Wolfgang Voosen

Das Dossier


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Tod von Paul Pulassenvon Udo Schröder

      

      

      

       Lähmendes Entsetzen herrscht seit Dienstag letzter Woche nicht nur in der Redaktion des 'Puls', sondern in allen Zeitungsredaktionen unseres Landes. Mit dem Tod von Paul Pulassen ist einer der anerkanntesten Journalisten der Gegenwart verstorben. In den frühen Morgenstunden hatte man ihn tot an seinem Schreibtisch sitzend vorgefunden.

      

       Nach ersten Angaben der Staatsanwaltschaft müsse davon ausgegangen werden, dass er sich an seinem Arbeitsplatz erschossen habe. Zumindest deuteten alle Indizien darauf hin.

      

      

       Über das Motiv herrscht weiterhin Unklarheit. Dass die zuständigen Stellen seit Tagen schweigen, ist völlig unverständlich. Statt eine Pressekonferenz abzuhalten, wurde eine Nachrichtensperre verhängt. Der ideale Nährboden für Gerüchte. Bester Beweis hierfür sind die in reißerischen Überschriften täglich in der Regenbogenpresse gegen unseren toten Kollegen erhobenen Korruptionsvorwürfe.

      

       Weshalb wurde - wie unsere Redaktion aus zuverlässiger Quelle erfahren hat - zunächst das LKA und dann später auch noch das BKA hinzugezogen? Ist der Grund darin zu sehen, dass Paul Pulassen bei seinen letzten die internationale Geldwäsche betreffenden Recherchen einer hauptsächlich im osteuropäischen Raum operierenden, kriminellen Organisation auf die Spur gekommen sein soll?

      

      

       Fragen über Fragen und lediglich vage Antworten, die stark an Kaffeesatzleserei erinnern. Die Staatsanwaltschaft bewegt sich im Konjunktivischen und macht keinerlei Anstalten, ihre bisherige Haltung zu ändern.

      

      

       Wissen es die Behörden nicht besser oder sind sie zum Schweigen verdonnert worden? Hat etwa gar die Politik ihre Hände im Spiel? Befürchtet man - wie heißt es so gern und oft zitiert - politische Verwicklungen auf höchster internationaler Ebene, wenn zu Tage tritt, was bisher geheim gehalten werden konnte?

      

      

       Uns alle bewegt die Frage: Wer und was hat unseren von uns allen so sehr geschätzten Kollegen zu dieser Verzweiflungstat getrieben?

      

      

       Wir werden nicht das berühmte Gras über die Sache wachsen lassen. Wir wollen die mysteriösen Umstände dieses Suizids lückenlos aufklären.

      

       Das sind wir uns schuldig. Aber nicht nur uns. Vor allem unserem Kollegen Paul Pulassen, der sich, wären wir betroffen, unserer Sache in gleicher Weise angenommen hätte. Mit all seiner Entschlossenheit und seinem journalistischen Spürsinn.

      

      Mit zittrigen Händen legte Verena die aufgeschlagene Tageszeitung auf den Tisch. Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt. Wie so oft in den letzten sechs Tagen. Ihr strahlen­des Lachen, das Paul so sehr an ihr geliebt hatte, war tiefer Trauer gewichen, die sich in ihrem Gesicht eingekerbt hatte.

      „Lippenbekenntnisse“, sagte sie tief enttäuscht beim Lesen der letzten Zeilen leise vor sich hin. Diese scheinbare Distanzierung von der 'yellow press' ist fast schon zynisch, dachte sie. In Wirklichkeit soll durch den Hinweis auf die Schlagzeilen der letzten Woche die Gerüchteküche über Pauls angebliche Käuflichkeit nur weiter brodeln.

      Statt Trost in dem Kommentar der 'Kölner Rundschau' zu finden, wie sie ihn sich von ihrem Kollegen Udo Schröder erhofft hatte, wurden die Stunden des vergangenen Dienstags wieder an die Oberfläche ihrer Erinnerung gespült. Alles war zum Greifen nah. Alles war, als hätte es sich gerade gestern erst ereignet.

      Am letzten Montag hatte sie ihre Kollegen informiert, dass sie am nächsten Tag erst gegen Mittag in die Redaktion käme. Als es am folgenden Tag gegen halb neun klingelte, glaubte sie, Paul sei schon sehr früh am Morgen aufgebrochen, um sie zu überraschen. Am Vorabend hatte er sich gegen acht aus dem 'Hessischen Hof' gemel­det und gesagt, dass er in Frankfurt übernachten müsse, da die anstehende Bespre­chung bis gegen Mitternacht dauern könne.

      Sie drückte auf den Öffner, während sie sich mit der anderen Hand - nach flüchtigem Blick in den Spiegel - durch das Haar fuhr. Freudestrahlend stand sie im Türrahmen. Doch sofort kamen ihr Zweifel, dass es nur Paul sein könne, denn es war der Schall fremder Schritte, der von unten herauf drang. Dann sah sie einen Mann, den sie nicht kannte. Als er die letzten Stufen nahm und sie seine Gesichtszüge in dem nur schwach erleuchteten Treppenhaus erkennen konnte, beschlich sie sofort ein ungutes Gefühl. Ihre Hände und ihr Rücken versteiften sich.

      „Sind Sie Verena Mittermayer?“, fragte der Fremde und stellte sich, nachdem Verena kaum wahrnehmbar mit dem Kopf genickt hatte, vor. „Mein Name ist Hans-Jürgen Zim­merer, ich bin von der Polizei. Darf ich hereinkommen?“, fuhr er mit ernster Stimme fort und zeigte seinen Dienstausweis.

      „Ja“, sagte Verena kaum hörbar und deutete mit einer Handbewegung an, er möge ein­treten. Dann aber war es mit ihrer Beherrschung vorbei. „Was ist passiert? Ist Paul et­was zugestoßen?“

      „Frau Mittermayer, bitte setzen Sie sich, ich habe eine traurige Mitteilung.“

      Sie ignorierte seine Aufforderung und blieb stehen. „Was ist mit Paul?“, stieß sie hervor. „Hatte er einen Unfall?“

      „Es tut mir leid.“ Er machte eine kleine Pause. „Ihr Lebensgefährte ist tot. Wir haben ihn heute Morgen an seinem Schreibtisch sitzend in der Redaktion vorgefunden. Allem An­schein nach hat er sich mit einer Pistole erschossen. Zumindest deuten die ersten An­zeichen darauf hin.“

      „Tot? Er soll sich erschossen haben? Niemals!“, rief sie und ihr Körper verkrampfte sich erneut. Einen Augenblick lang befürchtete Hauptkommissar Zimmerer, Leiter einer Köl­ner Mordbereitschaft, sie würde ohnmächtig und blieb bewusst ganz dicht bei ihr stehen, um sie notfalls auffangen zu können. Dann, scheinbar wieder ruhig, murmelte sie das letzte Wort wie in Trance noch mehrmals leise vor sich hin. „Niemals, niemals, niemals.“

      Verena löste ihre Hand von der Lehne, an der sie Halt gesucht hatte, und setzte sich. Auch Zimmerer nahm in einem der Sessel Platz. Mehrfach schon hatte er derartige Nachrichten während seiner langjährigen beruflichen Tätigkeit übermitteln müssen. Des­halb wunderte er sich nicht, wie Verena allmählich, nachdem ihre Gefühle zunächst au­ßer Kontrolle zu geraten schienen, jetzt wieder ruhig und gefasst wirkte. Die unter­schiedlichsten Reaktionen hatte er kennen gelernt. Nervlicher Zusammenbruch, völlige Apathie und totale Aggression bis hin zum tätlichen Angriff. Die ganze Palette menschli­cher Gefühlsausbrüche.

      „Kann ich Ihnen irgendwie helfen? Möchten Sie eine Zigarette oder ein Glas Wasser?“, fragte er besorgt.

      „Nein, es geht schon. Wieso in der Redaktion? Er hat mich doch gestern Abend noch aus Frankfurt angerufen und gesagt, er käme erst heute zurück? Das verstehe ich nicht.“ Und nach einer ein paar Sekunden dauernden Pause, in der sie völlig abwesend wirkte, fügte sie hinzu: „Kann ich ... kann ich ihn sehen?“

      „Ich halte das, zumindest im Moment, für keine gute Idee“, erwiderte der Kommissar entschieden, lenkte dann aber ein, als er die Entschlossenheit in Verenas Gesicht sah. „Selbstverständlich fahre ich Sie hin, wenn Sie es unbedingt