt. Ich hatte nur noch diese eine Furche mit der Egge zu ziehen. Die Zeit wurde knapp. Die Stallarbeit. Die Ziege, die Kuh, das Schwein, die Hühner und Hasen mussten versorgt werden.

      Fladenbrot backen und Maisgrieß kochen, Erdäpfel dämpfen. Kaschpel für die Tiere herrichten.

      Mein Rücken, er schmerzte.

      Das Gewicht des immer größer werdenden Bauches und die Anstrengung des Tages machten mir täglich mehr zu schaffen.

      Es waren nur noch wenige Wochen. Die Gedanken daran, was es wohl diesmal werden würde, beschäftigten mich sehr. Wieder ein Mädchen? Hoffentlich wird es der Stammhalter werden, den er sich wünscht. Endlich ein Junge. Er war der Herr im Haus, er hatte das Sagen. Wann immer, wo immer, wie auch immer er es wollte, ich hatte bereit zu sein. Ob am Feld, bei der Hausarbeit, einmal sogar vor euch Kindern. Es war ihm egal. Sein Recht als Mann forderte er genau dann ein, wann es ihm passte. Er war stark. Er brachte das wenige Geld heim. Er roch nach Schnaps. Was sollte ich dagegen machen. Ich, die kleine Frau, deren Tag von Sorgen, Arbeit, Kindererziehung und Not geprägt war.

      Es war Mai. Am Kartoffelacker. Ich spürte das Fruchtwasser, das über meine blanken Beine unter dem langen Rock herunterrann. Mühsam schleppte ich mich zurück in die Stube. Hilfe wäre so schön gewesen. Bloß nicht wieder ganz allein entbinden. Doch, wen sollte ich holen. Der nächste Hof war weit weg. Er war, wie immer, nicht zu Hause. Er wäre mir ohnehin keine Hilfe gewesen. Bei dieser grauslichen Geschichte hat er nichts dabei zu suchen, hatte er mir das letzte Mal gesagt. Euch beiden großen Mädchen schickte ich zum Nachbarhof, damit ihr dort nach der Hebamme rufen lassen konntet. Die Zeit reichte jedoch nicht, der Weg war viel zu lang. Die Wehen wurden von Presswehen abgelöst und viel schneller als bei den ersten beiden Geburten, drängte sich das Köpfchen ans Licht der Welt. Minuten später warst du geboren, meine dritte Tochter.

      Nur zwei Stunden Pause gönnte ich mir, schließlich musste ich zurück zur Arbeit. Schon öfters musste ich mit der flachen Hand eures Vaters Bekanntschaft machen, weil ich das vorgegebene Arbeitspensum nicht schaffte. Das Baby lag gewaschen und in Tücher gewickelt in der Strohtasche, die ich kurzerhand mit aufs Feld nahm.

      So vergingen die Jahre. Fast jedes Jahr war ich wieder schwanger, und gebar nacheinander euch andere Sechs. Als fünfter kamst du zur Welt, mein Junge. Doch ich hatte mich geirrt. Es ging ihm nicht um den Stammhalter, es ging ihm darum, mich einfach nehmen zu können, wann immer er wollte.

      Immer noch standen die Grauen des Zweiten Weltkrieges an der Tagesordnung und die Zeiten waren mehr als schlecht. Es blieb mir nichts anderes übrig, als euch großen Kinder alsbald als Mägde und für Hilfsarbeiten auf die größeren Gutshöfe zu verschicken, wo ihr für Kost und Logis schuften musstet. Geld gab es dafür keines. Mir war es einfach unmöglich, eine zehnköpfige Familie durchzufüttern. Immer seltener kam euer Vater heim. Wenn er da war, war er missmutig, grimmig und meistens ersoff er seine Erlebnisse in Schnaps. Zeitenweise war er irgendwo im Lazarett, dann wieder war er zu weit weg, als dass er nach uns sehen konnte. Als er zum letzten Mal da war, war er schwer verletzt. Eine Granate. Sein Bein war unwiederbringlich kaputt. Ach, wie lange ist das nun her? Damals fragte ich mich jeden Tag: Wird er überhaupt wiederkommen? Will ich überhaupt, dass er heimkommt? Als hätte ich es herauf- beschworen, erreichte mich Tage später die Nachricht, dass er sein Leben im Kampf gelassen hat.

      Dass die Zeiten nach seinem Ableben noch schwieriger, und der Kampf ums nackte Überleben noch härter werden würde, konnte ich mir damals kaum vorzustellen. Doch wir lebten fortan nur mehr von der Hand in den Mund, von einem Tag zum Nächsten. Er hatte mir nichts hinterlassen. Es war lächerlich wenig, was mir als Witwenrente ausbezahlt wurde. Und doch. Wir schafften es irgendwie. Ihr alle Sieben seid herangewachsen, konntet die Schule besuchen. Ihr seid zu rechtschaffenen Menschen herangewachsen. Nur zwei, zwei von euch haben diesen Irrsinn nicht überlebt. Es war unser Zusammenhalt, unsere gegenseitige Liebe, unser Familiensinn, der uns diese Zeit gemeinsam überstehen ließ.

      Ihr wart es, Rudolfine, Ernestine, Justine, Hermine, meine Mädchen. Und ihr: Friedrich, Wolfhard und Ignaz. Ihr wart es, die mein ganzes Glück bedeuteten. Ihr wart der Grund, warum ich überleben musste.

      Ihre weißen Haare waren zerzaust, ihr Gesicht gezeichnet von der Vergangenheit. Jede Einzelne ihrer Falten diente als Weg für die Tränen, die ihr unaufhaltsam über das müde Gesicht liefen.

      Im sporadisch eingerichteten Raum saß sie, eingewickelt in eine warme Decke, auf ihrem Lehnstuhl. Aus dem Spiegel blickten sie die gerahmten Fotos ihrer sieben Kinder an.

      Ganz sachte holte sie der ewige Schlaf aus der Einsamkeit ihrer letzten Jahre. Abgeschoben und vergessen in einem Altenheim.

       Mein Nachlass

      Kathrin Thiemann

      Es ist ganz still. Sie meinten, es sei ein Schlaganfall gewesen. Ich dachte, ich hör nicht recht. Ich und ein Schlaganfall? Ich habe doch 88 Jahre gesund gelebt. Ein Schlaganfall. Vom Schlag gefällt. Bin ich eigentlich noch in der Lage etwas zu spüren? Irgendwie fühlt es sich an wie ein Faustschlag in den Magen. Es erschüttert mich, dass sie mich jetzt auf die Palliativstation gefahren haben. Weil nichts mehr zu machen sei. Mir geht das alles zu schnell.

      Stille.

      Mit aller Kraft versuche ich, wenigstens meine Augen zu öffnen. Oh Gott, wie schwer Augenlider sein können. Hallo? Haallo? Hört mich denn niemand?

      Stille.

      Ein leises Klopfen, die Tür geht auf, Schritte nähern sich. Ich spüre einen kühlen Hauch.

      »Vater?« Es ist Peter, mein Ältester. Geschäftsmann durch und durch, erfolgreich, korrekt, gewiss wieder in Schlips und Kragen. »Was meinen Sie, Doktor« fragt er. »Wird er diese Woche noch sterben? Wir haben für Samstag einen Urlaub gebucht.«

      »Das kann ich Ihnen so genau nicht sagen.« Eine fremde Stimme. Aber Peter, möchte ich sagen, ich bin doch dein Vater. Es geht nicht. Die Schritte entfernen sich und ich versinke im Dunkeln.

      Stille.

      Ein stechender Geruch weckt mich, den ich leider nur zu gut kenne. Gerrit, mein jüngerer Sohn, immer schon unser Sorgenkind. Künstler wollte er sein mit all seinen Flausen im Kopf. Ich sehe ihn förmlich vor mir: ausgelatschte Turnschuhe, eine schmutzige und leicht bepinkelte Jogginghose, ein Anorak mit kaputtem Reißverschluss und großem Fünfer am Ärmel, ungeschnittenes und ungewaschenes Haar – und die gigantische Bierfahne.

      Was höre ich da?

      »He Doc, was meinen Sie? Können Sie Papa nicht einen ordentlichen Joint organisieren, dass er noch mal kurz auf die Beine kommt? Ich würde ihn zu einer Hure fahren, dass er einen letzten schönen Tag erleben kann.«

      Ich höre den Arzt förmlich nach Luft schnappen. Meine beiden Söhne – mein Nachlass.

      Wieder kommt das Dunkel.