Wolfgang Voosen

Das Dossier


Скачать книгу

sympathischen Enddreißigers ab, der den Eindruck vermittelte, mitten im Leben zu stehen. Vom ersten Augenblick an hatte sie gespürt, wie sehr Paul seine Mitmenschen für sich einnehmen konnte. Sein Er­folg, über den auch Verena schon viel gehört hatte, war sicherlich zum großen Teil auch darauf zurückzuführen. Was ihr besonders imponierte: Er konnte zuhören, wie sie schon im Laufe dieser für sie ersten Redaktionskonferenz mehrfach feststellte. Damit verfügte er über eine Eigenschaft, die Macht verleiht. Die Macht, andere zu bewegen, von sich, von ihren Erlebnissen, von ihren Sorgen und Nöten ohne Vorbehalte zu erzählen. Sich freizuschwimmen vom Ballast. Indem Paul zuhörte, nahm er den Druck und zugleich sein Gegenüber gefangen.

      Nur ganz allmählich löste Verena sich aus der Vergangenheit, die in ihren Träumen und den wachen, unruhigen Phasen der Nacht in letzter Zeit so oft ihre Gegenwart bestimmt hatte. Pauls Tod lag nun schon mehr als drei Monate zurück. Genau waren es drei Mo­nate und neunzehn Tage, wie sie sich schmerzlich in Erinnerung rief.

      So versuchte sie die Bilder des ersten Zusammentreffens mit Paul zu verdrängen. Aber hier in der Redaktion erinnerte alles an ihn, zumal sein Schreibtisch in der Ecke neben der Teeküche fast genauso chaotisch mit Fotos, Berichten, Notizzetteln, Kopien, Zeitun­gen und Magazinen übersät war, als kehrte er jeden Moment von einer seiner Recher­chen zurück.

      Verenas zweimonatiger unbezahlter Urlaub, den Manfred ihr eingeräumt hatte, lag nun schon ein paar Wochen hinter ihr. Sein Verständnis über ihre Situation zeigte sich auch danach, als er mit seiner Kritik an ihren ersten Reportagen nach ihrer Rückkehr zum 'Puls‘ sehr zurückhaltend war, oder wie sie es ihrer besten Freundin Kirsten gegenüber kürzlich ausdrückte, die mildeste Form der Wahrheit gab. Aber sie wusste, dass ihre Re­portagen gemessen an der früheren Qualität ihrer Berichte ziemlich miserabel waren, wie sie sich selbst eingestand.

      Manfred hatte ihr ganz offiziell über seine Sekretärin, Veronika Linden, einen Rückspra­che-Termin mitteilen lassen, was nichts Gutes heißen konnte. Mannomann, schoss es ihr daher durch den Kopf und es war mehr ein innerer Seufzer als der Gedanke an sei­nen Spitznamen, als sie am Montag einige Minuten vor elf sein Büro betrat. Das wird ein Canossa-Gang, war sie sich sicher und hatte dabei alles andere als ein gutes Gefühl.

      In sachlichen Fragen sonst immer schnell auf den Punkt kommend, erkundigte Manfred sich zunächst nach dem Wochenende.

      „Na, wie war´s in Kürten bei deinen Eltern? Mit dem Wetter habt ihr ja ausgesprochenes Glück gehabt.“

      Aha, Beziehungsebene pflegen, das lässt nichts Gutes erahnen, dachte Verena, bevor sie antwortete.

      „Prima, meine Schwester mit ihrem Mann und den Kindern waren Samstagabend auch da und so haben wir ganz in Familie gemacht. Wie üblich gab´s Fondue, womit man den Kindern immer noch die größte Freude machen kann.“

      „Und bist du über Nacht geblieben oder noch nach Hause gefahren?“, fuhr Manfred fort und bereute sofort 'nach Hause‘ gesagt zu haben, denn er wusste, wie schwer Verena unter dem Alleinsein in ihrer für sie nun viel zu großen 4-Zimmer-Wohnung litt, wo an je­der Ecke Utensilien standen und an fast jeder Wand Bilder hingen, die sie an Paul erin­nerten, Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschwimmen ließen.

      „Nein, ich hatte ganz schön was getrunken, und habe deshalb dort übernachtet. Gisela, Kurt und die Zwillinge waren noch abends aufgebrochen. Am nächsten Morgen habe ich schön gemütlich mit meinen Eltern gefrühstückt. Sie haben sich sehr gefreut, mich so ganz allein für sich zu haben und waren sehr lieb zu mir. Pauls Tod hat sie sehr stark getroffen, auch wenn sie versuchten, es sich nicht anmerken und mich nicht spüren zu lassen. Reine Rücksicht. Aber so waren sie schon immer und dafür liebe ich sie beson­ders.“

      Bewusst hatte Verena bei ihrer Antwort auch Pauls Tod erwähnt, denn sie wollte bei Manfreds zu erwartender Kritik wegen ihres letzten Artikels über die Anabolika-Recher­che hinsichtlich der chinesischen Gewichtheberinnen ihm durchaus noch einmal ihre derzeitige Situation in Erinnerung rufen.

      „Ja“, hakte Manfred dann auch sofort ein, „über Pauls Tod, beziehungsweise über die letzten Monate nach seinem Tod wollte ich mit dir sprechen.“

      „Dachte ich mir schon“, erwiderte sie und wappnete sich innerlich auf die erwartete Kri­tik. Unwillkürlich wich sie zurück, versteifte sich in die Rückenlehne und verschloss die Arme, sodass ihr Chef schon an der Körpersprache ihre Ablehnung hätte erkennen kön­nen.

      Doch Manfred schaute, scheinbar geistesabwesend, zum Fenster hinaus, an dem die letzten Tropfen eines starken Gewitterregens sich ihren Weg nach unten auf den ver­schmutzten Scheiben suchten, nachdem der Schauer nicht vermocht hatte, den Dreck, der sich in etlichen Wochen gebildet hatte, vollständig abzuwaschen. Tatsächlich aber suchte Manfred nur den richtigen Einstieg ins Gespräch.

      „Du weißt“, fuhr er schließlich in vertraulichem Ton fort, „dass Paul für mich wie ein Sohn war. Außer dir gibt es, so glaube ich, niemanden, dem sein Tod näher gegangen ist als mir. Nachdem vor drei Jahren auch sein Vater tödlich verunglückte, war ich für ihn quasi ein Vaterersatz.“

      Verena wunderte sich etwas über den von Manfred gewählten weiteren Umweg in das unvermeidliche Kritikgespräch, aber er bewirkte, dass sie sich etwas aus ihrer Ver­krampfung löste und mit leiser Stimme auf seine Äußerung einging.

      „Ich weiß, dass du das immer so empfunden hast, aber Paul hat dich mehr als so eine Art großen Bruder gesehen. Sein wirklich väterlicher Freund war Püll, den seine Kolle­gen und Paul immer so nannten wegen seiner Vorliebe für Pullunder. Du kennst ihn auch. Es ist Heinz Sander vom 14. Kommissariat, über den Paul viele seiner Informatio­nen für seine Recherchen erhielt und zu dem er im Laufe der letzten Jahre eine wirklich tiefgehende Männerfreundschaft entwickelt hat. Seit dem Tod seines Vaters hat sich diese Freundschaft noch verstärkt“, meinte Verena. Dabei wurde ihr klar, dass sie über das Verhältnis von Paul und Heinz sprach, als ob es noch existierte.

      „Da glaubt man, jemanden in- und auswendig zu kennen“, fuhr Manfred nach einer wie­der größeren Pause sehr leise und nachdenklich fort, „und dann weißt du nicht einmal, wer sein bester Freund war.“

      „Viele wussten es nicht“, wandte Verena ein, als ob sie Manfred trösten müsste. „Die meisten glaubten, es sei immer nur um 'Kontaktpflege‘ gegangen, wenn sie Paul und Heinz einmal zufällig bei einem Bundesligaspiel beim FC oder im 'Bistro Vintage' begeg­net waren. Aber es war wirklich eine dicke Freundschaft, wie sie, so glaube ich und das sage ich bewusst als Frau, nur zwischen Männern möglich ist. Frei von jedem Egois­mus, frei von jedem Neidgefühl. L´art pour l´art.“

      Manfred war ein bisschen in seinem abgewetzten Ledersessel zusammengesunken. Er wirkte konsterniert. Offensichtlich konnte er nicht begreifen, sich so getäuscht zu haben. Immer hatte er sich etwas auf seine Menschenkenntnis eingebildet, zu Recht, denn er irrte sich so gut wie nie, wenn es galt, Menschen einzuschätzen. Es war meist das Bauchgefühl, sein Instinkt, der ihn richtig handeln ließ. Der Instinkt, der ihn auch als Zei­tungsmann erfolgreich gemacht hatte, ob in jungen Jahren als Reporter, als Redakteur oder jetzt als Chefredakteur. Immer hatte er das Gespür für die richtige Entscheidung, vor allem, wenn es darum ging, eine heiße Story zu bringen oder es lieber sein zu las­sen. Fast nie verbrannte er sich die Finger. Auch bei der Auswahl neuer Mitarbeiter hat­te er diesen sicheren Instinkt bewiesen. Umso mehr schien es jetzt an seinem Selbstbe­wusstsein zu nagen, dass er sich in einem Punkt in Paul geirrt haben sollte. Er wirkte angeschlagen, als müsse er eine Niederlage verdauen.

      „Nun mach nicht so ein saures Gesicht. Du warst schließlich sein Chef. Auch wenn er mit dir befreundet war, konnte er doch die ganz persönlichen Dinge nicht mit dir bespre­chen. Auch ich war manchmal ein bisschen gekränkt, wenn er bei irgendetwas, das ihn bewegte, nicht mich sondern Heinz ins Vertrauen zog. Besonders sauer war ich natür­lich, wenn es dabei um Berufliches ging.“

      „Okay, lassen wir´s dabei. Da habe ich mich eben geirrt“, meinte Manfred mit nach wie vor etwas beleidigtem Unterton, „aber darüber wollte ich ja auch gar nicht mit dir spre­chen. Vielmehr geht´s mir um die Frage, wie soll es mit uns weitergehen?“

      Etwas irritiert sah Verena